14. Kapitel
In seinem Buch The Rise and Fall of the Neoliberal Order (dt. Aufstieg und Fall der neoliberalen Ordnung) beschreibt der Historiker Gary Gerstle die beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als Blütezeit des Glaubens an den freien Markt und die Selbstoptimierung des Individuums. Zwar deuteten die Kommentatoren Ronald Reagans(37) Wahlsieg im November 1980 als Triumph des Konservatismus, und Reagan sowie sein Nachfolger George H. W. Bush(9) beschworen allzeit die traditionellen Werte Amerikas, denen sie wieder Geltung verschaffen wollten. Hinsichtlich der ökonomischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen am Ende des Jahrhunderts kann jedoch, so das Urteil vieler Historiker, von einer konservativen Wende keine Rede sein. Ohnehin hatten sich die Vordenker des Neoliberalismus nie als Konservative verstanden und das Etikett nur zähneknirschend akzeptiert, weil der New Deal(36) den Begriff des Liberalismus gekapert hatte. Die »Reagan Revolution« war demnach keine konservative, sondern eine neoliberale, die big government zurückdrängen und die Marktkräfte entfesseln sollte. Die »neoviktorianischen Tugenden«, die Reagan(38) und die traditionellen Konservativen den Amerikanern predigten, sieht Gerstle als Gegengewichte zum Egoismus und zur Profitgier, die der Neoliberalismus mit sich brachte. Der rhetorische Tribut an Religion und Familienwerte änderte indessen wenig daran, dass die wirtschaftliche Grundlage für die traditionellen Geschlechterrollen erodierte, weil ein einziges Einkommen oft nicht mehr für die ganze Familie reichte, und dass die Liberalisierung und Individualisierung der Gesellschaft wie auch die Rights Revolution weitergingen.[1]
In der Außenpolitik hatte sich Reagan(39) die Wiederherstellung der militärischen Überlegenheit Amerikas über die Sowjetunion(22) auf die Fahnen geschrieben. Die globale Eindämmung und die Blockkonfrontation erlebten zunächst eine Renaissance, doch zeigte sich der Falke Reagan erstaunlich flexibel, als ihm der neue Kurs des Kremls unter Michail Gorbatschow(1) die Gelegenheit zu umfassenden Abrüstungsvereinbarungen bot. Sein Nachfolger George Bush(10) moderierte dann in meisterlicher Weise das Ende des Kalten Krieges und vertrieb anschließend mit Unterstützung einer breiten internationalen Koalition den irakischen(3) Diktator Saddam Hussein(1) aus Kuwait. Allerdings verhinderten die diplomatischen und militärischen Triumphe Bushs nicht, dass ihn die Wähler 1992 für eine Rezession abstraften.[2] Mit der Präsidentschaft des Demokraten Bill Clinton(19) vollzog sich anschließend ein Generationen-, aber kein grundlegender Politikwechsel. Vielmehr erlebten der Neoliberalismus und die Globalisierung während Clintons achtjähriger Amtszeit ihre kurze Glanzzeit. Für ihre konservativen Verächter verkörperten Bill und Hillary Clinton(10) zwar die verhasste Kulturrevolution der Sixties, aber in Wirklichkeit regierte Clinton als Zentrist, der sich nicht scheute, populäre Forderungen der Republikaner zu übernehmen. Gerstle apostrophiert ihn als den »demokratischen Eisenhower(12)«, denn so wie der republikanische Präsident in den 1950ern die Grundlagen des New Deal(37) akzeptiert hatte, habe der Demokrat Clinton(20) die neoliberale Ordnung nicht in Frage gestellt.[3]
Gleichwohl etablierte sich kein dauerhafter neuer Konsens, obwohl mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks das amerikanische Modell des liberal-demokratischen Kapitalismus scheinbar endgültig triumphierte. Paradoxerweise beschleunigte das Ende des Kalten Krieges sogar die Polarisierung, denn mit dem Ende der sowjetischen(23) Bedrohung und der ideologischen Herausforderung durch den Kommunismus entfiel ein wichtiges Motiv für die überparteiliche Kooperation, die Amerikas Politik in den Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts ausgezeichnet hatte. Zum einen sank aufseiten von Corporate America die Bereitschaft zum Klassenkompromiss, zum anderen regten sich auf der Rechten wieder die alten isolationistischen Reflexe. Und obschon der Boom der US-Wirtschaft dies lange verdeckte, ließen die Öffnung der Märkte, die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland und der Zustrom von immer mehr Zuwanderern das Potenzial für eine Revolte der Globalisierungsverlierer entstehen, das in der Rückschau besonders mit Blick auf die Entwicklung der Republikanischen Partei deutlich erkennbar wird.[4]
Als US-Präsident Ronald Reagan(40) sich am 11. Januar 1989 in einer Fernsehansprache aus dem Amt verabschiedete, erklärte er selbstbewusst, dass Amerika unter seiner Führung zu alter Stärke und Selbstvertrauen zurückgefunden habe und wieder als Weltmacht respektiert werde. Mit leisem Spott erinnerte der scheidende Präsident daran, wie seine Kritiker im Wahlkampf 1980 davor gewarnt hatten, sein Programm der Deregulierung werde zum Zusammenbruch der Wirtschaft und seine außenpolitischen Vorstellungen zum Atomkrieg führen. Stattdessen habe seine Administration die Inflation eingedämmt, 19 Millionen neue Jobs geschaffen und die Beziehungen zur Sowjetunion(24) auf eine neue Grundlage gestellt. Die USA, so Reagans(41) Bilanz, seien am Ende seiner Präsidentschaft »prosperierender, sicherer und glücklicher als vor acht Jahren«.[5]
Dass Reagans(42) Amtszeit mit einer schweren Rezession begonnen und die New Yorker Aktienbörse im Oktober 1987 den tiefsten Absturz seit 1929 erlitten hatte, trübte zu diesem Zeitpunkt kaum noch das Bild einer Präsidentschaft, die in politischer Hinsicht die erfolgreichste seit Jahrzehnten war. Die Wähler hatten ihr Urteil bereits 1984 gefällt, als sie den Amtsinhaber mit knapp 59 Prozent der Stimmen und Mehrheiten in 49 Bundesstaaten triumphal bestätigten. Seit Dwight D. Eisenhower(13) hatte kein US-Präsident mehr zwei volle Amtszeiten absolviert, und dass die Amerikaner im November 1988 auch seinen Vizepräsidenten George H. W. Bush(11) ins Weiße Haus wählten, darf getrost als Reagans dritter Wahlerfolg gewertet werden. Die Einschätzung des Historikers Sean Wilentz, Reagan(43) sei die »bedeutendste politische Gestalt unseres Zeitalters« gewesen, ist in der amerikanischen Zeitgeschichtsschreibung inzwischen weithin Konsens, auch wenn die meisten Historiker Reagan eher kritisch gegenüberstehen. In der Bevölkerung gilt er sogar als einer der größten Präsidenten überhaupt, und von Konservativen wird Reagan posthum wie ein Heiliger verehrt.[6]
