9. Kapitel
Der Ort ließ an Symbolkraft nichts zu wünschen übrig. Am 3. Oktober 1965 unterzeichnete US-Präsident Lyndon B. Johnson(67) auf Liberty Island vor der Südspitze Manhattans, wo die Freiheitstatue die »müden, armen, bedrückten und sich nach Freiheit sehnenden Massen« in Amerika willkommen heißt, ein Gesetz zur Reform der Einwanderung in die Vereinigten Staaten, das, so der Präsident, endlich eine »grausame und lang andauernde Ungerechtigkeit« korrigieren werde. Der Hart-Celler Act(1), benannt nach Senator Philip Hart und dem Abgeordneten Emmanuel Celler, die das Gesetz in den Kongress eingebracht hatten, schaffte die zwischen 1921 und 1924 erlassenen Einwanderungsquoten nach nationaler Herkunft ab, die nicht nur die Zahl der jährlichen Zuwanderer drastisch beschränkt, sondern darüber hinaus der aus ethnischen und religiösen Gründen unerwünschten Immigration aus Süd- und Osteuropa weitgehend die Tore verschlossen hatten. Künftig, so versicherte Johnson(68), würden Einwanderer nicht mehr aufgrund ihres Geburtslandes, sondern aufgrund ihrer Fähigkeiten ins Land gelassen. Die Reform der Einwanderungsbestimmungen war Teil der liberalen Bürgerrechtsagenda der Johnson-Administration, doch im Unterschied zum Bürgerrechtsgesetz(9) von 1964 und zum Wahlrechtsgesetz(6) von 1965 gingen ihr keine spektakulären Massenproteste voraus. Beide Häuser des Kongresses verabschiedeten den Hart-Celler Act(2) ohne große Debatte und mit überwältigenden Mehrheiten. Einige konservative Südstaatler fürchteten um die weiße Identität Amerikas, aber kaum jemand rechnete damit, dass sich das ethnische Profil der amerikanischen Gesellschaft merklich verändern werde. Ausdrücklich betonte der Präsident, dass »die Tage der unbegrenzten Einwanderung vorbei« seien: »Dies ist kein revolutionäres Gesetz. Es greift nicht in das Leben von Millionen Menschen ein. Es wird keine Auswirkungen auf unseren Alltag haben oder unseren Wohlstand und unsere Macht mehren.« Johnsons(69) Prognose sollte sich als grandiose Fehleinschätzung erweisen. Tatsächlich veränderte das Gesetz, wie der Historiker Roger Daniels es formulierte, »die gesamte Richtung der amerikanischen Immigrationsgeschichte«.[1]
Einwanderung hat das Selbst- und Fremdbild Amerikas geprägt. Kein anderes Land hat im Laufe seiner Geschichte so viele Einwanderer aus so vielen unterschiedlichen Herkunftsregionen aufgenommen wie die USA. Zwischen 1820, als die offizielle Erfassung der Immigranten begann, und dem Ende des 20. Jahrhunderts zählten die US-Behörden knapp 65 Millionen legale Einwanderer. Das Bild von Amerika als »Schmelztiegel« der Nationen und Kulturen, das der britisch-jüdische Schriftsteller Israel Zangwill(1) 1908 mit seinem gleichnamigen Theaterstück popularisierte, gilt Historikern und Immigrationsforschern zwar als Mythos, hat aber als kulturelle Norm enorme Prägekraft bis in die Gegenwart entfaltet. Bis auf die indigene Bevölkerung sind alle Amerikaner Einwanderer bzw. deren Nachkommen. Der Gedanke, dass ihre Vorfahren mit wenig mehr als der Kleidung, die sie am Leibe trugen, in die Neue Welt kamen, um sich ein besseres Leben zu erarbeiten, erfüllt die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner mit Stolz. Grundsätzlich bekennen sich große Mehrheiten der US-Bevölkerung zu der Auffassung, dass Einwanderer das Land stark gemacht haben und auch in Zukunft stärker machen werden.[2]
Doch auch im klassischen Einwanderungsland USA gibt es eine lange und einflussreiche Tradition des sogenannten »Nativismus(1)«, der eine Bevorzugung der im Lande Geborenen und die Beschränkung der Immigration verlangt. Schon 1755 schimpfte Benjamin Franklin(1) über die »pfälzischen Bauern«, die dabei seien, in Pennsylvania die englische Sprache und Kultur zu verdrängen. Seither sind Neuankömmlinge vor allem dann mit Argwohn und Misstrauen empfangen worden, wenn sie die dominante angloprotestantische Kultur zu bedrohen schienen und sich angeblich der Assimilation verweigerten. Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich eine starke Bewegung gegen die Masseneinwanderung von Iren und Deutschen, auch weil mit ihnen erstmals eine große katholische Diaspora in den USA entstand. Chinesen, die als Bergleute und Landarbeiter an die Westküste kamen, sahen sich mit Mobgewalt und Rassismus konfrontiert; 1882 verbot der Kongress im Chinese Exclusion Act die Einwanderung chinesischer Arbeitskräfte sogar gänzlich. Von der Einbürgerung blieben asiatische Immigranten ausgeschlossen, nicht jedoch ihre im Lande geborenen Kinder. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts provozierte die sogenannte »Neue Immigration« von Italienern, Slawen und osteuropäischen Juden eine weitere Protestwelle der Nativisten(2), die eine Überfremdung des »angelsächsischen« und protestantischen Amerikas fürchteten. Nach dem Ersten Weltkrieg gelang ihnen schließlich der politische Durchbruch. Waren zwischen 1900 und 1914 ca. 900 000 Menschen pro Jahr in die USA eingewandert – das Jahr 1914 markiert mit 1,2 Millionen Neuankömmlingen den Höhepunkt der Einwanderungswelle – setzte der Immigration Act(1) von 1924 eine jährliche Obergrenze von 164 000 Einwanderern von außerhalb der Amerikas fest. Die Quotierung nach nationaler Herkunft privilegierte dabei besonders Briten, Iren und Deutsche. Infolge der Restriktionen halbierte sich bis Ende der 20er-Jahre die Zahl der Einwanderer, und in den ersten Jahren der Großen Depression fiel sie auf einen Tiefstand von rund 23 000. In dieser Zeit war die Wanderungsbilanz der USA sogar negativ. Die restriktiven Gesetze und die angesichts der Massenarbeitslosigkeit einwanderungsfeindliche Grundstimmung der Bevölkerung verhinderten zudem, dass die US-Regierung die Grenzen für Flüchtlinge aus Nazideutschland öffnete. Zwischen 1933 und 1940 erhielten nur etwa 100 000 bis 150 000 Deutsche, die meisten von ihnen Juden, Einwanderungsvisa für die USA – weit weniger, als es die offiziellen Quoten zugelassen hätten.[3]
