KAPITEL

11

Alice trat näher an das Glas heran, ihr Magen rebellierte, doch sie konnte nicht wegsehen. Hinter dem Glas des einen Gefäßes befand sich ein nacktes Mädchen mit schillernden rosafarbenen Flügeln. Sie war sehr mager, so mager, dass ihre Rippen unter der weißen Haut hervorstachen. Ihre Augen waren violett, eine verblüffende Farbe, blickten jedoch dumpf und waren von schwarzen Ringen umgeben. Als sie Alice erblickte, streckte sie mit flehentlichem Blick die Hände zu ihr aus.

Die Flügel waren nicht mit Riemen an den Schultern befestigt. Der Rücken des Mädchens war beidseits der Wirbelsäule von den Schultern bis an den unteren Rand des Rippenbogens aufgeschlitzt und die wunderschönen Schmetterlingsflügel fein säuberlich an die freigelegten Muskeln angenäht worden. Wenn das Mädchen die Schultern vor und zurück bewegte, schlugen die Flügel.

Alice legte die Hand an den Käfig – denn nichts anderes war es –, und das Schmetterlingsmädchen legte ihre Hand auf der anderen Seite daran. Sie ging mit dem Gesicht ganz nah an das Glas heran, sodass die Raupe sie nicht sehen konnte. Ihre Lippen bewegten sich langsam, stumm formten sie zwei Wörter.

Töte mich.

Mit einem Mal wusste Alice, wie Hatcher empfand, warum er seine Liebe zu ihr damit zeigte, dass er anbot, sie zu erschießen, bevor irgendein Krimineller sie in seine Fänge bekam. Sie wollte nichts lieber, als das Leiden dieser Frau zu beenden, ihr die Erleichterung zu verschaffen, nach der sie sich so verzweifelt sehnte.

Als das Mädchen sich abwandte, bemerkte Alice, dass sie sich nur mit den Armen bewegte. Ihre Beine waren von den Knien abwärts verdreht, eindeutig von der Hand eines Menschen gebrochen, damit sie nichts anderes tun konnte, als in dem Glas sitzen und zum Vergnügen der Raupe mit den Flügeln schlagen.

Alice wollte gar nicht wissen, was in dem zweiten Behälter war, und doch musste sie hinsehen.

Der zweite Käfig war zur Hälfte mit Wasser gefüllt, und darin schwamm eine wütende Meerjungfrau im Kreis, die sie mit finsteren Blicken bedachte, wenn sie auftauchte. Ihre untere Körperhälfte bestand aus einem schuppigen silbrigen Fischschwanz, ihr Oberkörper war der einer Frau. Ihr Haar war lang und dunkel und wellte sich im Wasser. Alice beugte sich dicht an das Glas heran, beinahe sicher, auch hier eine Reihe von Stichen über den glänzenden Schuppen ihrer Taille zu finden. Doch sie konnte nichts dergleichen erkennen. Die Meerjungfrau schien genau das zu sein, was sie war, aber das war unmöglich. Es gab keine Meerjungfrauen, das war allgemein bekannt.

Auch keine Magie oder Ungeheuer, die eingesperrt in den Kellern von Krankenhäusern hausen. Und es gibt auch keine Kuchen, die einen klein machen, und keine Getränke, die einen wieder groß machen.

Sie musste anfangen, an das Unmögliche zu glauben, weil ihr ständig unmögliche Dinge begegneten.

»Sie ist echt«, sagte die Raupe träge. »Unser gemeinsamer Freund hat sie für mich gefunden, in seinem Irrgarten.«

»Er ist kein Freund«, gab Alice barsch zurück.

Sie fuhr herum, und das Messer war in ihrer Hand. Sie wollte sich auf ihn stürzen und ihm die Augen ausstechen, damit er nie wieder einen Blick auf seine kostbare Sammlung werfen konnte.

Raupe schnalzte sanft und tadelnd. Ihr Messer schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen.

