In der Demokratie dienen Wahlen idealiter dazu, Entscheidungen über Macht- und Sachfragen herbeizuführen, die auch die unterlegene Seite akzeptieren kann. Das Prinzip des friedlichen, demokratischen Machtwechsels, auf das Amerika lange zu Recht so stolz gewesen ist, gerät jedoch zunehmend ins Wanken. Der Historiker David Blight erinnerte bereits 2017 daran, »dass es ein Bürgerkriegsrisiko gibt, wenn das Ergebnis einer Wahl für eine Partei oder eine große Bevölkerungsgruppe völlig inakzeptabel erscheint. 2000 ist es bei der Konfrontation zwischen Bush(50) und Gore(12) nicht zum Äußersten gekommen, aber vielleicht waren wir nahe dran. Es ist nicht undenkbar, dass es jetzt passieren könnte«.[1] Dreieinhalb Jahre später unternahm der Verlierer der Präsidentschaftswahl einen Putschversuch, und für das kommende Jahr zeichnen sich neuerlich Szenarien ab, die auf den von Blight befürchteten Machtkampf hinauslaufen, in dem es für beide Seiten um Alles oder Nichts geht.
Donald Trump(121) hat zum dritten Mal hintereinander die Nominierung der Republikanischen Partei erhalten, und eine Wahlniederlage wird er 2024 ebenso wenig akzeptieren wie 2020. Wie viel Resonanz der erwartbare Vorwurf des Wahlbetrugs dann finden wird, hängt davon ab, wie eindeutig das Wahlergebnis ausfällt. Ein Erdrutschsieg Präsident Bidens(19) könnte Trump den Wind aus den Segeln nehmen, aber bei einem knappen oder gar unklaren Wahlausgang wird er nicht zögern, erneut den militanten Kern seiner Anhängerschaft zu mobilisieren. Die Aufständischen vom 6. Januar 2021 sind für ihn »die großartigste Bewegung in der Geschichte unseres Landes«, und er ist ihr Führer. Wenig spricht dagegen, dass sie ihm auch in Zukunft folgen wird, um sich ihr Land zurückzuholen und Amerika wieder groß zu machen.[2]
Die Demokraten werden einen Wahlsieg Trumps nur dann anerkennen, wenn dessen Vorsprung uneinholbar ist und in einer fairen Wahl errungen wurde. Doch selbst dann ist zu erwarten, dass sich viele Amerikaner nach Kräften gegen eine zweite Trump-Präsidentschaft wehren werden, denn dieses Mal könnte die liberale Demokratie selbst auf dem Spiel stehen. Pessimisten wie der konservative Publizist Robert Kagan sehen für den Fall, sollte der Ex-Präsident erneut ins Weiße Haus einziehen, sogar die Gefahr einer »Trump-Diktatur«. Gewiss wird er nichts unversucht lassen, um mit seinen Feinden abzurechnen. Trumps Beraterstäbe schmieden bereits Pläne, um die Fehler der ersten Amtszeit zu vermeiden. Vor allem soll der Regierungsapparat sofort radikal gesäubert werden. »Wir werden den tiefen Staat zerschlagen«, erklärte Trump(122) im Sommer 2023 vor Anhängern in Michigan, »wir werfen die Kriegstreiber aus der Regierung. Wir schmeißen die Globalisten raus, die Kommunisten, die Marxisten(12), die Faschisten. Und wir befreien uns von der kranken politischen Klasse, die unser Land hasst.« In einer Rede zum Tag der Veteranen am 11. November 2023 nannte er seine politischen Gegner »Ungeziefer« und gelobte, Amerika von der Linken zu befreien, die eine größere Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle als jede äußere Bedrohung. Trump und seine Berater planen, die Befugnisse des Präsidenten in einem Maße auszuweiten, das die Exekutive weitgehend der Kontrolle durch die beiden übrigen Gewalten entziehen und unabhängige Institutionen wie die Federal Reserve der Aufsicht durch das Weiße Haus unterwerfen würde. Jeder Versuch, die Gewaltenteilung auszuhebeln, wird eine gewaltige Protestbewegung des liberalen Lagers hervorrufen, die Trump(123) als Vorwand nehmen könnte, die Opposition mit Gewalt zu unterdrücken.[3]