Während des Zweiten Weltkrieges wurde zwar das Einwanderungsverbot für Chinesen aus außenpolitischen Gründen aufgehoben, doch blieb das in den 1920er-Jahren geschaffene Quotenregime auch in der Nachkriegszeit in Kraft. Allerdings gab es zahlreiche Ausnahmen, so für die durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges um ihre Heimat gebrachten displaced persons in Europa und die »Kriegsbräute« der US-Soldaten. Auch politische Flüchtlinge aus dem kommunistischen Block, besonders nach dem Aufstand in Ungarn 1956 und der Machtübernahme Fidel Castros auf Kuba 1959, erhielten Sonderkontingente. Für die Migration aus Lateinamerika hatte es ohnehin nie Quoten gegeben, und mexikanische »Gastarbeiter« (braceros) waren in der Landwirtschaft des Südwestens hochwillkommen. Als immer mehr von ihnen einfach in den USA blieben, wies Präsident Eisenhower(11) die Einwanderungsbehörde an, die Illegalen abzuschieben, doch hatten die Abschiebeaktionen trotz rabiater Methoden nur temporäre Wirkung, da viele Arbeitgeber nicht auf die billigen Arbeitskräfte verzichten wollten.[4] Selbst wenn die offiziellen Quoten überschritten wurden, bewegte sich die Einwanderung in der Nachkriegszeit weiterhin auf einem historisch niedrigen Niveau von im Durchschnitt 270 000 Immigranten pro Jahr. Zwischen 1950 und 1970 kamen nur rund sechs Millionen Einwanderer in die USA, während die Gesamtbevölkerung im selben Zeitraum um 50 Millionen auf 205 Millionen anwuchs. Der Anteil der im Ausland Geborenen an der US-Bevölkerung, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Spitzenwert von 15 Prozent erreicht hatte, halbierte sich bis 1950 und fiel bis 1970 auf den historischen Tiefstand von 4,7 Prozent.[5]
Das restriktive Einwanderungsregime zwischen Mitte der 1920er-Jahre und Mitte der 1960er-Jahre blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft. Die häufig als white ethnics bezeichneten europäischen Einwanderergruppen, die während der New Immigration des frühen 20. Jahrhunderts noch als Bedrohung für den angloprotestantischen Charakter Amerikas gegolten hatten, wurden ein Teil des »weißen Mainstreams«, auch wenn lebendige Subkulturen ebenso wie ethnokulturelle Animositäten fortbestanden. Die US-Gesellschaft nahm sich selbst als »zweifarbig« wahr: Eine große weiße Mehrheit von knapp unter neunzig Prozent der Bevölkerung stand einer Minderheit von gut zehn Prozent »Negroes« gegenüber; Indianer und die aus Asien stammenden Einwohner machten zusammen gerade einmal ein Prozent aus, die Hispanics wurden bei den Volkszählungen noch gar nicht systematisch erfasst. Dass in den Zensus-Kategorien – White, Negro, Black, Hispanic, Asian American, American Indian, Pacific Islander usw. – immer schon Bevölkerungsgruppen mit höchst unterschiedlicher Kultur, Geschichte, Sprache und ethnischer Selbstzuschreibung zusammengefasst worden waren und die US-Gesellschaft auch nach dem Zweiten Weltkrieg weitaus vielfältiger war, als es bloße Prozentzahlen suggerieren, ändert wenig daran, dass viele weiße Amerikaner ihr Land in der Nachkriegszeit als relativ homogene Nation mit einem »Negerproblem« empfanden.[6]
Präsident Johnson(70) präsentierte den Hart-Celler Act(3) als ein überfälliges Gesetzeswerk, das die Rassendiskriminierung in der Einwanderungspolitik beenden, nicht jedoch die Zahl der Immigranten steigern sollte. Tatsächlich deutete zunächst wenig darauf hin, dass das Gesetz zur Zäsur werden würde. Es hob die jährliche Obergrenze nur moderat von nominell 164 000 auf nunmehr 290 000 Personen an. Davon sollten 170 000 auf die »östliche« und 120 000 auf die »westliche« Hemisphäre entfallen. Erstmals galten damit auch Quoten für die Amerikas. Die Aufteilung in Hemisphären wurde 1978 aufgegeben, doch blieb die Obergrenze unverändert und aus keinem Herkunftsland sollten mehr als 20 000 Einwanderer pro Jahr kommen. Johnsons(71) Vorhersage, das Gesetz werde keine neue Welle der Masseneinwanderung auslösen, schien sich anfangs zu bestätigen. In den ersten zehn Jahren nach seinem Inkrafttreten wanderten insgesamt knapp vier Millionen Menschen in die USA ein, nur eine Million mehr als in der vorausgegangenen Dekade.[7] Gleichwohl schuf der Hart-Celler Act(4) die Voraussetzung dafür, dass die Einwanderung seit den 1980er-Jahren massiv anstieg und sich das ethnische Gesicht der USA radikal veränderte. Der Hauptgrund dafür waren die Regelungen zum Familiennachzug, die von den Quotierungen ausgenommen blieben. US-Bürgerinnen und -Bürger sowie Einwohner mit dauerhafter Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis durften fortan Ehegatten, erwachsene Kinder und Geschwister ins Land holen, zudem gab es weitere Ausnahmen für qualifizierte oder knappe Arbeitskräfte und für politische Flüchtlinge aus Ländern des Ostblocks. Obwohl die sogenannte Kettenwanderung von Familien ein aus der amerikanischen Migrationsgeschichte wohlbekanntes Phänomen ist, unterschätzten die Architekten des neuen Immigrationsregimes die Wirkungen des Familiennachzugs beträchtlich, weil sie annahmen, dass hauptsächlich Euroamerikaner die Regelung in Anspruch nehmen würden. Tatsächlich ließ der Zuzug aus Europa deutlich nach.[8]
Einwanderer aus Asien machten dagegen besonders regen Gebrauch von der Familienzusammenführung. Waren in den 1960er-Jahren lediglich etwa 360 000 Asiaten gekommen, betrug ihre Zahl im folgenden Jahrzehnt bereits 1,4 Millionen und überstieg damit die Einwanderung aus Europa um fast 600 000 Personen. Auch die Immigration aus Mittel- und Südamerika stieg rasant, obwohl die offizielle Quote für die westliche Hemisphäre nur bei 120 000 Menschen lag. Familiennachzug und die zusätzlichen Kontingente für Flüchtlinge aus Kuba und – seit den 1980er-Jahren– Nicaragua und El Salvador sorgten dafür, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts rund die Hälfte aller legalen Einwanderer aus Lateinamerika stammte. Zwei Drittel der Hispanics kamen aus Mexiko. In den 1970ern immigrierten ca. 620 000 Mexikaner legal in die USA, in den 1980ern waren es gut eine Million und im folgenden Jahrzehnt rund 2,75 Millionen. Vor allem aber machten Mexikaner den Großteil der Illegalen aus. Da die Quotenregelungen des Hart-Celler Acts(5) Wanderarbeitern den Grenzübertritt erschwerten, blieben viele von ihnen einfach ohne Papiere im Land, und noch mehr überquerten illegal die Grenze. Weder Deportationen noch die martialische Befestigung der Grenzen zu Mexiko konnten den Strom stoppen. Zwischen 1993 und 2002 verloren beim illegalen Grenzübertritt mindestens 1000 Menschen ihr Leben. Sie ertranken im Rio Grande oder verdursteten in der Wüste. Experten gehen davon aus, dass die illegale Einwanderung ähnlich stark stieg wie die offizielle, sodass 2010 schätzungsweise elf Millionen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in den USA lebten. In den 1990er-Jahren erreichte die Einwanderung mit durchschnittlich einer Million pro Jahr wieder das Niveau wie während der New Immigration zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Allein im Spitzenjahr 1991 registrierten die Behörden offiziell mehr als 1,8 Millionen. Für die Periode zwischen 1990 und 2010 summieren sich die Zahlen auf zwanzig Millionen Neuankömmlinge; 2010 stellten die im Ausland geborenen Einwohner der USA, wie hundert Jahre zuvor, etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zehn Jahre später schätzten Experten, dass von den 330 Millionen Einwohnern der USA ca. 45 Millionen Einwanderer waren. Zählt man ihre Kinder hinzu, machten sie rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus.[9]