»Ich denke, er wäre enttäuscht, dich das sagen zu hören. Immerhin hat er dich direkt vor meine Haustür befördert, oder etwa nicht? Und dir die Mittel gegeben, um dir Zutritt zu meinem privaten Reich zu verschaffen. Andernfalls wäre es euch niemals gelungen, ohne meine Erlaubnis hereinzukommen.« Er nahm einen langen Zug aus der Wasserpfeife und fuhr fort: »Es ist schon sehr erstaunlich, nicht wahr, was die Zauberer alles haben herumliegen lassen. Die Meerjungfrau stammt aus einem See in der Mitte des Irrgartens. Sie hat Männer verführt und inspiriert, ihnen Träume geschenkt, mit denen sie in die Welt hinausgehen konnten, um andere zu inspirieren. Jetzt gehört sie mir, und sie tut, was ich ihr sage und wenn ich es ihr sage.«

Alice warf einen Blick zu der Meerjungfrau zurück, die jetzt dicht am Glas schwamm, die Finger zu Klauen gekrümmt, das Gesicht weiß wie der Tod, aber ihre Augen brannten vor Hass. Sie wusste, dass die Meerjungfrau jetzt nicht mehr aus eigenem Willen Männer verführte. Diese wunderschöne, außergewöhnliche Kreatur war nichts als ein Werkzeug für die Raupe, eine Kuriosität, die aus ihrem Behältnis genommen und dem jeweils Höchstbietenden präsentiert wurde.

»Grinser hat stattdessen eine andere Kreatur in seinen See getan, die ich gefunden hatte, etwas Einzigartiges, das in einer Flasche gefangen war. Sie war sehr froh, endlich freigesetzt zu werden, und Grinser sorgt dafür, dass sie regelmäßig zu fressen bekommt.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Alice und war erfreut, die Überraschung in Raupes Augen zu sehen.

»Ihr seid durch den Irrgarten gekommen? Und habt die Kreatur darin überlebt? Interessant. Interessant.«

Alice merkte, dass sie anfing, dieses Wort zu verabscheuen. »Interessant« bedeutete, die Aufmerksamkeit von Männern zu erregen, die einem wehtaten, um an sich zu bringen, was immer sie »interessant« an einem fanden.

»Sie war nicht so hübsch wie meine Meerjungfrau, das muss ich zugeben. Ich war ganz froh, sie bei Grinser eintauschen zu können. Meerjungfrauen und tödliche Klingen.« Raupes Stimme wurde leiser und leiser, während er die Worte wiederholte: »Meerjungfrauen und tödliche Klingen, Meerjungfrauen und tödliche Klingen.«

»Wegen einer Klinge sind wir hergekommen«, sagte Hatcher. Alice sah, dass er die Axt in der Hand hielt und seine Fingerknöchel um den Griff herum weiß waren. Er konnte dem allen genauso wenig abgewinnen wie sie und war an der Grenze seiner Belastbarkeit angekommen.

»Oh, ich weiß, warum ihr hier seid«, sagte Raupe.

»Grinser hat’s dir gesagt«, meinte Hatcher.

»Nein«, antwortete Raupe. Er beugte sich abrupt vor, seine Augen blickten plötzlich scharf und hell und wesentlich aufmerksamer, als Alice es für möglich gehalten hatte. »Ich wusste es im selben Augenblick, als ich sie gesehen hab. Die hübsche Alice.«

(Eine Hand in ihrem Haar, die ihren Kopf in den Nacken zog. »Hübsche kleine Alice, hübsche kleine Alice.«)

Ihr Herz schien ins Bodenlose zu fallen, ihr Magen drückte sich in ihre Kehle. Sie blickte auf Raupes Hände, doch sie passten nicht. Sie waren nicht so groß wie die des Mannes im Schatten, des Mannes bei der Teegesellschaft aus ihren Albträumen. Raupe war nicht dieser Mann. Doch woher wusste er davon? Warum hatte er diese Worte benutzt?

Raupe stand auf und entfaltete sich zu seiner ganzen Größe, ragte riesenhaft über ihnen auf. »Du willst wissen, woher ich es weiß, warum deine Verkleidung mich nicht täuschen kann? Nun, es ist so: Das Kaninchen ist ein Freund von mir. Du und ich, kleine Alice, wir haben so viele gemeinsame Freunde.«

Er streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, um die Narbe auf ihrer Wange zu berühren. Sie war vor Angst erstarrt, gefangen im Netz ihrer unvollständigen Erinnerungen, gelähmt von der grauenhaften Erkenntnis, dass nichts sie jemals vor dem Kaninchen bewahren konnte, weil er sie gezeichnet hatte, damit alle und jeder sie überall wiedererkennen konnte.

Seine Finger erreichten sie nicht. Hatchers Axt schwang, und die Hand der Raupe war verschwunden. Einen Moment lang war sie sicher, dass Hatcher ihm die Hand abgehauen hatte, doch der hochgewachsene Mann stand immer noch vor ihr, ein schreckliches Lächeln im Gesicht und beide Hände vor dem Körper gefaltet.