Noch zu Beginn der 2010er-Jahre wäre die Frage, ob die USA möglicherweise vor einem neuen Bürgerkrieg stehen, als alarmistisch abgetan worden. Inzwischen wird sogar in den Mainstream-Medien ernsthaft darüber diskutiert, ob »Amerika auf einen Bürgerkrieg oder eine Sezession zusteuert«, wie der Sender CNN im Januar 2022 anlässlich des ersten Jahrestages des Sturms auf das Kapitol fragte. Bei Meinungsumfragen erklären vor allem Jüngere, dass sie einen Bürgerkrieg für immer wahrscheinlicher halten. Mehr als die Hälfte der Trump(124)-Wähler und über vierzig Prozent der Biden(20)-Anhänger halten die Aufspaltung des Landes in einen blauen und einen roten Landesteil unter Umständen für keine schlechte Idee.[4]
Auch die Wissenschaft meldete sich zu Wort. In ihrem vielbeachteten Buch How Civil Wars Start: And How to Stop Them (Wie Bürgerkriege anfangen und wie wir sie stoppen) arbeitete die Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter im internationalen Vergleich eine Reihe von Warnzeichen heraus, die signalisieren, wann Gesellschaften auf den Bürgerkrieg zutreiben. Das typische Szenario, so die Autorin, bestehe in einer scharfen Polarisierung zwischen zwei etwa gleichstarken Lagern, die sich gegenseitig als existenzielle Bedrohung betrachten. Die Gewalt gehe zumeist von den bislang dominanten sozialen Klassen und ethnischen Gruppen aus, die ihre schwindende Vorherrschaft um jeden Preis verteidigen wollen. Ihre politischen Führer verschärfen bewusst die Spannungen und organisieren paramilitärische Verbände. Politisch motivierte Gewalt nimmt zu, das staatliche Gewaltmonopol wird immer öfter in Frage gestellt. Schließlich genügt ein beliebiger Anlass, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Die USA, so Walters Fazit, seien auf dem Weg der Destabilisierung erschreckend weit fortgeschritten, wenngleich die Entwicklung noch nicht unumkehrbar sei.[5]
Die Worte »Bürgerkrieg« und »Sezession« wecken bei Amerikanern starke Assoziationen. Der von 1861 bis 1865 zwischen der Union und der abtrünnigen Konföderation ausgefochtene Civil War war mit ca. 700 000 Toten der blutigste Krieg der amerikanischen Geschichte und hat ein nationales Trauma hinterlassen. Für viele weiße Südstaatler ist er bis heute eine Quelle militanter Opposition gegen die angebliche Tyrannei der Bundesregierung. Beim Sturm auf das Kapitol trugen viele Insurgenten die Flagge der Konföderation. Aber natürlich droht den USA im 21. Jahrhundert kein militärischer Großkonflikt, der von uniformierten Armeen in offenen Feldschlachten und weiträumigen militärischen Operationen ausgetragen wird. Barbara Walter zufolge spielen in den Bürgerkriegen der Gegenwart nichtstaatliche Gewaltakteure wie Milizen und Terroristen die zentrale Rolle. Diese »niederschwelligen Konflikte« bleiben, wie etwa in Nordirland, oft regional begrenzt, Phasen hoher Gewaltintensität wechselten sich mit relativer Ruhe ab. Die rechtsextreme Milizbewegung in den USA sehe sich schon lange in einem solchen Bürgerkrieg, aber Walter ist überzeugt, dass sie nicht die Torheit begehen und das US-Militär angreifen werde.[6]