Die neue Masseneinwanderung hatte tiefgreifende Auswirkungen auf das demografische und ethnische Profil der amerikanischen Gesellschaft. Der Anteil der Europäer an den foreign-born, der 1960 noch bei 75 Prozent gelegen hatte, betrug 1980 nur noch 36 Prozent und fiel bis 2010 auf zwölf Prozent. Mehr als die Hälfte stammte aus Lateinamerika und der Karibik, fast dreißig Prozent aus Asien und immerhin vier Prozent aus Afrika, dessen Bewohner lange von der – freiwilligen – Immigration in die USA ausgeschlossen waren. Die »Zweifarbigkeit«, die Amerikas Selbstbild bis ins späte 20. Jahrhundert geprägt hatte, machte immer mehr einer Vielfalt der Hautfarben und Ethnien Platz. Die Zensusbehörde klassifizierte 1960 noch 88,5 Prozent der US-Bevölkerung als »weiß«, fünfzig Jahre später nur noch knapp 64 Prozent. Der Anteil der Afroamerikaner war von 10,5 auf 12,6 Prozent gestiegen, doch hatten die Hispanics, die inzwischen mehr als 16 Prozent der Einwohner stellten, sie bereits als größte ethnische Minderheit abgelöst, während die Asiaten knapp unter fünf Prozent lagen.[10]
Da Einwanderer im Schnitt jünger sind und höhere Geburtenraten aufweisen als die eingesessene Bevölkerung, verändert auch die natürliche Reproduktion kontinuierlich die ethnische Zusammensetzung der US-Gesellschaft. Im Jahr 2011 hatte die Mehrheit der Neugeborenen in den USA erstmals mindestens einen Elternteil ohne euroamerikanischen Hintergrund. Bereits um die Wende zum 21. Jahrhundert war absehbar, dass die Euroamerikaner um die Jahrhundertmitte unter die Fünfzig-Prozent-Marke fallen und nur noch eine relative Bevölkerungsmehrheit stellen werden. In Kalifornien, wohin mit Abstand die meisten Immigranten strebten, war dieser Punkt bereits kurz vor dem Jahr 2000 erreicht. Um 2050 werden über fünfzig Prozent der Einwohner Kaliforniens Hispanics sein, während Euroamerikaner nur noch ein Viertel der Bevölkerung ausmachen werden. Für Texas und Florida zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab.[11]
Unter den gesellschaftlichen und kulturellen Konflikten, die in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Zerfall des liberalen Konsenses führten, spielte die Einwanderung noch keine große Rolle. Dies änderte sich, als die Zahlen der legalen und illegalen Immigranten merklich anstiegen. Allerdings verliefen die Fronten in der Einwanderungsdebatte lange Zeit nicht primär zwischen den parteipolitischen Lagern. Forderungen nach Beschränkung der Einwanderung kamen zunächst vor allem von Lobby- und Wählergruppen, die den Demokraten nahestanden, etwa den Gewerkschaften(14) und den Afroamerikanern, die Immigranten traditionell als Lohndrücker und Konkurrenten um Arbeitsplätze und Sozialleistungen fürchten. Auch Stimmen, die neue Masseneinwanderung könne das Gesundheits- und Bildungswesen überlasten sowie zu einer Überbevölkerung führen, wurden lauter. Der Ruf nach Eindämmung des Zustroms stieß auch bei der republikanischen Basis auf breite Resonanz, während der Wirtschaftsflügel der Partei ein ebenso großes Interesse an der Zuwanderung billiger Arbeitskräfte hatte wie liberale Städter der oberen Mittelklasse, deren Lebensstil sich auf die Verfügbarkeit günstiger Dienstleistungen gründet. Zu den ökonomischen Ängsten gesellte sich die Besorgnis um den Verlust der weißen Hegemonie, in deren Zentrum die Einwanderung aus Mexiko stand. Im Wahlkampf 1992 warnte der Republikaner Patrick Buchanan(1), Repräsentant des nationalistischen Parteiflügels, Amerika erlebe gerade die »größte Invasion seiner Geschichte«. Eine Nation, die ihre Grenzen nicht mehr kontrollieren könne, höre auf, ein Staat zu sein. Der konservative Harvard-Politologe Samuel Huntington(1) sprach 2004 in seinem kontroversen Buch Who Are We: The Challenges to American National Identity (dt. Die Krise der amerikanischen Identität) von einer »stillen Rückeroberung« der Territorien im Südwesten der USA, die Mexiko nach dem Krieg von 1846 an die USA hatte abtreten müssen. Huntington behauptete, mexikanische Einwanderer verweigerten sich der Anpassung an die anglophone Mainstream-Kultur der USA. Befürworter einer liberalen Einwanderungspolitik bestritten dagegen, dass die Mexikaner eine geringere Assimilationsbereitschaft als frühere Einwanderer mitbrachten, und betonten ihren unverzichtbaren Beitrag insbesondere zum Agrar- und Dienstleistungssektor.[12]
Tatsächlich war eine Rückkehr zum restriktiven Einwanderungsregime vor 1965 angesichts der fortschreitenden Globalisierung und des hohen Arbeitskräftebedarfs der US-Wirtschaft kaum vorstellbar. Die Einwanderungsdebatte und neue Gesetze richteten sich daher vor allem auf die illegale Einwanderung. Einerseits sollte sie erschwert werden, andererseits wurden Amnestieregelungen erlassen, um Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, die schon längere Zeit in den USA arbeiteten, den Weg in die Legalität zu ebnen. Der 1986 mit breiter überparteilicher Mehrheit verabschiedete Immigration Reform and Control Act(1) stellte die wissentliche Beschäftigung von Immigranten ohne Arbeitserlaubnis unter Strafe, was sich in der Praxis allerdings schwer nachweisen ließ. Gleichzeitig kamen fast drei Millionen illegale Einwanderer, sofern sie mindestens seit 1982 im Land lebten, in den Genuss einer Amnestie und konnten Daueraufenthaltsgenehmigungen beantragen. Zudem erreichte die Agrarlobby großzügige Ausnahmen für Landarbeiter. 1990 erhöhte der Kongress noch einmal die Zahl der jährlich erteilten Arbeitsvisa.[13]
Der politische Unmut über die nach Ansicht vieler Bürgerinnen und Bürger halbherzigen Maßnahmen gegen die illegale Einwanderung schwoll allerdings weiter an, vor allem in Kalifornien, wohin ein Großteil der Mexikaner strebte. In einer Volksabstimmung über einen als Proposition 187 bekannten Gesetzentwurf stimmten 1994 gut sechzig Prozent der kalifornischen Wähler dafür, illegale Einwanderer von Gesundheits- und Sozialleistungen sowie ihre Kinder vom Besuch öffentlicher Schulen auszuschließen. Gerichte hielten das Gesetz allerdings für nicht anwendbar, weil es verfassungswidrig sei. Gleichwohl war die Botschaft angekommen. Die demokratische Clinton(5)-Administration und der republikanisch dominierte Kongress einigten sich 1996 auf ein Gesetzespaket, das legale Immigranten für die ersten fünf Jahre ihres Aufenthaltes von zahlreichen Sozialtransfers ausschloss, die Deportation illegaler Einwanderer erleichterte und die Mittel für die Befestigung der Grenze zu Mexiko kräftig erhöhte. Im Wahlkampf brüstete sich Clinton damit, Amerikas Grenzen sicherer gemacht und zahlreiche illegale Einwanderer und kriminelle Ausländer abgeschoben zu haben. Seit den 1990er-Jahren investierten die Bundesregierung und die an Mexiko grenzenden Bundesstaaten massiv in die Befestigung der amerikanischen Südgrenze, die Kritiker wegen ihrer Stahlzäune und Überwachungstechnologie mit der Berliner Mauer verglichen. Neben der Grenzpolizei organisierten lokale Bürgerwehren Patrouillen, um illegale Grenzübertritte zu verhindern. Die Zahl der Illegalen sank dennoch nicht nennenswert; erst die Große Rezession von 2008 ließ die Immigration aus Mexiko (auch die legale) spürbar zurückgehen.[14]