Hatcher schien verwirrt zu sein, als hätten seine Schläge noch nie ihr Ziel verfehlt, und dem war vermutlich auch so.

»Ja, man muss schnell sein, wenn man dem Schlächter von Schnucken gegenübersteht«, sagte Raupe und nickte Hatcher anerkennend zu. »Niemand hat jemals eine Axt so köstlich geschwungen wie du, Nicolas. Sie gehört dir, zumindest denkst du das. Ich verstehe das.«

Alice wollte sich nicht noch eine Diskussion darüber anhören, wem sie gehörte. Wahrscheinlich war es sicherer, nicht mehr zu versuchen, sich als Junge auszugeben, sondern alle anderen glauben zu lassen, dass Hatcher derjenige war, der sich um sie kümmerte. In der Alten Stadt gab es nur sehr wenige Möglichkeiten für Frauen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und alle hingen davon ab, dass man einen Mann hatte. Dennoch brauchte sie sich nicht von Raupe anzuhören, was Grinser ihr bereits gesagt hatte.

»Erzähl mir nicht, dass ich dem Kaninchen gehöre«, fauchte sie. »Er mag mich gezeichnet haben, aber ich gehöre ihm nicht.«

Raupes Lächeln wurde breiter. Sein Gesicht war extrem schmal, und so sah sein Lächeln schaurig aus. »Es wird überaus amüsant sein zu beobachten, wenn du ihm das selbst sagst – zum zweiten Mal. Wirst du ihm auch das andere Auge ausstechen und ihn blenden, wie du es so gern mit mir tätest?«

Sie musste aufhören, ständig überrascht zu sein, oder zumindest, es sich anmerken zu lassen. Woher wusste er, was sie dachte? Dann wusste sie es, mit vollkommener Sicherheit.

»Du bist ein Zauberer«, sagte sie. »Und Grinser ist auch einer.«

Raupe deutete eine spöttische Verbeugung an, seine Augen strahlten. »Wir erkennen unseresgleichen, nicht wahr?«

Es war ein seltsamer Ort und ein noch seltsamerer Moment, um die Wahrheit dessen anzuerkennen, was Hatcher die ganze Zeit versucht hatte ihr klarzumachen. Und doch, in diesem Haus der Schrecken, mit diesem abscheulich grinsenden Ungeheuer vor sich, wusste sie, dass es wahr war. Sie war eine Zauberin. Sie hätte verwundert sein oder sich freuen oder zumindest überrascht sein müssen. Doch die Vorstellung hatte in ihr gearbeitet, seit sie zum ersten Mal davon gehört hatte. Eine Zauberin, und deshalb hatte Bess gesagt, dass sie und Hatcher den Jabberwock finden und besiegen müssten, weil es sonst niemand könnte.

Nur dass das nicht ganz stimmt, oder? Es gibt noch andere Zauberer, also ist es keine Frage des Könnens, sondern des Wollens oder Tuns.

Alice war eine Zauberin, nur dass sie keine Ahnung hatte, wo sie ihre Magie finden oder wie sie sie benutzen könnte, also spielte es im Grunde keine Rolle. Raupe und Grinser nutzten ihre Magie für ihre eigenen Zwecke. Nell hatte mit Tränen in den Augen gesagt, dass wenn die Zauberer wieder zurückkehrten, die Dunkelheit und das Leiden ein Ende nehmen würden. Doch sie wusste nicht – niemand wusste –, dass einige Zauberer nie weg gewesen waren und dass sie die Ursache für Dunkelheit und Leid waren.

Alice wusste nicht, ob Raupe in ihrem Gesicht lesen konnte oder ob er seine Magie einsetzte, um ihre Gedanken zu lesen, also drängte sie ihre geschäftigen Gedanken zurück und versuchte, Ruhe in ihren Geist zu bringen. Sie dachte an Wolken an einem Sommertag, wie sie über einen schmerzlich blauen Himmel segelten, und ließ diese Wolken durch ihren Geist ziehen.

Raupe ließ sie nicht aus den Augen. Er nickte. »Sehr schön, Alice.«

Alice runzelte die Stirn. Sie wollte seine Anerkennung nicht.