In der amerikanischen Diskussion ist oft das Argument zu hören, ein neuer Bürgerkrieg sei auch deshalb unwahrscheinlich, weil es heute im Unterschied zu den Jahrzehnten vor dem Civil War, als die Sklavereifrage die Nation heillos spaltete, nicht den einen großen Konflikt gebe, der alle anderen überlagere und die Einheit der Nation bedrohe.[7] Dieser Einwand erschien lange plausibel, aber inzwischen drängt sich immer stärker die Schlussfolgerung auf, dass die Analogie zum Civil War durchaus beunruhigende Parallelen zur Gegenwart aufweist. Auch dem Sezessionskrieg ging eine jahrzehntelange Polarisierung voraus, bis sich der sklavenhaltende Süden und der Norden, wo die Sklaverei verboten war, nur noch als unversöhnliche Gegner betrachteten, zwischen denen kein Kompromiss mehr möglich war. Entgegen einer populären Ansicht ging es im sogenannten sektionalen Konflikt nicht um ökonomische Interessengegensätze, sondern um die Frage nach der Identität Amerikas: Sollten die USA eine egalitäre Gesellschaft freier weißer Männer sein oder eine von der südstaatlichen Pflanzeroligarchie dominierte »Sklavenhalterrepublik«? Die Überzeugung der Zeitgenossen, dass beide Gesellschaftsformen auf Dauer nicht koexistieren konnten, entwickelte schließlich die Dynamik einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Am Ende waren beide Seiten bereit, für die Verteidigung ihrer Ehre und ihrer Lebensweise Krieg zu führen.[8]
Auch heute liegt der Polarisierung, wie in den Kapiteln dieses Buches ausführlich dargestellt, ein seit Jahrzehnten schwelender, fundamentaler Konflikt über die nationale Identität der USA zugrunde, in dem es darum geht, welche Wertvorstellungen, sozialen Klassen und ethnischen Gruppen das Land prägen sollen. Die scharfe Spaltung zwischen den politischen Lagern reflektiert tiefe rassisch-ethnische, sozialökonomische, religiös-kulturelle, geographische und lebensweltliche Gräben. Die Parteien haben sich in identitätspolitische Lager sortiert. Die Demokraten repräsentieren das multiethnische, liberale und säkulare Amerika, das überwiegend in den Großstädten und an Küsten wohnt, die Republikaner das traditionalistische, weiße, kleinstädtisch-ländliche, religiöse Milieu. Kompromisse und selbst das Zusammenleben sind zwischen diesen als antagonistisch wahrgenommenen Gesellschaftsmodellen äußerst schwierig geworden; die Feindbilder haben sich verhärtet und die Lebenswelten immer weniger Berührungspunkte. Die Heirat ihrer Kinder über Parteigrenzen hinweg bereitet vielen Demokraten und Republikanern heute mehr Unbehagen als interethnische »Mischehen« oder gleichgeschlechtliche(29) Beziehungen.[9]
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schien die Pflanzeraristokratie des Südens zwar vor Selbstbewusstsein zu strotzen, sie fühlte sich in Wirklichkeit jedoch national wie international immer isolierter in einer Welt, in der die Sklaverei zunehmend zum Anachronismus geworden war. Heute ist es der Übergang von einer Gesellschaft, in der unhinterfragt die weiße Mehrheit dominierte, zu einer multiethnischen Gesellschaft, der bei großen Teilen des traditionellen Amerikas zur Überzeugung geführt hat, sich mit allen Mitteln gegen den befürchteten Abstieg verteidigen zu müssen. Selbst den USA mit ihrer langen Tradition als Einwanderungsgesellschaft ist es offensichtlich nicht gelungen, die demografische Transformation konsensual zu gestalten. Die »frohe Botschaft«, Donald Trump(125) führe den weißen Mann in sein letztes Gefecht, sollte niemanden beruhigen, denn dieses Gefecht könnte blutig werden.