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden Einwanderung und Grenzkontrolle zu überragenden Imperativen der nationalen Sicherheit. Obwohl alle 19 Attentäter legal mit Touristen- oder Studentenvisa eingereist waren, deuteten Teile der Öffentlichkeit die Anschläge als Folge einer zu großzügigen Immigrationspolitik. Die Einwanderungsbehörde INS (Immigration and Naturalization Service)(1) wurde in das neugeschaffene Heimatschutzministerium, das Department of Homeland Security, eingegliedert und die Einreise in die USA einem elektronischen Überwachungs- und Registrierungsregime unterworfen. Die US-Regierung erschwerte die Visavergabe an ausländische Studenten und setzte zeitweilig die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Die Zahl der Geschäftsreisenden und Touristen aus muslimischen Ländern, die sich besonderem Argwohn ausgesetzt sahen, ging drastisch zurück, nicht aber die der muslimischen Immigranten. Von einer Zäsur in der Einwanderungspolitik kann keine Rede sein, denn auch nach 9/11 lag die Zahl der jährlichen Neuankömmlinge konstant bei etwas über einer Million.[15]
Allerdings trug das xenophobe Klima, das Teile der Öffentlichkeit und der Bevölkerung nach den Terroranschlägen erfasste, dazu bei, dass Kompromisse in der Einwanderungspolitik immer schwieriger wurden. Die George-W.-Bush-Administration(2) war zunächst mit einem einwanderungsfreundlichen Programm angetreten, das dem Interesse der Wirtschaft an Arbeitskräften ebenso wie dem Wunsch von Millionen Illegaler nach einer dauerhaften Bleibeperspektive Rechnung tragen sollte. Im April 2001 brachten der Republikaner Orrin Hatch und der Demokrat Richard Durbin einen Gesetzesvorschlag in den Senat ein, der als DREAM Act (Development, Relief, and Education for Alien Minors Act)(1) bekannt wurde. Der Entwurf sah vor, dass Einwohner ohne Papiere, die als Minderjährige in die USA gekommen waren, mindestens fünf Jahre im Land lebten, nicht straffällig geworden waren, einen Schulabschluss vorweisen konnten oder sich zum Militär verpflichtet hatten, zunächst ein bedingtes Bleiberecht erhalten sollten und sich nach sechs Jahren um eine Daueraufenthaltsgenehmigung und anschließend um die US-Staatsbürgerschaft bewerben konnten. Doch obwohl sich in der Folgezeit die Präsidenten Bush(3) und Obama(3) sowie führende Republikaner und Demokraten für den DREAM Act stark machten, scheiterte er immer wieder an der Sperrminorität konservativer Senatoren, die argumentierten, das Gesetz belohne Gesetzesbruch und werde wie ein Magnet wirken. 2012 setzte Präsident Obama schließlich wesentliche Bestimmungen des DREAM Act(2) per Exekutiverlass in Kraft, doch sein Nachfolger Donald Trump(10) beendete das Programm unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2017. Trump hatte seinen Wahlkampf ganz auf die nativistische(3) Botschaft abgestellt, die »Invasion« mexikanischer »Krimineller und Vergewaltiger« zu stoppen. Sein Versprechen, an der Grenze zu Mexiko eine Mauer zu bauen, trug wesentlich zu seinem überraschenden Sieg im November 2016 bei. Einwanderung und demografischer Wandel waren zu polarisierenden Identitätsfragen der amerikanischen Politik geworden.[16]
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die amerikanische Politik und Gesellschaft auf die Masseneinwanderung aus Süd- und Osteuropa mit Programmen zur »Amerikanisierung« reagiert, um Juden, Slawen und Italiener an die Werte und Lebensformen der angloprotestantischen Mehrheitskultur anzupassen. Die Einwanderungsbeschränkungen der 1920er-Jahre verfolgten ausdrücklich das Ziel, »Amerika amerikanisch zu erhalten«, wie es Präsident Calvin Coolidge 1924 ausdrückte. Die Politik der Amerikanisierung war insofern erfolgreich, als das Selbstbild der US-Gesellschaft bis in die 1970er-Jahre hinein von den Kategorien weiß und schwarz geprägt wurde. Die demografische Dominanz der weißen Bevölkerung ist sogar als Grund dafür angeführt worden, dass eine Mehrheit das Ende der institutionellen Rassentrennung und Diskriminierung der Afroamerikaner befürwortete. Wer sich seiner Überlegenheit gewiss ist, kann sich Großzügigkeit erlauben, zumal wenn sich damit die Erwartung verbindet, dass die Kosten und Veränderungen begrenzt sein werden.[17]
Mit der rapiden demografischen Transformation seit dem späten 20. Jahrhundert hat sich diese Situation radikal verändert. Der Historiker James Patterson konstatierte bereits 2005, Amerika erlebe eine »Hautfarben-Revolution«. Wie oben dargelegt, geht seit 1970 der Anteil der Euroamerikaner an der US-Bevölkerung kontinuierlich zurück und wird um die Mitte des 21. Jahrhunderts unter die Fünfzig-Prozent-Marke fallen. Dass diese Entwicklungen bei der bislang dominanten ethnischen Gruppe massive politische Abwehrreaktionen ausgelöst haben, kann nicht überraschen. Einwanderung, Demografie und kulturelle Überfremdungsängste, und nicht in erster Linie die Furcht vor ökonomischem Abstieg, gelten vielen Sozialwissenschaftlern als die wichtigsten Gründe für den Aufstieg des Rechtspopulismus in der ganzen westlichen Welt. Auch in den USA entbrannten kontroverse Debatten über den Charakter und die Identität der amerikanischen Nation. Wie soll in einem Amerika, das ethnisch und kulturell immer heterogener geworden ist, nationale und soziale Integration funktionieren?[18]