Raupe lachte. »Ich weiß, dass du dir nichts aus meiner Anerkennung machst. Das kam direkt zwischen deinen Augen hervorgeschossen, weißt du. Wie ein Pfeil.«

»Also kannst du wirklich alle meine Gedanken sehen«, fragte Alice.

»Nur die, die in meine Richtung zielen«, antwortete Raupe. »Einschließlich derjenigen, die du versuchst zu verstecken, denn das bringt sie nur noch mehr zum Leuchten.«

Er zeigte auf die Meerjungfrau. »Sie wünscht sich stündlich meinen Tod. Wenn meine Freunde kommen und bei ihr liegen, denkt sie an nichts anderes, als wie sie mich mit einem meiner vielen Schwerter aufschlitzen wird, wie ich schreien und um Gnade winseln werde, wenn sie mir den Schwanz abschneidet, oder wie sie mir das Schwert in den Hintern rammt und zum Mund wieder raus.«

Alice schauderte. Sie konnte ihr das nicht verdenken, denn er hatte sicher nichts Besseres verdient, aber trotzdem war die Vorstellung grauenhaft.

»Ja, grauenhaft«, stimmte Raupe ihr zu. Er zeigte auf den Schmetterling. »Sie hingegen denkt an nichts als den Tod, aber der Tod, den sie sich wünscht, ist ihr eigener. Jeden Tag hofft sie, dass ich ihr das Genick breche, wie ich ihr die Beine gebrochen habe. Aber ich könnte es nicht genauso machen, weißt du. Bei ihren Beinen habe ich einen Hammer benutzt, und das wäre doch ein sehr ineffizientes Werkzeug für ein Genick. Einfach umdrehen, ein schnelles Ende, das ist viel besser.«

»Warum tust du es nicht?«, fragte Alice in dem Versuch, nichts zu denken, was er sehen könnte. Die Wolken, die durch ihre Gedanken segelten, wurden zu dicken Gewitterwolken, grau und beschützend.

»Es gibt Männer, die mögen Mädchen, die nicht vor ihnen weglaufen können«, erklärte Raupe. »Nicht dass irgendeine tatsächlich hier wegkönnte, nicht wirklich, aber ich biete für jeden Geschmack etwas an. Einer hat sogar extra bezahlt, um zuzusehen, wie ich ihr die Beine gebrochen habe.«

Er zog die Brauen ein wenig zusammen. »Du bist ziemlich gut, weißt du das? Ich hätte dir nicht sagen sollen, wie es funktioniert. Jetzt seh ich kein Stück mehr. Und bei ihm …« Er zeigte mit dem Daumen auf Hatcher. »Sein Geist ist wie der zentrale Platz in der Neuen Stadt am Gabentag – nichts als Lärm und blinkende Lichter, und alles rennt in alle möglichen Richtungen. Macht mir schon Kopfschmerzen, wenn ich nur daneben stehe.«

Gabentag. Alice erinnerte sich daran, wie sie mit ihrer Mutter auf den Platz gegangen war, um ihr Geschenk von den Stadtoberhäuptern zu empfangen. Alle trugen ihre besten Kleider, es gab Feuerwerk und Süßigkeiten und Jongleure. Jedes Kind der Neuen Stadt bekam ein kleines eingepacktes Schächtelchen als Dank für gutbürgerliches Verhalten.

Darin war immer eine Silbermünze, geprägt mit dem Jahr und dem Symbol, das die Regierung für das jeweilige Jahr erwählt hatte. Auf einer Münze war ein Wolf, auf einer anderen ein Baum und auf wieder einer anderen ein Bär. Jedes Symbol sagte etwas über den Weg aus, den die Stadt im kommenden Jahr nehmen würde, allerdings hatte Alice das nie verstanden.

Sie dachte an all das, achtete aber sorgfältig darauf, die Wolken immer ganz vorn in ihren Gedanken zu halten, damit Raupe keinen Zugriff auf ihre Erinnerungen bekam. Grinser musste nicht so geschickt im Gedankenlesen gewesen sein, sonst hätte er sich die Erinnerungsfragmente daran, wie Alice dem Kaninchen das Auge ausgestochen hatte, selbst herausholen können, als sie in seinem Rosensalon gesessen hatte.

»Ich interessiere mich nicht für dein sogenanntes Geschäft«, sagte Alice und ließ dabei ihre Abscheu sehen. Sie hatte es allmählich gründlich satt, bösen Männern beim Reden zuzuhören. Sie wollte einfach nur wissen, wo das Schwert zu finden war, damit sie endlich hier wegkamen. »Hast du, wonach wir suchen?«

Raupe trat an das Gefäß, in dem der Schmetterling gefangen war. Nachdenklich strich er mit den Fingern über das Glas.