Eine weitere Parallele zwischen der Antebellum-Ära und der Gegenwart besteht darin, dass die Institutionen dramatisch an Vertrauen, Legitimität und Integrationskraft verloren haben. Vor dem Civil War brach das alte Parteiensystem zusammen, und der Oberste Gerichtshof(48) heizte durch kontroverse Entscheidungen zur Sklavereifrage den sektionalen Konflikt an; im Kongress kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen Süd- und Nordstaatlern, und die Gewalt zwischen Gegnern und Befürwortern der Sklaverei nahm in Teilen des Landes (Bleeding Kansas) schon ab Mitte der 1850er-Jahre bürgerkriegsähnliche Ausmaße an; 1860/61 zeigte sich schließlich, dass nationale Wahlen keinen Frieden mehr stiften konnten. Der Süden war nicht bereit, die Wahl des Sklavereigegners Abraham Lincoln(8) zum Präsidenten hinzunehmen und erklärte seinen Austritt aus der Union, weil er dort für seine »besondere Institution«, wie die Sklaverei beschönigend genannt wurde, keine Zukunft mehr sah. Da Lincoln und die Mehrheit der Nordstaatler den Zerfall der nationalen Einheit nicht hinnehmen wollten, kam es zum Bürgerkrieg, der am 12. April 1861 mit dem Bombardement auf Fort Sumter, den Stützpunkt der US-Armee im Hafen von Charleston, South Carolina, seinen Anfang nahm. Auch heute sind die Institutionen blockiert. Im Kongress ist überparteiliche Kooperation zur seltenen Ausnahme geworden, die Rhetorik der radikalen Rechten wird immer militanter, der Supreme Court(49) und die Justiz insgesamt sind extrem politisiert, und bei Wahlen ist nicht mehr gewährleistet, dass die Verlierer das Ergebnis anerkennen. Eine 2022 publizierte Studie zweier Politikwissenschaftler, die systematisch die Stufen der Polarisierung zwischen 1820 und 1860 mit der Gegenwart verglichen haben, kommt zu der alarmierenden Einschätzung, die USA befänden sich erneut an der Schwelle zur unkontrollierbaren Eskalation. Schon der 6. Januar 2021 hätte zum »Fort Sumter-Moment« werden können, und 2024 bestehe wieder die Gefahr, dass Trumps(126) Anhängerschaft »erhebliche Gewalttaten« verüben werde, sollte ihr Held nicht die Wahl gewinnen.[10]
Geschichte wiederholt sich nicht, und noch immer gibt es gute Argumente dafür, dass Aufstände, Putsch- und Sezessionsversuche keine Erfolgsaussichten haben, weil die zivilen und militärischen Institutionen der USA im Kern widerstandsfähig und verfassungstreu sind und die große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung zur nationalen Einheit wie zur Demokratie steht. Aber Historiker stehen häufig vor der Frage, warum Ereignisse eintraten, die nicht im Möglichkeitshorizont der Zeitgenossen gelegen hatten. Die Sezessionsdrohungen des Südens hielten viele Nordstaatler lange für einen Bluff. Auch wenn es um unsere eigene Gegenwart geht, müssen wir das vermeintlich Unmögliche durchdenken. Der offene Bürgerkrieg ist kein wahrscheinliches Szenario, aber eine Gewalteskalation halten viele Beobachter für sehr wohl denkbar. »Die explosive Mischung aus einer aufgeheizten politischen Rhetorik, verwirrten Verschwörungstheorien, Wut auf den Staat und einer militanten gun culture«, notierte die New York Times(14) kürzlich, »hat einen fruchtbaren Boden für politische Gewalt geschaffen.«[11] Trotz provokanter Sezessionsrhetorik, mit der sich manche Politiker im Süden profilieren wollen, wird es auch keine Neugründung der Konföderation geben. Durchaus vorstellbar ist dagegen eine »kalte« Sezessionsbewegung, in der die roten und die blauen Staaten die rechtliche Zusammenarbeit im föderalen Bundesstaat immer stärker einschränken. Vor dem Bürgerkrieg verweigerten viele Nordstaaten die Auslieferung entflohener Sklaven, obwohl sie die Verfassung und das Bundesrecht dazu verpflichtete. Heute ist zum Beispiel denkbar, dass konservative Staaten die in liberalen Staaten geschlossenen gleichgeschlechtlichen(30) Ehen nicht mehr anerkennen, so wie dies vor 1967 mit »Mischehen« zwischen Schwarzen und Weißen der Fall war, oder dass sie Einwohnerinnen, die in einem anderen Staat eine legale Abtreibung(35) vornehmen lassen, strafrechtlich verfolgen. Der in den USA traditionell stark ausgeprägte Föderalismus beruht auf der Akzeptanz großer Unterschiede zwischen den Einzelstaaten. Bisher ziehen Bundesverfassung und Bundesrecht den states’ rights Grenzen. Dafür, wie sich Einzelstaaten massiv gegen die Durchsetzung von Bundesrecht wehren können, bietet die Geschichte der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung jedoch reiches Anschauungsmaterial.