Wer das Reagan(44)-Phänomen verstehen will, muss sich vom Klischee des zweitklassigen Hollywood-Mimen lösen, der die Rolle des US-Präsidenten lediglich spielte. Vielmehr verkörperte »der große Kommunikator«, wie Reagan halb spöttisch, halb bewundernd genannt wurde, die Tugenden, die von einem amerikanischen Präsidenten erwartet werden: Führungsstärke, Optimismus und die Fähigkeit zur direkten Zwiesprache mit der Nation. Als ihn im März 1981 ein geistesgestörter Attentäter lebensgefährlich verletzte, zeigte der Siebzigjährige eine Vitalität und Gelassenheit, die der Öffentlichkeit ungeteilte Bewunderung abnötigten. Seine Popularität war durch keine Krise und keinen Skandal ernsthaft zu erschüttern. In der sogenannten Iran-Contra-Affäre, die ab Herbst 1986 Reagans(45) zweite Amtszeit überschattete, gelang es dem Weißen Haus, den Präsidenten durch »plausible Dementis« weitgehend abzuschirmen. Tatsächlich hatte Reagan die geheimen Waffengeschäfte mit dem Iran(9) persönlich genehmigt, mit denen die Administration Teherans Unterstützung für die Freilassung amerikanischer Geiseln, die von radikalen Schiiten im Libanon gefangen gehalten wurden, erwirken wollte. Davon, dass die Erlöse aus den Deals für illegale Waffenlieferungen an die Contras genannten antikommunistischen(23) Rebellen in Nicaragua verwendet wurden, hatte Reagan wohl keine Kenntnis. Sowohl die Medien als auch der Kongress behandelten ihn auffallend schonend; offenkundig wollte sich die US-Öffentlichkeit eine Wiederholung der Watergate-Krise(35) ersparen. Obwohl seine Zustimmungswerte zeitweilig abstürzten, blieb Reagan(46) der »Teflon«-Präsident, wie ihn seine Kritiker entnervt tauften, weil alle Vorwürfe an ihm abprallten.[7]
Umfragen ergaben, dass die Mehrheit der Amerikaner, auch wenn sie Reagans(47) konkrete Politik ablehnten, ihm gleichwohl ihr Vertrauen schenkte. Ausgerechnet der Präsident, der die Staatsskepsis zum Programm erhoben hatte, ließ auch das Vertrauen in den Staat und in die Institution der Präsidentschaft zumindest zeitweilig wieder ansteigen. Die breite Unterstützung für Reagan resultierte allerdings nicht daraus, dass sich die große Mehrheit der Amerikaner zu dessen ideologischen Prinzipien bekehrt hätte, sondern aus der Kombination von politischen Erfolgen und persönlichem Charisma. Als Reagan ins Weiße Haus einzog, galt er seinen Gegnern als Polarisierer, doch schon am Ende seiner ersten Amtszeit war, wie es ein Historiker treffend formuliert, aus dem »herzlosen Kriegstreiber« eine »nationale Vaterfigur« geworden.[8]
Als Präsident legte Reagan(48) das Image des konservativen Ideologen ab und regierte vornehmlich als Pragmatiker. Dies lag zum einen an den Mehrheitsverhältnissen im Kongress, denn Reagan konnte nie mit einer republikanischen Mehrheit in beiden Häusern regieren, auch wenn die GOP zwischen 1981 und 1987 immerhin den Senat kontrollierte. Zum anderen entsprach Pragmatismus seinem Charakter und seinen politischen Erfahrungen, denn dass Politik ohne Kompromisse nicht funktionierte, hatte er bereits als Funktionär der Schauspielergewerkschaft(16) in Hollywood und als Gouverneur von Kalifornien gelernt, wo er ebenfalls die meiste Zeit mit einer demokratischen Mehrheit in der Legislative zurechtkommen musste. Reagan(49) kannte die Grenzen, über die hinaus ihm die Wähler nicht mehr folgen würden, sehr genau. Der Kampf gegen big government mochte ihm Herzenssache sein, aber die populären Sozialprogramme des New Deal(38) und der Great Society, insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung und die Krankenversicherung für Senioren, tastete er nicht an. Auch die Bundesausgaben und die Zahl der Bundesbediensteten stiegen zwischen 1981 und 1988 weiter. Neoliberalen und Libertären war die Reagan-Revolution deshalb nicht radikal genug, und militante Antikommunisten(24) blickten anfangs mit Argwohn auf die Bereitschaft des Präsidenten zu Abrüstungsverhandlungen mit Moskau. Für die Religiöse Rechte(18) entpuppte sich seine Präsidentschaft als Enttäuschung, denn Reagan(50) gab sich zwar als Traditionalist, war aber kein Kulturkämpfer. Ein ihm wohlgesinnter Historiker sieht seine Amtszeit gar als Dekade der »großen Versöhnung zwischen dem Reaganschen Konservatismus und dem Liberalismus der Sixties«. Bei seinem Tod im Juni 2004 erkannten auch ehemalige Gegner an, dass er es verstanden hatte, der Nation nach der »Malaise« der 1970er-Jahre den Glauben an sich selbst zurückzugeben.[9]
Doch längst nicht alle ehemaligen Kritiker wollten sich mit Reagan(51) aussöhnen. Für viele Linke und Liberale blieb er der Feind der Armen, denen er die Sozialhilfe kürzte, während er den Reichen Steuergeschenke machte; dessen Administration Tomatenketchup zu Gemüse erklärte, um bei der Schulspeisung Geld zu sparen; der Präsident, der alleinerziehende Mütter als welfare queens denunzierte, immer wieder versteckte rassistische Botschaften aussandte und die Errungenschaften der Bürgerrechtsära zurückzudrehen versuchte. Reagan hatte weniger Staat versprochen, doch die Deregulierung der Börsen und des Finanzsektors ließen Spekulationsblasen entstehen, nach deren Platzen die Steuerzahler Amerikas Sparkassen mit vielen Milliarden Dollar retten mussten. Seine Steuersenkungen und das gigantische Aufrüstungsprogramm rissen riesige Lücken in den Bundeshaushalt und führten dazu, dass sich das Haushaltsdefizit des Bundes zwischen 1981 und 1986 inflationsbereinigt mehr als verdoppelte. Auch den amerikanischen Triumph im Kalten Krieg mochten Reagans(52) Kritiker ihm nicht gönnen. Mit seiner Hyperrüstung, seinen Plänen zur Militarisierung des Weltraums und seiner provokanten Rhetorik von der Sowjetunion(25) als dem »Reich des Bösen« habe er den Kalten Krieg noch einmal unnötig verschärft und verlängert, bevor Sowjetführer Gorbatschow(2) dann mit seinen kühnen Reformen und Abrüstungsvorschlägen die historische Initiative ergriff, der sich auch die Falken in Washington nicht entziehen konnten.[10]