»Ich wünschte, ich hätte es. Und doch, auf eine gewisse Weise bin ich froh, dass ich es nicht habe, denn so wird er wenigstens nicht hierherkommen, um danach zu suchen.«

»Weißt du, wo es ist?«, fragte Hatcher. Seine Stimme klang rau, und die Haut in seinem Gesicht spannte.

Alice erschrak. Der Jabberwock musste in ihm arbeiten. Es wäre schlimm, wenn er jetzt einen Anfall bekam. Sie könnte sich vielleicht gegen Raupe verteidigen, aber wenn er Theobald zu Hilfe rief …

Sie blickte zu den beiden Gläsern. Lieber würde sie das Messer gegen sich selbst richten, sich die Zunge herausschneiden oder was eben sein musste. Sie würde nicht zulassen, dass Raupe sie zu seiner eigenen Unterhaltung in einen Glasbehälter steckte und sie dann bei dem Kaninchen gegen jemanden eintauschte, den er noch interessanter fand (und sie wusste, dass er das tun würde).

Raupe strich weiter mit den Fingern über das Glas und betrachtete das Mädchen darin, das er gebrochen hatte. »Bei dem Einzigen, der es haben könnte, wenn man bedenkt, dass ihr ausersehen seid, es zu finden.«

Es lief doch immer auf das Gleiche hinaus. Sie wusste das inzwischen, denn wie sollte sie jemals frei von ihm sein, ohne ihn noch einmal wiederzusehen?

»Das Kaninchen«, sagte Alice.

Raupe nickte wieder. »Oh, wie ich sein Gesicht genießen werde, wenn er dich wiedersieht.«

»Das hat nichts mit dir zu tun«, sagte Alice. »Warum solltest du dabei sein?«

»Der schnellste Weg in den Bau des Kaninchens führt durch den Untergrund«, erklärte Raupe. »Meine Pfade können dich dorthin bringen. Es wird so wunderschön werden, wenn du wieder mit deiner Freundin Dor vereint sein wirst, nicht wahr?«

Dor? Am Leben? Alice merkte, dass sie nie gedacht hatte, dass Dor noch am Leben sein könnte. Da war ein weißer Fleck in ihrer Erinnerung – erst war Dor da gewesen, bei der Teegesellschaft, und dann nicht mehr. Aber wenn sie lebte, dann konnte das nur bedeuten, dass ihr Schicksal schlimmer als der Tod gewesen war.

»Ja, die kleine Dor«, sagte Raupe. »Ich hoffe, du wirst ihr jetzt vergeben. Sie sollte eigentlich nur das Geld nehmen und dich zurücklassen, aber dann hast du dem Kaninchen das Auge ausgestochen und sie stattdessen dort zurückgelassen. Jetzt huscht sie umher wie eine kleine Maus, hin und her, dem Kaninchen zu Willen.«

(eine kleine Hand, die Gold von einer größeren nahm)

Es war zu viel, einfach zu viel, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie eine Zauberin war und dass sie das Kaninchen wiedersehen würde. Es war zu viel, jetzt auch noch zu erfahren, dass Dor, im zarten Alter von sechzehn Jahren, versucht hatte, sie an ein Ungeheuer zu verkaufen. Dor, die ihre beste Freundin gewesen sein sollte, die Freundin, die sie von klein auf geliebt hatte. Die Wolken rissen auf, und Raupe lächelte.

»Ah, wusstest du nichts von ihrem Verrat? Dummes Mädchen. Wie, glaubst du denn, bist du im Bau des Kaninchens gelandet?«

»Ich …«, begann Alice, die sich beeilte, ihre Gedanken wieder zusammenzukramen und zu verbergen. »Ich muss wohl immer geglaubt haben, dass er sie reingelegt hat, dass er sie mit schönen Worten geködert hat, sodass sie zurückkam.«

»Wie sollte es ein anständiges Mädchen aus der Neuen Stadt überhaupt an einen solchen Ort verschlagen? Wie sollte Dor das Kaninchen getroffen haben, damit er sie so betören konnte, dass sie ihre ahnungslose Freundin an einen verbotenen Ort mitnimmt?«