In der nationalen Politik werden Obstruktion und Konfrontation das Funktionieren der Institutionen noch mehr beeinträchtigen, solange sich zwei etwa gleichstarke Blöcke gegenüberstehen, für die Kompromisse mit hohen ideologischen Hürden und politischen Kosten verbunden sind. Vor allem aber bergen Präsidentschafts- und Kongresswahlen, bei denen es keine klaren Mehrheiten gibt, weiterhin das Risiko von Verfassungskrisen und punktueller Gewalteskalation. Diese Gefahr wird auch dann nicht verschwinden, wenn Donald Trump(127) von der politischen Bühne abtritt, denn die politischen, sozialen und kulturellen Konflikte, die seinen Aufstieg ermöglicht haben, werden vorerst kaum zu lösen sein. Insbesondere ist nicht absehbar, wie der dringend erforderliche Grundkonsens über eine multiethnische, egalitäre Demokratie hergestellt werden kann. Die Deutschen und die Europäer sollten hier sehr genau hinschauen, denn sie stehen vor ähnlichen Herausforderungen und haben ebenfalls noch keine überzeugenden Antworten gefunden.
Ob es gangbare Wege aus der Polarisierung gibt, ist wenig erforscht. Gutgemeinte Empfehlungen wie bessere politische Bildung, offene Dialoge, mehr Transparenz und dergleichen unterschätzen das radikale Protestpotenzial, das sich nicht nur in Amerika aufgetürmt hat, und atmen bisweilen den Geist elitärer Belehrung, an dem sich die populistische Revolte entzündet. Der historische Befund stimmt leider eher skeptisch. Eine neue Studie der Carnegie-Stiftung(2), in der mehr als fünfzig demokratisch verfasste Staaten verglichen werden, die seit 1950 Phasen »gefährlicher Polarisierung« erlebt haben, kam zu dem Ergebnis, dass in der Hälfte der untersuchten Länder die Demokratie einer autoritären Regierungsform weichen musste. Lediglich in neun Fällen gelang eine dauerhafte Depolarisierung. Allerdings sind die Erfahrungen dieser Staaten für die USA wenig aussagekräftig, weil die Studie keine anderen westlichen Demokratien einbezieht. Der Grund dafür ist, dass »die Vereinigten Staaten die einzige westliche Demokratie sind, die bislang eine derartige intensive und langanhaltende Polarisierung erlebt hat. Die USA befinden sich in einem unbekannten und sehr gefährlichen Terrain«. Drei Faktoren begründen nach Auffassung der Autoren diesen amerikanischen Exzeptionalismus: die tiefe Verunsicherung großer Teile der weißen Bevölkerung durch den demografischen Wandel, das Wahlsystem, das ein rigides Zweiparteiensystem zementiert, und die extreme ideologische und identitätspolitische Lagerbildung zwischen den Parteien, die Politik zum Nullsummenspiel gemacht habe, in der es nur Gewinner und Verlierer, aber keine gemeinsamen Interessen mehr gebe. Daher seien insbesondere institutionelle Reformen dringend nötig, um die Polarisierungslogik der amerikanischen Politik aufzubrechen, andernfalls könnte »die amerikanische Demokratie selbst aufhören zu existieren«.[12]
An Vorschlägen, das amerikanische politische System und besonders das Wahlsystem zu reformieren, mangelt es nicht. In der Diskussion sind die Abschaffung des electoral college(20), die Einführung der Verhältniswahl oder zumindest ein Ende der manipulativen Wahlkreisziehung, die Begrenzung von Vorwahlen und Wahlkampfspenden, die Änderung der Geschäftsordnungen und Mehrheitsregeln im Kongress, um der Obstruktion durch kleine Minderheiten Einhalt zu gebieten, und vieles mehr.