Die lange dominanten Modelle des Schmelztiegels und der Assimilation an die angloprotestantische Mehrheitskultur gerieten zunehmend in die Defensive gegenüber dem Postulat, die US-Gesellschaft müsse eine neue Identität ausbilden, die ausdrücklich die kulturelle und ethnische Vielfalt ihrer Bevölkerung und die Gleichwertigkeit aller Kulturen anerkennt. Dazu sollte auch die Einsicht kommen, dass Amerika nie allein dem »weißen Mann« gehörte, sondern das historische Produkt des Zusammentreffens vieler Kulturen und Ethnien ist. Begriffe wie kultureller Pluralismus, Multikulturalismus und Diversität – diversity – standen bald für ein Gesellschaftsmodell, das auf der optimistischen Erwartung beruhte, gegenseitige Toleranz und die Bindung an die universalen Prinzipien der Verfassung und der liberalen Demokratie würden den gemeinsamen Boden bilden, auf dem Vielfalt und Autonomie blühen könnten. Liberale Kritiker wie der Historiker Arthur Schlesinger(6) beklagten freilich, dass der neue Multikulturalismus auf eine ethnische Fragmentierung der Gesellschaft und eine von akademischen Eliten vorangetriebene Diskreditierung der westlichen Kultur hinauslaufe. Allerdings beschränkte sich die Besinnung auf die eigenen ethnischen »Wurzeln« keineswegs auf Afroamerikaner und andere nichtweiße Minderheiten, sondern zeigte sich ebenso unter den white ethnics. Deren Berufung auf die Diskriminierung, die ihre eingewanderten Eltern und Großeltern vonseiten der WASPs (White Anglosaxon Protestants) erfahren hatten, diente mitunter auch als Argument, um sich von der Verantwortung für den historischen Rassismus Amerikas zu entlasten.[19]
Die neue Identitätsdebatte wanderte rasch ins Bildungswesen ein und veränderte die Curricula der Schulen und Hochschulen. Viele Colleges und Universitäten richteten Abteilungen und Studiengänge für Afro-American Studies, Latino Studies und Ethnic Studies ein, die auch den Zweck verfolgten, das historische und kulturelle Selbstbewusstsein der betroffenen Gruppen zu stärken. Sehr bald entwickelten sich »Kulturkriege« über die Verbindlichkeit des Kanons der »westlichen Zivilisation«. Auch der Gebrauch des Englischen als selbstverständlicher, wenngleich gesetzlich niemals kodifizierter Amts- und Verkehrssprache schien angesichts des Zustroms spanischsprechender Einwanderer gefährdet, sodass sich seit den 1980er-Jahren eine Bewegung bildete, die im Wege von Volksabstimmungen das Englische in den Bundesstaaten verbindlich machen wollte. Beginnend mit Virginia im Jahr 1981, führten bis 2017 mehr als dreißig Staaten entsprechende Regelungen ein. Gleichzeitig setzte sich vielerorts jedoch Spanisch als zweite Sprache durch. Amtliche Formulare oder Wahlzettel sind in fast allen Bundesstaaten auf Spanisch verfügbar. Doch auch unter der nichtweißen Bevölkerung befürworten deutliche Mehrheiten Englisch als offizielle Sprache der USA. Selbst Barack Obama(4) bekannte, es störe ihn, sich nicht mit seinem Automechaniker verständigen zu können.[20]
Viele Sozialwissenschaftler sehen in der interethnischen Eheschließung den wichtigsten Indikator dafür, ob Amerika auf dem Wege zu einer integrierten multiethnischen Gesellschaft ist. Dabei ist kaum ein Thema historisch so befrachtet wie die sogenannte »Rassenmischung«, die jahrhundertelang zu den ideologischen Obsessionen des weißen Rassismus gehörte. In der Ära der Rassentrennung waren Heirat, sexuelle Beziehungen und Fortpflanzung zwischen Weißen und Nichtweißen in rund dreißig Bundesstaaten gesetzlich verboten und im ganzen Land gesellschaftlich tabuisiert. Als der Oberste Gerichtshof(15) 1967 das Verbot für verfassungswidrig erklärte, weil es den Gleichheitsgrundsatz und das in der Verfassung implizierte fundamentale Recht auf Eheschließung und freie Partnerwahl verletze, urteilten die Richter gegen einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Bei Meinungsumfragen lehnten mehr als neunzig Prozent der befragten Weißen »Mischehen« ab, und selbst 1990 sprachen sich noch sechzig Prozent dagegen aus. In den folgenden fünfundzwanzig Jahren jedoch vollzog sich ein radikaler Kulturwandel, denn bis 2015 fiel der Anteil derjenigen, die sich offen gegen »Rassenmischung« bekannten, auf 15 Prozent. Gleichzeitig veränderte sich auch die Lebenspraxis. Zwischen 1980 und 2015 stieg der Anteil interethnischer Paare an der Gesamtzahl der Eheschließungen von vier auf elf Prozent. Unter den ethnischen Minderheiten selbst ist der Anteil deutlich höher. Jeweils knapp ein Drittel der Asian Americans und der Hispanics heiratet außerhalb der eigenen ethnischen Gruppe, bei Afroamerikanern sind es fast zwanzig Prozent. Die Bereitschaft zur intermarriage steigt zudem mit dem sozialen Status und dem Bildungsgrad.[21] Die wachsende Akzeptanz von Liebe und Sexualität zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Hautfarbe und der Anstieg der Eheschließungen über die einstmals so scharf gezogene color line hinweg gelten in der öffentlichen Debatte wie in der Sozialwissenschaft als ermutigende Entwicklung, wenn nicht gar als Königsweg zur Überwindung der alten Rassenkonflikte. Die Kinder aus diesen Verbindungen, so lautet der Befund des Soziologen Richard Alba, würden längst nicht mehr als »Mischlinge« stigmatisiert, sondern seien auf dem Weg, einen neuen gesellschaftlichen Mainstream jenseits der alten »Schwarz-Weiß«-Dichotomie zu bilden. Die Werbe- und Unterhaltungsbranche präsentiert Amerika längst routinemäßig als bunte und fröhliche Melange der Hautfarben. Schon vor mehr als zwanzig Jahren bezeichnete sich der Golf-Champion Tiger Woods(1) als »Cablinasian« – abgeleitet von Caucasian (weiß), Black, Native American und Asian – um sein vielfältiges ethnisches Erbe zu betonen.[22]
Tiger Woods(2) mag ein besonders augenfälliges Beispiel sein, aber er ist längst keine seltene Ausnahme mehr. Zwischen 1970 und 2013 stieg der Anteil der neugeborenen Kinder mit Eltern unterschiedlicher ethno-rassischer Herkunft von einem auf zehn Prozent. Seit 2000 können alle Amerikanerinnen und Amerikaner auf den Fragebögen der Volkszählung mehrere Zugehörigkeiten ankreuzen, wovon 2013 immerhin neun Millionen Personen Gebrauch machten. Doch gehen Experten davon aus, dass die Zahl deutlich höher liegt und bis zu sieben Prozent der US-Einwohner einen »gemischten« Hintergrund haben. Lassen Einwanderung und natürliche Reproduktion also eine neue interethnische Nation entstehen, die das vergiftete Erbe der whiteness, das Amerikas Geschichte jahrhundertelang geprägt hat, hinter sich lässt? Eine solche Entwicklung wäre die historische Umkehrung der alten rassistischen Doktrinen, die von der »Überflutung« durch »minderwertige Rassen« das Ende der »weißen Rasse« befürchteten. Doch gleich unter welchen normativen Vorzeichen sie steht, die Erwartung, der weiße, europäische Phänotyp werde in absehbarer Zeit aus Amerika verschwinden, führt allein deshalb in die Irre, weil derartige Entwicklungen sich über sehr lange Zeiträume hinziehen. Auch wenn der Anteil der neugeborenen Kinder mit zwei euroamerikanischen Elternteilen inzwischen unter fünfzig Prozent gefallen ist, haben immerhin noch etwa achtzig Prozent wenigstens einen weißen Elternteil, und auch um die Mitte des 21. Jahrhunderts werden noch drei Viertel der Amerikaner zumindest partiell euroamerikanischer Abstammung sein. Vor allem aber hängt die ethnische und rassische Zugehörigkeit von historisch bedingten kulturellen Fremd- und Selbstzuschreibungen ab, die Identitäten und Lebenspraxis prägen. Personen mit asiatisch-euroamerikanischem bzw. hispanisch-euroamerikanischem Hintergrund tendieren dazu, sich selbst als weiß einzustufen, und werden von ihrer Umwelt meist auch so wahrgenommen, während Menschen mit einem weißen und einem schwarzen Elternteil weiterhin ganz selbstverständlich als Afroamerikaner betrachtet werden. Barack Obama(5), der Sohn einer weißen Amerikanerin und eines Kenianers, gilt als der erste schwarze US-Präsident und hat sich, obwohl er bei seiner Mutter und seinen weißen Großeltern aufwuchs, unter Berufung auf seine Lebenserfahrungen stets als Angehöriger der Black Community definiert. Afroamerikaner gemischter Abkunft berichten im Übrigen nicht seltener von Diskriminierungserlebnissen als solche mit zwei schwarzen Elternteilen.[23]