Obwohl die Ära Reagan(53) weniger konservativ als neoliberal geprägt war, markiert sie die politische Klimax des amerikanischen Konservatismus. Mit dem großen Kommunikator an der Spitze wähnten sich die verschiedenen Flügel der Bewegung am Ziel. Endlich gewannen sie Wahlen und bestimmten die politischen Themen und Diskurse. Das Etikett »liberal« wurde weithin zum Schimpfwort, das auch demokratische Kandidaten mieden. Zudem deutete einiges darauf hin, dass die Republikaner im Zuge der Reagan-Revolution wieder längerfristig zur Mehrheitspartei geworden waren. Drei aufeinanderfolgende Siege bei Präsidentschaftswahlen hatte die GOP zuletzt zwischen 1920 und 1932 errungen. Und dass die Partei sechs Jahre hintereinander den Senat kontrolliert hatte, lag ebenfalls bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Auch wenn die Demokraten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus weiter behaupteten, mangelte es der Opposition an einer zugkräftigen Integrationsfigur. Die Präsidentschaftskandidaten von 1984 und 1988, Ex-Vizepräsident Walter Mondale(1) bzw. der Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis(2), konnten weder die Parteibasis mobilisieren, noch die »Reagan(54)-Demokraten« zurückgewinnen. Zwischen den Bannerträgern des New-Deal-Liberalismus(39) wie Thomas O’Neill(2) und Edward Kennedy(4) und einer jungen Garde von »Neuen Demokraten«, darunter Gouverneur Bill Clinton(21) aus Arkansas und Senator Albert Gore Jr.(1) aus Tennessee, herrschte Uneinigkeit darüber, ob und wie weit man sich dem neoliberalen Zeitgeist öffnen sollte. Dass viele der New Democrats aus dem Süden kamen, war kein Zufall, denn der einstmals demokratische Solid South hatte sich inzwischen zur GOP-Bastion gemausert, wo die Demokraten nur noch in Wahlbezirken mit hohem afroamerikanischen Wähleranteil ernsthaft konkurrieren konnten. Unter weißen Südstaatlern war Ronald Reagan(55) der populärste Präsident seit Franklin D. Roosevelt(9), und immer mehr von ihnen stimmten nun auch bei Wahlen zum Senat und zum Repräsentantenhaus für die republikanischen Kandidaten.[11]
Ronald Reagan(56) war immer davon überzeugt, dass Amerika den Kalten Krieg gewinnen werde, weil es das überlegene Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell und die überlegene Werteordnung repräsentierte. Als der US-Präsident am 12. Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor an Kreml-Chef Gorbatschow(3) appellierte, die Berliner Mauer einzureißen, taten viele Kommentatoren seine Worte noch als hohles Pathos ab. Doch nachdem drei Jahre später die Mauer tatsächlich gefallen war, erschien Reagan als Visionär, dessen Überzeugung von der Überlegenheit der Freiheit über die Diktatur sich eindrucksvoll bewahrheitet hatte. Reagans Nachfolger George H. W. Bush(12) und Generalsekretär Gorbatschow(4) erklärten den Kalten Krieg für beendet, und im September 1990 proklamierte der US-Präsident gar eine »neue Weltordnung […], in der die Herrschaft des Rechts an die Stelle des Gesetzes des Dschungels treten« werde.[12]
Das Ende des Kalten Krieges blieb nicht der einzige außenpolitische Erfolg der Bush-Administration. Bushs(13) Rede zur neuen Weltordnung war Teil seiner diplomatischen Anstrengungen, eine internationale Koalition gegen den irakischen(4) Diktator Saddam Hussein(2) zu schmieden, der im August 1990 das benachbarte Scheichtum Kuwait militärisch besetzt und annektiert hatte. Kritiker innerhalb und außerhalb der USA sahen in der »neuen Weltordnung« die ideologische Verbrämung amerikanischer Ölinteressen im Mittleren Osten und wiesen darauf hin, dass Washington den Irak im Krieg gegen den Iran(10) (1980–1988) noch großzügig mit Waffen und Geheimdienstinformationen unterstützt hatte. Gleichwohl gelang es dem US-Präsidenten, die Sowjetunion(26) und die meisten arabischen Staaten in die Anti-Saddam(3)-Front einzubinden und ein Mandat des UN-Sicherheitsrates für die militärische Befreiung Kuwaits zu erwirken. Die Operation »Wüstensturm« Anfang 1991 endete mit einem militärischen Triumph. Der Bodenkrieg Ende Februar dauerte vier Tage und kostete lediglich etwa 150 US-Soldaten das Leben. Anstatt den Amerikanern die angekündigte »Mutter aller Schlachten« zu liefern, bot Saddam ihnen die Chance, das »Vietnam-Syndrom« zu überwinden. Das US-Militär stellte eindrucksvoll seine technologische Überlegenheit und Schlagkraft unter Beweis, aber die US-Diplomatie bewies Augenmaß und verzichtete auf einen Durchmarsch nach Bagdad, für den es kein UN-Mandat gab. Die USA, so ließ sich Bushs Botschaft an die Welt verstehen, sahen sich als Garanten der »neuen Weltordnung« und hielten sich dabei an die eigenen Prinzipien. Zu Beginn der 1990er-Jahre durfte sich Amerika unwidersprochen die »einzig verbliebene Supermacht« nennen.[13]
Würden die Amerikaner ihre Wahlentscheidung vor allem an der Außenpolitik ausrichten, wäre die Wiederwahl George H. W. Bushs(14) reine Formsache gewesen. Doch Bushs internationales Prestige ließ die Wähler kalt, was zählte war »the economy, stupid«, wie der Slogan lautete, den Bill Clintons(22) Wahlkampfleiter James Carville(1) auf ein Plakat malte, das er im Hauptquartier der Demokraten an die Wand hängte. Im November 1992 votierten nur magere 37,5 Prozent für den amtierenden Präsidenten, der im Wahlkollegium seinem demokratischen Herausforderer Bill Clinton deutlich mit 168 zu 370 Stimmen unterlag. Bush erhielt die Quittung für eine scharfe Rezession der US-Wirtschaft in den Jahren 1990/91, obwohl die im Herbst 1992 längst wieder auf Wachstumskurs war. Zudem hatte das von seinem Vorgänger ererbte Haushaltsdefizit den Präsidenten zum Bruch seines Versprechens gezwungen, auf keinen Fall die Steuern zu erhöhen. Dem großen Kommunikator hätten die Wähler vielleicht verziehen, aber Bush(15) gingen der Charme und die Volksnähe seines Vorgängers völlig ab. Der aus Neuengland stammende Patrizier verkörperte das elitäre Business-Establishment der Republikanischen Partei und kam weder bei den »Reagan-Demokraten« aus der weißen Arbeiterklasse noch bei der Religiösen Rechten(19) gut an. Viele Konservative sahen ihn gar als Verräter an der Reagan(57)-Revolution.[14]
Der Wahlausgang 1992 war freilich nicht allein auf die Schwächen des republikanischen Kandidaten zurückzuführen, sondern lässt in der Rückschau erkennen, dass es unter der Oberfläche des amerikanischen Parteiensystems brodelte. Ein signifikanter Teil der Wählerschaft, so die Historikerin Nicole Hemmer, »hungerte nach Protest«. Der sichtbarste Ausdruck dafür war die überraschend erfolgreiche Kandidatur des texanischen Milliardärs Ross Perot(1), der mit fast zwanzig Millionen Stimmen 19 Prozent der Wähler hinter sich bringen konnte und damit das beste Wahlergebnis eines unabhängigen Präsidentschaftskandidaten seit 1912 erzielte. Da Perot laut Umfragen überwiegend republikanische Wähler ansprach, schwächte er Bush(16) so empfindlich, dass Bill Clinton(23) 43 Prozent der Stimmen für einen ungefährdeten Wahlsieg ausreichten. Der Texaner baute seine Kampagne vor allem auf die Opposition gegen das von der Bush-Administration ausgehandelte Nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko (NAFTA)(1), das, so Perot, in einem »gigantischen Sog« Arbeitsplätze aus den USA nach Mexiko abziehen werde. Die Pflicht der US-Regierung sei es nicht, überall auf der Welt die Demokratie zu verbreiten – der Texaner hatte zu den Gegnern des Irakkriegs(5) gehört –, sondern dafür zu sorgen, dass zuhause gute Arbeitsplätze entstanden und die amerikanische Industrie vor unfairem Wettbewerb aus Asien und Europa geschützt wurde. Perots Kandidatur war die erste sichtbare populistische Protestwelle gegen Neoliberalismus und Globalisierung.[15]