[13] Doch haben echte Reformen allein deshalb keine realistische Chance, weil die Hürden für eine Verfassungsänderung, die z. B. für eine Abschaffung des Wahlkollegiums(21) erforderlich wäre, unüberwindlich sind. Zweidrittelmehrheiten im Kongress sind dafür ebenso illusorisch wie eine Zustimmung von drei Vierteln der Bundesstaaten. Weder die Republikanische Partei, die demografisch in der Minderheit ist, noch die kleinen Bundesstaaten haben ein Interesse daran, dem Mehrheitsprinzip größere Geltung zu verschaffen. Im Gegenteil, die schikanösen Wahlgesetze, die republikanisch regierte Staaten seit eineinhalb Jahrzehnten eingeführt haben, dienen erkennbar dem Zweck, Wählergruppen, die den Demokraten zuneigen, die Wahlbeteiligung zu erschweren. Konservative und libertäre Intellektuelle argumentieren wieder ziemlich ungeniert, dass die meisten Wähler ohnehin nicht verstünden, worum es bei Wahlen geht, und Mehrheiten selten kluge Entscheidungen träfen.[14]
Abgesehen davon, dass radikale verfassungspolitische Traditionsbrüche in der US-Bevölkerung nicht mehrheitsfähig sind, ist fraglich, ob institutionelle Reformen die Polarisierung zwischen den Lagern kurz- oder mittelfristig abbauen könnten. Auch ökonomische Umverteilung zugunsten der Unter- und Mittelschichten wird mit guten Gründen gefordert, führt aber keineswegs automatisch zur Depolarisierung. Die Biden-Administration(21) betreibt seit 2021 eine wirtschaftsnationalistische Investitions-, Innovations- und Infrastrukturpolitik, die darauf zielt, die US-Industrie zu modernisieren und gut bezahlte Jobs zu schaffen. Der Präsident gestand sogar offen ein, die Demokraten hätten in der Vergangenheit zu sehr auf Neoliberalismus und Globalisierung gesetzt und dabei die heimische Wirtschaft und Industrie vernachlässigt, »auf der eine starke und widerstandsfähige Demokratie beruht«. Bislang ist jedoch nicht erkennbar, dass Donald Trump(128) bei der Arbeiterschaft an Unterstützung verliert.[15]
Demokratieforscher betonen seit langem die Bedeutung von democratic leadership in Krisensituationen. Wenn Demagogen und radikale Bewegungen im Namen des Volkes eine plebiszitäre Diktatur anstreben, brauche es populäre, entscheidungsstarke Führungspersönlichkeiten, die loyal zur Demokratie stehen und einer verhetzten und verunsicherten Wählerschaft neues Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und die Legitimität demokratischer Verfahren vermitteln können. Besondere Verantwortung komme dabei den Führern des konservativen Lagers zu, die eine klare Grenze zum Rechtspopulismus, Ethnonationalismus und Faschismus ziehen müssten.[16] Aber von democratic leadership ist in der GOP weit und breit nichts zu sehen. Ex-Vizepräsident Mike Pence(8), immerhin ein erzkonservativer Vertreter der Religiösen Rechten(26), war im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur chancenlos, gerade weil er sich Trumps(129) Putschversuch verweigert hatte. Trump ist es auch 2024 gelungen, die Republikanische Partei auf den rechtspopulistischen Kurs seiner MAGA-Bewegung einzuschwören. Bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen ist also erneut der inzwischen einundachtzigjährige Joe Biden(22) nicht nur der Hoffnungsträger der Demokraten, sondern der liberalen Demokratie selbst. Wenn er wiedergewählt werden sollte, dann nicht wegen seiner persönlichen Popularität, sondern in erster Linie deshalb, weil seine Wähler die Rückkehr Donald Trumps(130) verhindern wollen.