In der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte darüber, wie die USA – und die westlichen Einwanderungsgesellschaften insgesamt – mit Immigration und demografischer Transformation umgehen sollten, lassen sich vier Grundpositionen unterscheiden. Die identitätspolitische Linke postuliert ein Menschenrecht auf Einwanderung, plädiert für offene Grenzen und lehnt die Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Immigranten grundsätzlich ab. Ängste vor und Einwände gegen Einwanderung und demografischen Wandel gelten in dieser Sicht als verstocktes Beharren auf »weißen Privilegien«, vom kontinuierlichen Rückgang des weißen Bevölkerungsanteils erhofft man sich die Entstehung einer neuen Gesellschaft, in der keine soziale Klasse oder ethnische Gruppe mehr dominiert und alle Kulturen und Subkulturen gleichberechtigt koexistieren.[24]
Auf der Rechten hat genau diese Aussicht in den vergangenen Jahrzehnten ein immer größeres Mobilisierungs- und Radikalisierungspotenzial entfaltet, das zunächst Donald Trump(11) den Weg ins Weiße Haus ebnete und inzwischen nach Einschätzung mancher Beobachter die USA sogar in einen Bürgerkrieg stürzen könnte. Große Teile der weißen Bevölkerung, so argumentieren Sozialwissenschaftler, habe eine regelrechte »demografische Panik« erfasst und sie für eine als Great-Replacement-Theorie bekannte Verschwörungserzählung empfänglich gemacht, der zufolge die »kosmopolitischen« Eliten der USA und Westeuropas gezielt einen Bevölkerungsaustauch betrieben, um ihre Macht und Privilegien zu sichern. Die Great-Replacement-Theorie liefert – nicht nur in den USA – immer häufiger das Motiv für mass shootings(2) und rassistische hate crimes, beschränkt sich aber schon längst nicht mehr auf verwirrte Geister, sondern wird tagtäglich von republikanischen Politikern und rechten Kommentatoren wie dem Fox-News(1)-Moderator Tucker Carlson(1) verbreitet. Die Demokraten, so behaupten sie, holten gezielt illegale Einwanderer ins Land, die ihnen bei Wahlen als Stimmvieh die Mehrheit sichern sollen. Umfragen zufolge hält die Hälfte der republikanischen Anhänger das Great Replacement(1) für plausibel, die Theorie liefert ihnen ein wichtiges Argument, an Trumps(12) Lüge von den gestohlenen Wahlen zu glauben.[25]
Innerhalb des liberalen Spektrums werden vor allem die lange und erfolgreiche Tradition der Einwanderungsgesellschaft, die bislang noch alle Neuankömmlinge integriert habe, sowie die ökonomischen Vorteile von Zuwanderung und ethnischer Vielfalt herausgestellt. So weist etwa die Soziologin Nancy Foner darauf hin, dass Immigranten längst nicht mehr nur harte körperliche Arbeit leisten und einfache Dienstleistungen erbringen, sondern für den Hochtechnologiesektor und die Spitzenforschung unverzichtbar sind. Vierzig Prozent der in den USA tätigen Softwareentwickler und ein Viertel aller Ärzte wurden im Ausland geboren. Insgesamt arbeitet rund ein Drittel aller Immigranten in qualifizierten Berufen oder bekleidet Positionen im Management, und unter den Unternehmensgründern sind Einwanderer deutlich überrepräsentiert. Foner räumt ein, dass es am unteren Ende der Einkommens- und Qualifikationsskala Verdrängungseffekte gebe, unter denen vor allem Afroamerikaner litten, betont aber, dass unter dem Strich Immigration für die Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze sorge. Mehr noch, dank ihrer Bildungsbeflissenheit höben Einwanderer das Bildungsniveau der Bevölkerung, Hispanics und Asiaten hätten zudem entscheidend zur Wiederbelebung der verödeten Innenstädte und ganz allgemein zur kulturellen Bereicherung und gesellschaftlichen Liberalisierung Amerikas beigetragen. Für Nancy Foner, Richard Alba und andere Sozialwissenschaftler, die den Mainstream der Immigrations- und Integrationsforschung repräsentieren, ist der soziale und demografische Wandel der Gegenwart weder neu noch beunruhigend. Wer hätte vor hundert Jahren schon geglaubt, fragt Foner, dass Juden und Italiener einmal genauso als Amerikaner akzeptiert sein würden wie die »alteingesessenen Angelsachsen«? Der Wandel kann nicht rückgängig gemacht werden, so lautet die Botschaft, vielmehr ist es nur eine Frage der Zeit und des Generationenwechsels, bis sich die Gesellschaften Nordamerikas und Westeuropas an ihn gewöhnt haben werden, so wie dies in den großen multiethnischen und multikulturellen Metropolen wie New York City bereits der Fall sei.[26]
Der Optimismus der Liberalen speist sich nicht zuletzt aus der Beobachtung, dass es sich bei den Trägern des Nativismus(4) vor allem um Weiße ohne höhere Schulbildung handelt, die überproportional im ländlichen und kleinstädtischen Raum leben, wo die Zuwanderung eher gering ist. Das Gefühl dieser Milieus, Fremde im eigenen Land geworden zu sein, und ihr Wunsch nach Schutz und Restauration ihrer Lebenswelten, so der Tenor vieler sozialwissenschaftlicher Analysen, sei zwar subjektiv verständlich, aber ökonomisch, demografisch und politisch unrealistisch. Während der brisanten Übergangsphase zu einem neuen gesellschaftlichen Konsens müssten die Globalisierungsverlierer durch sozialstaatliche Kompensation und Konzessionen an ihre Statusängste beschwichtigt werden.[27]