Im Rückblick liegt es nahe, in Perot(2) einen Vorläufer Donald Trumps(36) zu sehen, und zwar nicht nur, weil dieser 1999 versuchte, die Reste der Perot-Organisation als Sprungbrett für eine Präsidentschaftskandidatur zu nutzen. Wie später Trump posierte der Milliardär als zupackender Unternehmer und politischer Außenseiter, der mit dem korrupten System der etablierten Parteien und Eliten aufräumen und dem Volkswillen wieder Geltung verschaffen würde. Er bekannte sich zum Protektionismus und beklagte, dass Amerikas weltweite Militärbündnisse Zuschussgeschäfte seien, von denen nur die Verbündeten profitierten. Perot war ein authentischer Vertreter der amerikanischen populistischen Tradition, aber im Unterschied zu Trump(37) enthielt er sich rassistischer Hetze gegen Immigranten, auch wenn er für Einwanderungsbeschränkungen eintrat. Und er biederte sich nicht bei der Religiösen Rechten(20) an, sondern befürwortete ausdrücklich ein Recht auf Abtreibung(31) ebenso wie die Entkriminalisierung der Homosexualität(26).[16]
Perots(3) Distanz zum traditionellen Konservatismus unterschied ihn auch von Pat Buchanan(9), der innerhalb der Republikanischen Partei das nationalpopulistische Banner schwenkte und George Bush(17) die Präsidentschaftskandidatur streitig zu machen versuchte. Zwar konnte er den Amtsinhaber nicht ernstlich gefährden, aber dass Buchanan die große Eröffnungsrede zum Nominierungsparteitag im August 1992 halten durfte, in der er dann den Kulturkrieg ausrief, war ein Zeichen für die wachsende Stärke des Rechtspopulismus und der Religiösen Rechten(21) in der GOP.[17] Die große Resonanz, die der Globalisierungskritiker und Isolationist Buchanan an der Parteibasis fand, legte darüber hinaus auch die Kosten und Nebenwirkungen der innen- und außenpolitischen Erfolge der Reagan(58)-Ära offen. Die Amerikaner mochten theoretisch an den freien Wettbewerb glauben, aber wenn der Freihandel ihre Arbeitsplätze bedrohte, verlangten sie Schutz vor ausländischer Konkurrenz. Und nach dem Untergang des Kommunismus und der Sowjetunion(27) sank die Bereitschaft zum internationalen Engagement rapide. Bushs(18) »neue Weltordnung« konnte den breiten überparteilichen Konsens des Kalten Krieges nicht ersetzen, sondern wurde im Gegenteil zum bevorzugten Hassobjekt von Nationalisten, Isolationisten und Verschwörungstheoretikern, die darin eine Bedrohung der amerikanischen Unabhängigkeit sahen.[18]
Auch bei den Demokraten blieben die hergebrachten Vorbehalte gegen den Freihandel stark, doch mit der Nominierung Bill Clintons(24) und Al Gores(2) setzte sich der Flügel durch, der eine Modernisierung der Partei für notwendig hielt. Die »Neuen Demokraten« wollten den Staat nicht abschaffen, ihn jedoch schlanker und effizienter machen. Eine tragende Rolle kam dabei der Revolution in der Computer- und Informationstechnologie zu, die nicht nur eine neue ökonomische Dynamik entfesseln, sondern auch die Autonomie und Kreativität des Einzelnen stärken sollte. Bürokratischer Paternalismus war in der Wissensgesellschaft nicht mehr vonnöten, der Staat musste aktivierend wirken, damit möglichst viele Menschen die vielfältigen neuen Chancen nutzen konnten. Die New Democrats wurden international zu Trendsettern, denen die britische Labour Party unter Tony Blair(1) ebenso nacheiferte wie die SPD unter Gerhard Schröder(1). Ende der 1990er-Jahre prägte der britische Soziologe Anthony Giddens die Formel vom »Dritten Weg« zwischen sozialdemokratischem Etatismus und Neoliberalismus, auf dem das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung neu bestimmt werden sollte, ohne Demokratie und soziale Solidarität preiszugeben.[19]
Dass Clinton(25) am Ende seiner ersten Amtszeit verkündete, die Zeit des big government sei vorbei, war freilich weniger einem historischen Modernisierungsprojekt als den politischen Machtverhältnissen geschuldet. Denn der Präsident hatte beim Versuch, sein zentrales Wahlversprechen zu erfüllen und allen Amerikanerinnen und Amerikanern einen gesetzlichen Anspruch auf eine Krankenversicherung zu garantieren, gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein Desaster erlebt. Seine komplizierten Reformpläne waren in der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln und provozierten die geballte Opposition der Pharmaindustrie, der Ärzteverbände und der privaten Krankenversicherungen, die suggerierten, künftig dürften Patienten nur noch mit vorheriger Genehmigung eines Regierungsbürokraten einen Arzt aufsuchen. Auch die eigene Partei ließ Clintons Gesundheitsreform schließlich fallen, deren Scheitern zur verheerenden Niederlage der Demokraten bei den Zwischenwahlen 1994 beitrug, als die Republikaner 54 Sitze im Repräsentantenhaus und acht im Senat hinzugewannen und damit erstmals seit vierzig Jahren über Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses verfügten.[20]
Die sogenannte »Republikanische Revolution« verdankte sich allerdings nicht allein Clintons(26) Fehlern, sondern beruhte auf einer gezielten Polarisierungsstrategie der Republikaner, deren Architekt Newt Gingrich(3), der neue Sprecher des Repräsentantenhauses, war. In den 1970er-Jahren hatte der an einem College in Georgia lehrende Historiker zu den ersten Republikanern gehört, die Kongressmandate im demokratischen Solid South erobern konnten, und er zählte zu den jungen Hardlinern in der Partei, die auf Konfrontation statt auf Überparteilichkeit setzten. Im Wahlkampf 1994 gelang es Gingrich, seit 1989 »Einpeitscher« der Fraktion, alle republikanischen Kandidaten erstmals auf ein einheitliches nationales Wahlprogramm festzulegen. Der publikumswirksame »Vertrag mit Amerika« enthielt unter anderem das Versprechen, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt in der Verfassung zu verankern, die Steuern für kleine Unternehmen und Familien zu senken, die Rentenversicherung und die Sozialhilfe zu reformieren und die Amtszeit von Abgeordneten und Senatoren zu begrenzen, vermied aber kontroverse sozialmoralische Themen wie Schulgebet oder Abtreibung(32). Als Sprecher des Repräsentantenhauses ging der eitle und ehrgeizige Gingrich(4) auf Kollisionskurs zum Präsidenten und ließ im Winter 1995/96 mehrfach die Budgetverhandlungen platzen, sodass die nicht lebenswichtigen Einrichtungen der