Auch ein erneuter Wahlsieg der Demokraten wird nichts an der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in feindliche Lager, an der Radikalisierung des weißen Nationalismus und an den Blockaden der US-Politik ändern. Spätestens seit dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 haben sich auch wohlwollende Beobachter von der Vorstellung verabschieden müssen, die amerikanische Demokratie befinde sich lediglich in einer vorübergehenden Krise. Für Europa, Deutschland und das transatlantische Bündnis ist eine langfristige Destabilisierung und Paralyse der westlichen Führungsmacht eine Horrorvorstellung, an der allenfalls die antiamerikanische Rechte und Linke Gefallen finden können. Eine Abkehr der USA von der NATO wäre eine sicherheitspolitische Katastrophe für den gesamten Westen und ein Geschenk an Wladimir Putin(4) und den russischen Imperialismus. Im ohnehin isolationistischen Trump(131)-Lager genießt Putin auch nach dem Überfall auf die Ukraine große Sympathien und wird als Verbündeter im Kampf gegen Wokeness und die Zersetzung der abendländischen Zivilisation gefeiert. Trump lobte Putins Einmarsch als »schlau und gerissen«, und ein ihm nahestehender Kommentator sekundierte, die Amerikaner hätten keine Lust gegen Putin zu kämpfen, nur weil der nichts für Transgender-Rechte(9) übrighabe. Für Amerikas extreme Rechte ist der russische Diktator(5) ein Vorbild.[17]
Ebenso besorgniserregend wie die sicherheitspolitischen Konsequenzen einer politischen Destabilisierung der USA sind die Implikationen für die Zukunft der westlichen Demokratie insgesamt. Eröffnet Amerika, wie so oft, nur den Blick in die eigene Zukunft? Denn auch wenn die Polarisierung in den USA besonders extrem ist, kann von einem amerikanischen Exzeptionalismus keine Rede sein. Die Gräben zwischen liberalen und progressiven Eliten einerseits und traditionalistischen, ethnonationalistischen Milieus andererseits durchziehen alle demokratischen Gesellschaften. Amerikas Kulturkriege sind nicht nur deshalb längst in Europa angekommen, weil sie über den akademischen und medialen Austausch importiert werden, sondern auch, weil viele Problemlagen ähnlich sind. Dies gilt ganz besonders für die Bewältigung von Masseneinwanderung und demografischer Transformation, die stärkste Triebkraft der populistischen Revolte, die in Nordamerika und Europa die liberale Demokratie in Frage stellt. Man mag Zuversicht daraus schöpfen, dass die autoritären Rechtspopulisten bislang noch in keiner der sogenannten »reifen« Demokratien der westlichen Welt die Oberhand gewonnen haben. Aber die Gefahr ist real, wie die Regierungsbeteiligung der Postfaschisten in Italien und die israelische Verfassungskrise zeigen. Es wäre eine fatale Ironie der Geschichte, wenn ausgerechnet die USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich dazu beitrugen, dass die liberale Demokratie in Westeuropa und insbesondere in Westdeutschland Wurzeln schlagen konnte, den Anfang machen würden.
Noch ist es nicht soweit. Krisen können bewältigt und Eskalationsspiralen unterbrochen werden. Vor allem wird es darauf ankommen, dass sich die Amerikaner vor Augen führen, was auf dem Spiel steht. Auch vor dem Bürgerkrieg gab es nach Auffassung vieler Historiker bis zuletzt Alternativen und Möglichkeiten zum Kompromiss. Am Schluss seiner Rede zur Amtseinführung am 4. März 1861, einen Monat vor Beginn der Feindseligkeiten, beschwor Abraham Lincoln(9) seine Landleute: »Wir sind keine Feinde, wir sind Freunde. Wir dürfen niemals zu Feinden werden.« Doch Lincolns Appell an das Gute der menschlichen Natur – »the better angels of our nature« – verhallte, und der Präsident sah sich schließlich gezwungen, zur Rettung der nationalen Einheit Gewalt anzuwenden. Der Preis war schrecklich. Mehr als 160 Jahre später sind die Amerikaner gut beraten, sich auf die Mahnungen ihres großen Präsidenten zu besinnen.[18]