Viele traditionelle Konservative und linke Globalisierungskritiker glauben jedoch nicht an die Verheißung einer multikulturellen globalen Zukunft und halten daran fest, dass Staaten und Regierungen in erster Linie verpflichtet seien, die Interessen der eigenen Bürgerinnen und Bürger zu schützen und die destabilisierenden Konsequenzen der Masseneinwanderung für die Demokratie einzudämmen. Bernie Sanders(1), der Bannerträger des amerikanischen Linkspopulismus, distanzierte sich ausdrücklich von der Forderung nach »offenen Grenzen«, die vor allem das Interesse des Großkapitals an niedrigen Löhnen und billigen Arbeitskräften bediene. Der Sanders nahestehende Politikwissenschaftler Robert Kuttner plädiert für eine Zurückdrängung der Globalisierung und die Stärkung des Nationalstaates, andernfalls werde der Backlash der Globalisierungsverlierer gegen die Masseneinwanderung zu einem neuen Faschismus führen. Und der konservative Journalist David Frum, ein scharfer Kritiker Donald Trumps(13), warnt düster: »Wenn die Liberalen meinen, nur Faschisten seien für die Kontrolle von Grenzen, dann werden die Wähler bald Faschisten an die Macht bringen, um das zu tun, was die Liberalen sich zu tun weigern.« Der nie um eine kontroverse These verlegene Intellektuelle Francis Fukuyama(1) forderte vor den Wahlen 2016 »vernünftige Einwanderungsbeschränkungen«, um dem Rechtspopulismus den Wind aus den Segeln zu nehmen und die soziale Lage der amerikanischen Arbeiter- und Mittelklasse zu stabilisieren. Als die USA in den 1920er-Jahren diesen Schritt taten, so Fukuyama, habe dies dem »goldenen Zeitalter« sozialer Gleichheit den Weg geebnet.[28]
Andere Stimmen halten dies nicht nur aus ökonomischen Gründen für sinnvoll. Der Politikwissenschaftler Eric Kaufmann, ein Brite mit lateinamerikanischen, asiatischen und europäischen Wurzeln, wendet sich entschieden gegen die moralische Dominanz des Multikulturalismus, der konservativen Weißen nur die Wahl zwischen xenophober Revolte und resignierter Anpassung lasse. Doch die traditionellen ethnokulturellen Identitäten der schrumpfenden weißen Bevölkerung in Europa und Nordamerika verdienten nicht weniger Anerkennung als die Kulturen nichtweißer Minderheiten. Gerade weil die demografische Transformation unaufhaltsam sei, müssten konservative Weiße eine Zukunft für sich sehen. In der Forderung nach Beschränkung und Kontrolle der Einwanderung artikuliert sich Kaufmann zufolge ein legitimes Interesse an kultureller Anerkennung, das nicht apriori unter Rassismusverdacht gestellt werden dürfe oder durch sozialpolitische Wohltaten neutralisiert werden könne.[29]
Einwanderung und demografischer Wandel hatten profunde Auswirkungen auf das ethnische Profil der Wählerschaft, der politischen Institutionen und der Parteien. Die parteipolitische Polarisierung der zurückliegenden Jahrzehnte war, so der Politikwissenschaftler Alan Abramowitz, im Kern eine rassisch-ethnische Polarisierung. Die Wählerbasis der Parteien schied sich immer stärker nach Hautfarbe und Ethnizität, und ethnokulturelle Identitätsfragen nahmen einen immer größeren Raum in der amerikanischen Politik ein. Allerdings vollzog sich diese Entwicklung nur allmählich, denn Einwanderer dürfen erst nach ihrer Einbürgerung wählen und weisen eine deutlich niedrigere Wahlbeteiligung auf als die eingesessene Bevölkerung. Auch die schwelende Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern in der Immigrationsfrage wurde lange Zeit dadurch überdeckt, dass das Establishment der beiden großen Parteien die liberale Einwanderungspolitik mittrug. Die Republikaner wollten den Zustrom billiger Arbeitskräfte sicherstellen, während bei den Demokraten die Stimmen an Einfluss gewannen, die Maßnahmen zur Kontrolle illegaler Einwanderung ablehnen. Es entstand eine Repräsentationslücke, in die – wie dies überall in der westlichen Welt der Fall war – die rechtspopulistischen Bewegungen stießen.[30]
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren etwa 95 Prozent aller potenziellen Wähler der USA weiß. Im Süden schlossen die diskriminierenden Jim-Crow-Gesetze(8) Afroamerikaner von der politischen Teilhabe aus, ansonsten bildeten sie nur in den Großstädten des Nordens und Mittleren Westens eine nennenswerte Kraft. Hispanics und Asiaten spielten überhaupt noch keine Rolle. Wenn vom ethnic vote die Rede war, waren die überwiegend katholischen Wähler irischer, italienischer oder polnischer Abstammung gemeint, die in Städten wie Boston, New York, Pittsburgh, Philadelphia und Chicago die Demokratische Partei dominierten. Die Parteien unterschieden sich primär nach sozialer Klassenzugehörigkeit und Konfession. Die Wähler der Republikaner waren ihrer ethnoreligiösen Herkunft nach eher Angloprotestanten und verfügten im Schnitt über höhere Einkommen als die der Demokraten, die sich als die Partei der Arbeiter- und Mittelklassen verstanden. Ihre regionalen Hochburgen lagen im Süden und in den Industriemetropolen, während die Republikaner ihre Basis eher in den ländlich und kleinstädtisch geprägten Staaten des Nordostens sowie des Mittleren Westens und der Rocky Mountains hatten. Im Kongress waren die Demokraten die strukturelle Mehrheitspartei, doch bei den Präsidentschaftswahlen blieben die Republikaner wettbewerbsfähig.[31]
Ein halbes Jahrhundert später hatte sich die politische Landschaft der USA markant verändert. Wie oben dargelegt, waren der weiße Süden und große Teile der white working class seit Ende der 1960er-Jahre ins republikanische Lager gewechselt, während die Demokraten immer mehr zur Partei der neuen ethnischen Minderheiten und der gebildeten, liberalen Weißen geworden waren. Die Hochburgen der Partei hatten sich in den Nordosten und an die Westküste verlagert, der frühere Solid South der Demokraten wurde zur Bastion der Grand Old Party. Diese Neuaufstellung der Parteien spiegelte zu einem Gutteil die fortschreitende demografische Transformation wider, denn zu Beginn des 21. Jahrhunderts war der Anteil der Weißen an der Wählerschaft auf 78 Prozent gefallen und Hispanics und Asian Americans stellten zusammen bereits elf Prozent der Wahlberechtigten, etwa genauso viel wie die afroamerikanische Bevölkerung. In den folgenden zwei Jahrzehnten setzte sich die ethnische Diversifizierung der Wählerinnen und Wähler fort. Inzwischen repräsentieren die nichtweißen Minderheiten rund ein Drittel der potenziellen Wähler. Mit einem Anteil von 13 Prozent haben die Hispanics die Afroamerikaner zahlenmäßig überholt und sind besonders in den Staaten des Südwestens, wo sie bis zu einem Viertel der Wählerschaft ausmachen, zu einer entscheidenden Größe geworden. Nicht nur Afroamerikaner, sondern auch Hispanics und Asian Americans bekleiden immer häufiger politische Ämter. Bei den Zwischenwahlen 2002 zogen bereits 25 hispanische Abgeordnete in den Kongress ein, 2020 waren es 43 Kongressabgeordnete und vier US-Senatoren. Immerhin 14 Mitglieder des Repräsentantenhauses und drei Senatoren haben einen asiatischen Hintergrund. US-Vizepräsidentin Kamala Harris(1), die eine indische Mutter und einen afrokaribischen Vater hat, wurde zur prominentesten Repräsentantin der ethnischen Diversität im politischen Leben der USA.[32]