Bundesregierung für insgesamt vier Wochen schließen mussten. Damit überspannte er allerdings den Bogen, denn Amerikas Wähler lieben zwar Tiraden gegen das big government, goutieren es aber weit weniger, wenn die Behörden tatsächlich ihre Tätigkeit einstellen müssen. Gingrichs Machtspiele gaben dem Präsidenten die Chance, sich als Stimme der Vernunft und überparteilichen Zusammenarbeit neu zu erfinden, indem er populäre republikanische Forderungen in abgeschwächten Varianten übernahm und, wie im Fall der Sozialhilfereform von 1996, auch gegen den Widerstand in der eigenen Partei durchsetzte. Zwei Jahre nachdem ihn Freund und Feind politisch abgeschrieben hatten, feierte der als begnadeter Wahlkämpfer und »Comeback Kid« bekannte Clinton(27) einen ungefährdeten Wahlsieg über den dreiundsiebzigjährigen republikanischen Senator Robert Dole(3), begünstigt von einer boomenden Wirtschaft und der erneuten Kandidatur Ross Perots(4). Gingrich konnte zwar die Mehrheit im Kongress behaupten, aber sein Stern begann zu sinken, weil ihm, der gerne den Saubermann gab, finanzielle Unregelmäßigkeiten und sexuelle Eskapaden vorgeworfen wurden. Als die Republikaner bei den Zwischenwahlen 1998 Kongressmandate einbüßten, kam es zu einer Revolte gegen den Sprecher, der schließlich sogar seinen Sitz aufgab. Gingrichs(5) unrühmlicher Abgang darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er tiefe Spuren in der amerikanischen Politik hinterlassen hat. Seine Republikanische Revolution trug erheblich zur ideologischen Radikalisierung der Grand Old Party bei, in der für Liberale und Gemäßigte immer weniger Platz war.[21]
Betrachtet man die politischen Projekte und Gesetze, die während der Präsidentschaft Bill Clintons(28) verwirklicht wurden, könnte der Eindruck entstehen, die 1990er-Jahre seien eine Zeit des Konsenses und der Überparteilichkeit gewesen. Der »demokratische Eisenhower« setzte gemeinsam mit den Republikanern und gegen den New-Deal-Flügel(40) seiner eigenen Partei mehr neoliberale Politik durch als Ronald Reagan(59). Dazu gehören die Ratifizierung von NAFTA(2) und eine welfare reform, die Sozialleistungen an den Nachweis der Arbeitssuche band sowie die Höhe und Dauer der Ansprüche drastisch beschnitt. Weitere Deregulierungen, etwa in der Telekommunikation, begünstigten die Fusion großer Unternehmen. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der US-Finanzindustrie zu stärken, hob der Kongress 1999 die seit der Großen Depression vorgeschriebene Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken auf und gestattete allen Geldinstituten, auch im Investmentbereich tätig zu werden. Der maßgeblich von der IT-Revolution getragene Boom der US-Wirtschaft ließ die Arbeitslosenzahlen und die Armutsquote sinken und bescherte der Bundesregierung ab 1998 satte Haushaltsüberschüsse; in Clintons(29) letztem Amtsjahr stand das Budget mit 236 Milliarden Dollar im Plus. Auch die Anhänger von Law-and-Order hatten Grund zur Zufriedenheit. Ein Bundesgesetz zur Kriminalitätsbekämpfung bewilligte über zehn Milliarden Dollar für mehr Polizei und Gefängnisse und weitete die Todesstrafe nach Bundesrecht aus. Zudem unterschrieb Clinton 1996 den Defense of Marriage Act, der ausdrücklich die gleichgeschlechtliche(27) Ehe ausschloss.[22]
Warum blieb Bill Clinton(30) dennoch die Hassfigur der republikanischen Rechten und darüber hinaus vieler konservativer Amerikaner? Eine wichtige Rolle spielte die tiefe Frustration über die steckengebliebene Reagan-Revolution, die weder den Interventionsstaat überwunden noch die gesellschaftliche Liberalisierung gestoppt hatte. Nach Reagans(60) Abgang zeigte sich zudem, dass es für den »großen Kommunikator« keinen Ersatz gab und es dem Konservatismus an einer populären Integrationsfigur fehlte. Der Babyboomer(8) Clinton(31), der im Wahlkampf 1992 als Saxofonspieler mit Sonnenbrille auftrat, stand für die gesellschaftspolitisch moderne Variante des Neoliberalismus, die weitaus besser zum »coolen« Lebensgefühl der »Roaring Nineties« passte als der konservative Mix aus Kapitalismus und Gottesfurcht. So präsentierte sich das Ehepaar Bill und Hillary(11) Clinton als Team, für das sexuelle Treue nicht so wichtig erschien wie die eigenständige politische Rolle, die der Präsident seiner Frau bereitwillig zugestand, als er ihr kurz nach Amtsantritt die Ausarbeitung der Gesundheitsreform übertrug. Für Amerikas Feministinnen(25) wurde Hillary Clinton zur Kultfigur, auf die rechten Kulturkrieger dagegen wirkten die Clintons wie ein Aufputschmittel, denn sie lieferten ihnen ein ideales Feindbild und die Affären, die den Republikanern Gelegenheit boten, sich für das Impeachment gegen Richard Nixon(108) und die Iran(11)-Contra-Untersuchungen gegen Ronald Reagan(61) zu revanchieren.[23]
Seit dem Präsidentschaftswahlkampf 1992 suchten Heerscharen von Reportern nach skandalfähigem Material, das sich gegen die Clintons(32)(12) verwenden ließ. So sollte Bill Clinton in den 1980ern bei einem unter dem Namen Whitewater firmierenden Immobiliengeschäft in Arkansas seine Stellung als Gouverneur missbraucht haben, um günstige Kredite für Strohmänner zu erwirken. Paula Jones(1), eine Bedienstete des Staates Arkansas, bezichtigte den als Schürzenjäger verschrienen Clinton, sie sexuell belästigt zu haben. Und als im Juli 1993 Vincent Foster(1), ein enger Freund und Berater Bill Clintons, Selbstmord verübte, streuten Clinton-Feinde das Gerücht, der Präsident habe einen Mitwisser seiner kriminellen Machenschaften beseitigen lassen. Da auch die Mainstream-Medien umfassend über alle Vorwürfe berichteten, gerieten die Strafverfolgungsbehörden und das Justizministerium unter Druck, Untersuchungen einzuleiten und einen Sonderermittler einzusetzen. So entstand der Eindruck eines Sumpfes von Verbrechen und Korruption, obwohl die Anschuldigungen gegen Clinton in keinem Fall belegt werden konnten. Nicht weniger als fünf Untersuchungsberichte kamen zwischen 1993 und 1997 zu dem Schluss, dass an Vince Fosters Selbstmord kein Zweifel bestehe, aber dies hinderte weder Gingrich(6) noch den Radiodemagogen Rush Limbaugh(5) daran, die Clintons(33)(13) mehr oder weniger unverhohlen der Anstiftung zum Mord zu bezichtigen. Auch wenn die angeblichen Clinton-Skandale vor allem die radikale Basis der Republikaner elektrisierten und die Mehrheit der Amerikaner sie als parteipolitische Schmutzkampagnen abtat, beanspruchten sie einen wesentlichen Teil der präsidialen Aufmerksamkeit und verschlangen Unsummen an privat aufzubringenden Anwaltskosten.[24]
Schon während Clintons(34) erster Amtszeit forderten radikale Republikaner ein Amtsenthebungsverfahren, aber selbst Newt Gingrich(7) hielt diese Strategie für zu riskant. Nach Clintons Wiederwahl gab es freilich keine Alternative mehr, wenn man den verhassten Präsidenten vorzeitig zu Fall zu bringen wollte. Da die Republikaner die Ausschüsse im Kongress kontrollierten, hielten sie alle verfahrenstechnischen Fäden in der Hand. Was fehlte, war eine Anklage, die zumindest ein Teil der Demokraten im Kongress mittragen würde. Im Mittelpunkt der Affäre, die Ende 1998 zur Amtsanklage gegen den Präsidenten führte, stand Monica Lewinsky(1), eine junge Praktikantin im Weißen Haus, zu der Clinton seit November 1995 eine sexuelle Beziehung unterhalten hatte. Die Praktikantin hatte einer Kollegin von ihren erotischen Zusammenkünften mit dem Staatsoberhaupt erzählt. Die Kollegin berichtete anschließend Journalisten und den Anwälten von Paula Jones(2), die den Präsidenten inzwischen wegen sexueller Belästigung verklagt hatte, über die Affäre. Jones’ Anwälte ließen Lewinsky vorladen, um zu belegen, dass Clinton routinemäßig sexuelle Gefälligkeiten von Mitarbeiterinnen einforderte. Zunächst stritten der Präsident und Lewinsky die Beziehung ab und gaben entsprechende eidesstattliche Erklärungen ab. Lewinskys(2) Kollegin übermittelte daraufhin das von ihr gesammelte Belastungsmaterial an den Sonderermittler Kenneth Starr(1), der seit 1994 den Whitewater-Komplex untersuchte. Starr, ein konservativer Republikaner, erweiterte mit Billigung der Justizministerin seine Ermittlungen gegen Clinton um den Verdacht auf Meineid und Behinderung der Justiz und bot Lewinsky Straffreiheit an, wenn sie gegen den Präsidenten aussagte. Nachdem die ersten Medienberichte erschienen waren, dementierte dieser mehrfach, eine »sexuelle Beziehung mit dieser Frau, Ms. Lewinsky«, gehabt zu haben. In den folgenden zwölf Monaten verfolgte die amerikanische Öffentlichkeit mit wachsender Fassungslosigkeit ein Spektakel, das immer mehr zur voyeuristischen Schlammschlacht eskalierte. Im August 1998 gestand Clinton(35) schließlich ein, er habe eine »unangemessene Beziehung« mit Lewinsky(3) gehabt, aber Starr(2) ließ es sich nicht nehmen, in seinem einen Monat später veröffentlichten Bericht die sexuellen Vorlieben des Präsidenten detailliert auszubreiten. Mitte Dezember klagte das Repräsentantenhaus den Präsidenten mit den Stimmen der republikanischen Mehrheit wegen Meineids und Behinderung der Justiz an. Bei der Abstimmung im Senat am 12. Februar 1999 verfehlte die Anklage die erforderliche Zweidrittelmehrheit jedoch deutlich, denn alle Demokraten und immerhin zehn Republikaner stimmten gegen eine Amtsenthebung.[25]
Clinton(36) profitierte davon, dass das Impeachment bei der großen Mehrheit der US-Bevölkerung äußerst unpopulär war, die sich von der Politpornografie des Sonderermittlers abgestoßen fühlte. Der Präsident mochte sich strafbar gemacht haben, aber eine Lüge zum Schutz seiner Intimsphäre erschien den meisten Amerikanern nicht als Staatsverbrechen. Tatsächlich gingen Clintons Zustimmungswerte sogar in die Höhe, und bei den Zwischenwahlen im November erzielten die Demokraten überraschend leichte Zugewinne. In Clintons Partei fanden sich kaum Abweichler, die bereit waren, zusammen mit Newt Gingrich(8) einen wirtschaftlich erfolgreichen Präsidenten zu stürzen. Für den Sprecher des Repräsentantenhauses entpuppte sich das Impeachment als grandioses Fehlkalkül, denn nach der unerwarteten Wahlniederlage zwang ihn seine Fraktion zum Rücktritt.[26]
Clinton(37) überstand den Lewinsky(4)-Skandal auch deshalb, weil ihn seine Gattin nicht fallen ließ. Für Hillary Clinton(14) stand fest, dass ihr Mann das Opfer einer »riesigen rechten Verschwörung« war. Dass seine Feinde nichts unversucht ließen, um ihn zur Strecke zu bringen, war allgemein bekannt. Umso unfassbarer wirkte der Leichtsinn des hochintelligenten Mannes, sich mit einer Praktikantin einzulassen. Auch die Empörung vieler Clinton-Anhänger über den mangelnden Respekt vor der Intimsphäre des Präsidenten war unaufrichtig, denn die Demokraten operierten ebenso bedenkenlos mit angeblichen sexuellen Verfehlungen, wenn es opportun erschien. Als Präsident Bush(19) 1991 den konservativen afroamerikanischen Juristen Clarence Thomas(2) für den Supreme Court(38) nominierte und dessen ehemalige Mitarbeiterin Anita Hill(1) den Kandidaten wegen lange zurückliegender sexueller Anzüglichkeiten beschuldigte, sah sich Thomas bei den Anhörungen im Senat einer hochnotpeinlichen Inquisition über sein Intimleben ausgesetzt. Damals hatten Amerikas Feministinnen(26) die schwarze Juraprofessorin Anita Hill zur Ikone im Kampf gegen sexuelle Belästigung stilisiert. Als die weiße Südstaatlerin Paula Jones(3) Bill Clinton(38) vorwarf, sich vor ihr entblößt zu haben, galt sie in feministischen Kreisen als willfähriges Instrument der Rechten, während Hillary Clinton(15) dafür gefeiert wurde, dass sie ihrem Ehemann trotz allem zur Seite stand.[27]
»Monicagate« und das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton(39) erschienen insbesondere außerhalb der USA vielen Beobachtern als Farce, doch tatsächlich handelte es sich um Symptome der fortschreitenden Polarisierung. Die Republikaner gerieten immer mehr in den Bann ihrer radikalen Basis und der medialen Scharfmacher am rechten Rand, die Konfrontation um jeden Preis wollten, weil sich damit permanent Aufmerksamkeit erzeugen und viel Geld verdienen ließ. Vor diesem Hintergrund bot sich das Impeachment, gedacht als ultima ratio, um einen Präsidenten wegen »schwerer Verbrechen und Vergehen« aus dem Amt entfernen zu können, als politische Waffe an, um zwischen den Wahlen einen Regierungswechsel zu erzwingen. Im Unterschied zu Misstrauensvoten und Koalitionswechseln in parlamentarischen Regierungssystemen, die zumeist sachlich oder machttaktisch motiviert sind, erfordert das Impeachment die Skandalisierung und Kriminalisierung des politischen Gegners. Seit dem Impeachment gegen Bill Clinton gehören Forderungen nach Amtsanklage gegen den amtierenden Präsidenten zumindest zum rhetorischen Standardrepertoire der Opposition. In einem polarisierten Parteiensystem sind die für eine Amtsenthebung erforderlichen qualifizierten Mehrheiten jedoch kaum zu erreichen, weil die Parteien die Reihen schließen. Richard Nixon(109) musste zurücktreten, weil sich höchstwahrscheinlich genug Republikaner den Demokraten angeschlossen hätten, um ihn abzusetzen. Bill Clinton(40) – so wie zwanzig Jahre später Donald Trump(38) – sah dazu keinen Grund, weil er sich auf seine Parteifreunde im Kongress verlassen konnte.[28]