Die politische Brisanz des demografischen Wandels liegt vor allem darin begründet, dass Ethnizität und Hautfarbe zum zuverlässigen Indikator für Wahlverhalten und Parteiidentifikation geworden sind und die nichtweißen Minderheiten bislang überwiegend mit den Demokraten sympathisieren. Die Afroamerikaner gehören seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu den treuesten Anhängern der Partei, mehr als achtzig Prozent der als Wähler registrierten Schwarzen bekennen sich zu ihr. Aber auch mehr als siebzig Prozent der Asian Americans und über sechzig Prozent der Hispanics bezeichnen sich als Demokraten, dagegen tun dies nur noch um die vierzig Prozent der Weißen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 kamen 45 Prozent der für Barack Obama(6) abgegebenen Stimmen von nichtweißen Wählerinnen und Wählern, bei seinem republikanischen Gegenkandidaten Mitt Romney(1) betrug der entsprechende Anteil nur zwölf Prozent. Bei seinen Wahlsiegen 2008 und 2012 stimmten jeweils nur etwa vierzig Prozent der weißen Wähler für Obama, doch sein haushoher Vorsprung unter den ethnischen Minderheiten verhalf ihm beide Male zu einer komfortablen Mehrheit der abgegebenen Stimmen.[33]
Wenngleich unter unterschiedlichen Vorzeichen, wurde der Ausgang der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2012 in beiden politischen Lagern als Spiegel der demografischen Veränderungen interpretiert. Die Strategen der Demokratischen Partei sahen sich in ihren Prognosen bestätigt, dass der demografische Wandel und die gesellschaftliche Liberalisierung eine neue progressive Wahlkoalition aus Minderheiten und gebildeten Weißen hervorgebracht habe – die »Obama(7)-Koalition« – die, ähnlich wie Franklin Roosevelts(7) New-Deal-Koalition(34), den Demokraten langfristig die Mehrheit sichern würde. Die Republikaner dagegen hätten ein riesiges demografisches Problem, weil ihre Wählerbasis »aus älteren, weißen, ländlichen und evangelikalen(9) Wählern« immer weiter zusammenschrumpfe. Auch die republikanische Parteiführung sah die Notwendigkeit, die Partei zu modernisieren und für Minderheiten attraktiver zu machen. Schon George W. Bush(4) hatte als texanischer Gouverneur und Präsidentschaftskandidat erfolgreich um die Hispanics geworben. Hispanics und Asian Americans, so das Kalkül, seien erfolgs- und familienorientiert und daher für die konservativen Botschaften der Republikaner empfänglich. Solange diese Minderheiten sich jedoch von der GOP abgelehnt fühlten, würden sie ihr gar nicht zuhören.[34]
Doch ließ sich der geforderte Kurswechsel nicht durchsetzen, denn die Basis der GOP war nicht bereit, die konservative weiße Identität der Partei preiszugeben, und setzte stattdessen auf die Mobilisierung der durch die Große Rezession weiter verschärften Unzufriedenheit bei weißen Amerikanerinnen und Amerikanern. Unter dem Etikett »Tea Party(1)« entfachte der rechte Parteiflügel schon kurz nach Obamas(8) Amtsantritt 2009 eine populistische Revolte gegen die Establishment-Republikaner, die Donald Trumps(14) Siegeszug den Boden bereitete und die Partei zu einem Kampfbund weißer Nationalisten machte. Die Demokraten, die von einer unschlagbaren Obama-Koalition geträumt hatten, erlebten im November 2016 ein böses Erwachen.[35]
Ohnehin hatte sich die GOP längst vor Trump(15) auf ein altbewährtes Mittel der amerikanischen Politik besonnen, um sich gegen demografischen Wandel und Wahlniederlagen zu immunisieren, nämlich auf den Erlass repressiver Wahlgesetze, die es Minderheiten und dem politischen Gegner so schwer wie möglich machen sollen, überhaupt an den Wahlen teilzunehmen. Das historische Vorbild liefern die Südstaaten, denen es vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Bürgerrechtsära mithilfe von Gewalt, schikanösen Registrierungspraktiken und diskriminierenden Gesetzen gelungen war, die schwarze Bevölkerung vom Wählen abzuhalten und die »weiße Vorherrschaft« zu zementieren. Nach der Verabschiedung und wirksamen Durchsetzung des Wahlrechtsgesetzes(7) von 1965 schien es lange Zeit so, als gehörten solche Praktiken endgültig der Vergangenheit an. Doch mit der von Kritikern vehement bestrittenen Begründung, Wahlbetrug durch illegale Einwanderer verhindern zu müssen, verabschiedeten seit 2010 mehr als dreißig republikanisch kontrollierte Bundesstaaten Gesetze, die unter anderem rigide Personenkontrollen bei der Registrierung und Stimmabgabe vorsehen sowie die Briefwahl einschränken. Auch die als gerrymandering(1) bekannte manipulative Wahlkreiseinteilung diente dem Zweck, den politischen Einfluss der Republikaner gegen den demografischen Wandel abzuschotten. Als Texas nach der Volkszählung 2010 vier zusätzliche Mandate im US-Repräsentantenhaus erhielt, weil die Bevölkerung des Staates um mehr als vier Millionen gewachsen war, zog die texanische Legislative die Wahlkreise so, dass alle vier neuen Sitze an die Republikaner fallen würden, obwohl mehr als die Hälfte der neuen Einwohner Hispanics und Schwarze waren. Was anfangs noch als Rückzugsgefecht erscheinen mochte, gewann erheblich an Dynamik, nachdem der Oberste Gerichtshof(16) 2013 zentrale Bestimmungen des Voting Rights Act(8) außer Kraft setzte und den Einzelstaaten erheblich mehr Spielraum bei der Ausgestaltung ihrer Wahlgesetze einräumte. Wahlrechtsfragen waren immer schon Machtfragen, aber für viele weiße Amerikanerinnen und Amerikaner, die sich als »Fremde im eigenen Land« fühlen, sind sie zu Überlebensfragen geworden, von denen der Fortbestand der eigenen Identitäten und Lebenswelten abzuhängen scheint.[36]
Der demografische Wandel seit 1965 hat die amerikanische Politik und Gesellschaft fundamental verändert, aber von einem Konsens sind die USA weit entfernt. Im Gegenteil, Einwanderung und die ethnische Transformation der USA gehören zu den wirkmächtigsten Triebkräften der Polarisierung. Eine solche Entwicklung hätte beim Erlass des Immigration Reform Act(6) niemand voraussehen können, und zwar nicht allein, weil niemand mit einer neuen Einwanderungswelle rechnete. Vielmehr wähnte sich das liberale Amerika Mitte der 1960er-Jahre auf gutem Wege, sein traditionelles »Rassenproblem« zu lösen, indem es Jim Crow zu Grabe trug und die schwarze Minderheit in die weiße Mehrheitsgesellschaft integrierte. Diese Hoffnung entpuppte sich, wie gesehen, rasch als Illusion, doch immerhin blieb der »Rassenkrieg«, den Pessimisten am Ende des Jahrzehnts prophezeit hatten, aus. Tatsächlich begann in den 1970er-Jahren eine Zeit spürbarer Fortschritte bei der Überwindung der Rassenschranken. Aber zugleich erwies sich der Rassismus als ebenso hartnäckig wie die Strukturen der sozialen Benachteiligung. Und auch die Afroamerikaner mussten ihren Platz in der neuen multiethnischen Gesellschaft der USA finden.