Nach den Schlammschlachten während Clintons(41) zweiter Amtszeit war es den meisten Amerikanern vermutlich recht, dass der Präsidentschaftswahlkampf 2000 eher langweilig zu werden versprach. Bei den Demokraten setzte sich erwartungsgemäß Vizepräsident Al Gore(3) durch, bei den Republikanern machte der texanische Gouverneur George W. Bush(6), ein Sohn des Ex-Präsidenten(20), das Rennen. Im Unterschied zu seinem Vater genoss der junge Bush große Sympathien bei Evangelikalen(14), denn er gab sich als frommer Christ und »mitfühlender Konservativer«. Gore(4) war leicht favorisiert, er galt als kompetent, wirkte aber oft herablassend. Dass er sich ostentativ von Clinton(42) distanzierte, obwohl dieser am Ende seiner Amtszeit Zustimmungsraten von 75 Prozent hatte, erwies sich als Fehler. Noch schwerer wog, dass der Demokrat die Kandidatur des Verbraucherschützers und Umweltaktivisten Ralph Nader(1) nicht ernst genug nahm, weil er sich selbst als den führenden Umweltpolitiker der USA betrachtete. Nader, der für einen Zusammenschluss grüner Gruppierungen antrat, zielte darauf, dem voraussichtlichen Wahlsieger eine Lektion über die Stärke der ökologischen Bewegung zu erteilen und ihn zu einer konsequenteren Umweltpolitik zu zwingen. Ob Gore oder Bush(7) Präsident wurde, machte in den Augen vieler Umweltaktivisten ohnehin kaum einen Unterschied. Bei den Wahlen am 7. November 2000 votierten ca. 2,9 Millionen Wähler für Nader(2). Das waren viel weniger Stimmen, als Ross Perot(5) 1992 und 1996 erhalten hatte, reichte aber aus, um Gore(5) den Einzug ins Weiße Haus zu verbauen. Denn der Demokrat gewann zwar rund 550 000 Stimmen mehr als Bush, doch im Wahlkollegium lagen beide Kandidaten Kopf an Kopf.[29]
Alles hing vom Wahlausgang in Florida ab, wo es erst nach einer hauchdünnen Mehrheit für Bush(8) aussah. Doch im Laufe der Wahlnacht schmolz dessen Vorsprung immer weiter zusammen. Außerdem wurden nach und nach Probleme und Unregelmäßigkeiten bei der Abgabe und Auszählung der Stimmen gemeldet. Afroamerikaner klagten, sie seien grundlos von den Wahllisten gestrichen oder durch andere Schikanen an der Abstimmung gehindert worden. In einigen Wahlbezirken waren die Wahlmaschinen defekt, sodass auf vielen Wahlzetteln die Lochung nicht klar erkennbar war und diese für ungültig erklärt wurden. In Palm Beach County, einer demokratischen Hochburg, war der Wahlzettel so unübersichtlich, dass mutmaßlich tausende Gore-Wähler versehentlich für Pat Buchanan(10) stimmten, der für die ehemalige Perot(6)-Bewegung kandidierte. Da Bush nach der ersten Auszählung mit lediglich tausend Stimmen vorne lag – bei insgesamt sechs Millionen abgegebenen –, wurde vorschriftsmäßig eine maschinelle Nachzählung durchgeführt, nach der sein Vorsprung nur noch 300 Stimmen betrug. Gore(6) verlangte daraufhin eine händische Überprüfung in Wahlbezirken, in denen das Ergebnis besonders knapp war. Das Bush-Lager(9) wollte weitere Nachzählungen um jeden Preis verhindern und konnte dabei auf die Unterstützung der republikanischen Regierung des Staates Florida unter Gouverneur Jeb (John Ellis) Bush(1), dem jüngeren Bruder des Präsidentschaftskandidaten, zählen. Am 26. November erklärte Floridas Staatssekretärin Katherine Harris(1), die dort zuvor den republikanischen Wahlkampf organisiert hatte, George W. Bush mit 537 Stimmen Vorsprung offiziell zum Wahlsieger. Der Oberste Gerichtshof des Staates ordnete daraufhin eine Fortsetzung der Auszählungen an, wogegen die Republikaner vor dem US-Supreme Court(39) klagten. Dieser stoppte am 8. Dezember alle weiteren Zählungen und hob vier Tage später mit fünf zu vier Stimmen das Urteil aus Florida auf. Da das amtliche Wahlergebnis bis zum 12. Dezember vorliegen müsse, so die Urteilsbegründung, sei es unmöglich, einen einheitlichen Modus für eine Nachzählung in ganz Florida festzulegen. Wenn nur in einigen Bezirken neu gezählt werde, sei dies Willkür und verletze das Gleichbehandlungsgebot der Verfassung. Somit müsse das offiziell verkündete Wahlergebnis, dem zufolge Bush(10) die Wahl gewonnen hatte, Bestand haben.[30]
Mit dem Urteil in Bush(11) v. Gore(7) fielen alle 25 Wahlmänner(10) Floridas an den Republikaner, der damit im Wahlkollegium auf fünf Stimmen mehr als sein demokratischer Konkurrent kam – der geringste Vorsprung in der Geschichte aller US-Präsidentschaftswahlen. Da der Rechtsweg erschöpft war und er keine Verfassungskrise heraufbeschwören wollte, akzeptierte Al Gore das Verdikt des Supreme Courts(40), das gleichwohl auf scharfe Ablehnung im liberalen Lager stieß. Am meisten empörte die Kritiker, dass dieselben konservativen Richter, die ansonsten den Einzelstaaten in Wahlrechtsfragen große Gestaltungsfreiheit einräumten, in diesem Fall ihre föderalistischen Überzeugungen ignorierten und das höchste Gericht Floridas überstimmten. Anstatt in einer so hochpolitischen Frage Zurückhaltung zu üben, habe die konservative Mehrheit die Spaltung des Obersten Gerichtshofs(41) in Kauf genommen, um Bush den Weg ins Weiße Haus freizumachen. In der Tat fielen die abweichenden Voten der liberalen Minderheit ungewöhnlich scharf aus. Die Entscheidung, resümierte Richter John Paul Stevens(1), untergrabe das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Justiz, sein Kollege, Richter Stephen Breyer,(1) fügte hinzu, mit Bush v. Gore habe sich der Supreme Court selbst eine »Wunde« zugefügt. Bei Bushs(12) Amtseinführung am 20. Januar 2001 zeigten Demonstranten Plakate mit der Aufschrift: »Das Volk hat gesprochen – alle fünf!«[31]
Nicht nur das Vertrauen in den Obersten Gerichtshof(42), auch der Glaube an die Fairness des Wahlprozesses hatte gelitten. Die USA haben eine lange und illustre Geschichte des Wahlbetrugs und der »schmutzigen Tricks«, aber so umstritten wie im Jahr 2000 war der Ausgang einer Präsidentschaftswahl seit weit über hundert Jahren nicht mehr gewesen. Die Republikaner sahen die Forderung der Demokraten nach Neuauszählung der Stimmen in Florida als Versuch, George W. Bush(13) den Sieg zu stehlen. Umgekehrt glaubten viele Demokraten fest, dass zehntausende Stimmen für Gore(8) nicht gezählt worden waren. Wer tatsächlich die Wahl in Florida gewonnen hatte, ließ sich auch nachträglich nicht verlässlich klären. Dass die 97 500 Stimmen, die Ralph Nader(3) dort erhielt, Al Gore die Präsidentschaft kosteten, liegt dagegen auf der Hand. Linke Demokraten, die aus Ärger über den neoliberalen Kurs der Clinton(43)-Gore(9)-Administration ihr Kreuz bei Nader gemacht hatten, mussten sich nachträglich eingestehen, dass ihr Protestvotum nach hinten los gegangen war.
Seit Benjamin Harrison im Jahre 1888 war George W. Bush(14) der erste Bewerber um die US-Präsidentschaft, der ins Weiße Haus einzog, obwohl er weniger Stimmen als sein Gegenkandidat erhalten hatte. Es wurden daher Forderungen laut, den indirekten Wahlmodus endlich abzuschaffen und dem Mehrheitsprinzip Geltung zu verschaffen, doch blieben sie politisch folgenlos. Eine Verfassungsänderung war aussichtslos, denn die Republikaner hatten kein Interesse daran, ein für sie vorteilhaftes System zu ändern. Die Befürworter des electoral college(11) verwiesen zudem darauf, dass dieses in der Vergangenheit dafür gesorgt hatte, dass es auch bei einem knappen Wahlausgang einen klaren Sieger gab. So hatte Bill Clinton(44) zweimal nur eine relative Mehrheit der Wählerstimmen erzielt, war aber bei den Wahlmännern(12) auf satte Zweidrittelmehrheiten gekommen. Ein totes Rennen wie zwischen Bush(15) und Gore(10) erschien als historische Ausnahme, die sich so bald nicht wiederholen würde. Dass der Wahlverlierer und seine Anhängerschaft die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs(43) zwar zähneknirschend, aber widerstandlos akzeptierten, sprach darüber hinaus für ein intaktes Grundvertrauen der Bürger in die Institutionen.[32]
Freilich lässt der Wahlausgang 2000 erkennen, wie stark sich die Parteien und der politische Wettbewerb in den zurückliegenden drei Jahrzehnten verändert hatten. In ihrer 2007 erschienenen Analyse America Divided zeigten die Politologen Earl und Merle Black, dass aus den früher einander so ähnlichen großen Parteien längst zwei klar voneinander abgegrenzte und etwa gleich starke Blöcke geworden waren. Ideologisch fand statt, was in Amerika The Big Sort – das große Aussortieren – genannt wird. »Der konservative Flügel der Demokratischen Partei ist so gut wie verschwunden«, so die Brüder Black, »genau wie der liberale Flügel der Republikanischen Partei.« Auch das demografische Profil der Parteien unterschied sich markant. Während die Basis der Republikaner weiterhin zu fast neunzig Prozent aus Weißen bestand, stellten Afroamerikaner und andere ethnische Minderheiten inzwischen fast vierzig Prozent der demokratischen Wählerschaft. Erstmals zeigte sich auch ein signifikanter gender gap: Frauen waren nun unter der demokratischen Wählerschaft deutlich stärker vertreten als Männer, bei den Republikanern verhielt es sich umgekehrt. Die GOP hatte große Zuwächse bei gläubigen Katholiken und Protestanten erzielt, während religiös ungebundene Wähler überwiegend zu den Demokraten tendierten. Darüber hinaus sortierten sich die Parteien auch geografisch neu. Der Süden, einstmals fest in demokratischer Hand, war zur Hochburg der Republikaner geworden, die wiederum den Nordosten verloren hatten. Die Demokraten dominierten außerdem an der Pazifikküste, die Republikaner dagegen westlich des Mississippi in den Staaten der Rocky Mountains und der Great Plains. Lediglich der Mittlere Westen war nach Einschätzung der Blacks noch eine politisch einigermaßen kompetitive Region.[33]
Während die Kräfteverhältnisse in den verschiedenen Regionen sehr ungleich verteilt waren, standen sich auf nationaler Ebene zwei ungefähr gleichstarke und ideologisch polarisierte Lager gegenüber. Seit dem Zweiten Weltkrieg, so die Diagnose von America Divided, hätten die amerikanischen Parteien nicht mehr so wenige Gemeinsamkeiten gehabt. Wo aber verfeindete Lager in scharfem Wettbewerb stehen und, wie bei der Wahl 2000, der Wahlausgang eng ist, werde Politik schlimmstenfalls zum »unerbittlichen Machtkampf«, in dem Überparteilichkeit und Kompromisse keinen Platz mehr haben, sondern es nur noch darauf ankommt, die eigene Basis maximal zu motivieren und zu mobilisieren.[34]
Aber möglicherweise handelte es sich bei der politischen Pattsituation, wie sie um die Jahrhundertwende existierte, nur um eine Übergangsphase. Angesichts des rapiden demografischen Wandels erwarteten viele Demokraten, dass sich die Kräfteverhältnisse bald zu ihren Gunsten verschieben würden. So wie Kevin Philipps 1969 eine strukturelle republikanische Mehrheit heraufziehen sah, prognostizierten die Politikwissenschaftler Ruy Teixeira und John Judis 2002 eine dauerhafte Dominanz der Demokraten, weil der Anteil ethnischer Minderheiten an der Gesamtbevölkerung und der Wählerschaft immer weiter zunahm. Die absehbare neue demokratische Mehrheit aus Minderheiten und liberalen Weißen sollte wieder progressive Politik im Interesse der working- und middle classes machen und ein breites Bündnis über ethnokulturelle Grenzen hinweg schmieden. Die Wahlsiege Barack Obamas(22) schienen diese Prognose eindrucksvoll zu bestätigen, aber bald zeigte sich, dass die demografische Entwicklung keine politische Einbahnstraße war, sondern zu einer massiven Gegenmobilisierung führte.[35] Der »unerbittliche Machtkampf« zwischen zwei verfeindeten Lagern ging im 21. Jahrhundert unvermindert weiter. Daran änderte auch die terroristische Bedrohung der USA nichts, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die amerikanische Politik dominierte.