Sie fühlte sich ziemlich dumm bei seinen Worten, dumm und schwerfällig, weil sie es nicht wusste. Warum hätte sie einer Freundin nicht trauen sollen, ihrer wundervollsten Freundin auf der ganzen Welt? Warum hätte sie nicht auch nur ein Mal über die Stränge schlagen wollen, nur ein Mal kurz von etwas Gefährlichem kosten wollen dürfen? Es hatte nicht wehtun sollen. Es hatte nicht gruselig werden sollen. Aus Dors Mund hatte es sich angehört, als würden sie auf ein Abenteuer gehen, ein Abenteuer, das sie für sich behalten und an das sie sich immer erinnern konnte, wenn sie sich behütet in ihrem eigenen Bett unter die Decke kuschelte.

»Natürlich hat sie dir so was erzählt, du Dummkopf«, sagte Raupe und sah über seine lange Nase verächtlich auf sie herab. »Sie wollte, dass du freiwillig mitkommst. Dennoch, am Ende ist es für dich ja noch gut ausgegangen. Nicht wie bei Nicolas.«

Alice sah zu Hatcher. Schweiß rann an seinen Schläfen herunter. Er kämpfte hart, versuchte hier bei ihr zu bleiben, damit er sie beschützen konnte. Sie stellte sich ganz dicht neben ihn, auch wenn sie sich nicht traute, den Arm um ihn zu legen, weil sie fürchtete, dass Raupe dann merkte, wie sehr sie ihn mochte. Jede Handlung, jedes Wort konnte gegen sie verwendet werden.

»Was meinst du damit?«, fragte Hatcher.

»Wieso fragst du? Jenny natürlich«, sagte Raupe.

Wieder dieser Name – Jenny. Allein der Gedanke an sie hatte Hatcher in Grinsers Irrgarten an den Rand des Wahnsinns getrieben, und hier war noch jemand, der diesen Namen kannte, wusste, dass er Hatcher etwas bedeuten müsste.

»Das Kaninchen hat gelogen und gesagt, ihr würde nichts passieren, stimmt’s?« Raupe schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Wenn du deinem Arbeitgeber nicht vertrauen kannst, wem sollst du dann überhaupt noch vertrauen? Dein Kind hätte tabu sein müssen, oder etwa nicht?«

»Arbeitgeber?«, fragte Alice. Hatcher hatte für das Kaninchen gearbeitet? Hatte er ihr deshalb immer geglaubt, wenn sie von ihm gesprochen hatte, weil irgendwo tief in seinem Gedächtnis die Erinnerung an das Kaninchen vergraben war? Was hatte Hatcher für diesen Mann getan, für dieses Ungeheuer? War er ein Wachhund gewesen wie Theobald oder Theodor? Ein Frauenfänger, der sie in Säcke steckte? Ihr Hatcher, der sie verteidigt hatte, der sie vor dieser Art von Männern beschützte?

»Kind«, sagte Hatcher und taumelte rückwärts, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. »Kind. Ja. Meine Jenny. Mein wunderschönes Mädchen.«

Er riss die Augen auf, aber sein Blick wurde nicht leer. Eine Million Erinnerungen durchliefen diese grauen Augen. Alice konnte sehen, wie sie ihn packten, ihm den Atem raubten, sein Herz in Stücke prügelten.

»Was hat er gemacht?«, wollte Alice wissen.

»Nicolas? Oder das Kaninchen?«, fragte Raupe.

Er beobachtete, wie Hatcher auf die Knie fiel, nach Luft rang, und das selbstgefällige Grinsen in seinem Gesicht weckte in Alice den Wunsch, ihn hier auf der Stelle zu töten, ohne Fragen zu stellen und ohne Gnade. Sie fühlte den Hass der Meerjungfrau, das Verlangen nicht nur nach Blut, sondern auch nach Schmerz. Raupe tat Hatcher weh, und Alice wollte der Raupe wehtun.

»Jenny«, stöhnte Hatcher.

So hatte ihn Alice noch nie gesehen, nicht einmal unter dem Einfluss des Jabberwocks. Sie hatte ihn noch nie so geschlagen gesehen.

»Er kennt die Geschichte, denn es ist seine eigene«, sagte Raupe. »Aber sie ist in diesem Gewirr verheddert, das er ein Gehirn nennt, und jetzt denkt er nur einen einzigen Namen – Jenny. Ich kenne die Geschichte ebenfalls, weil das Kaninchen sie mir erzählt hat. Ich sammele nicht nur Dinge, weißt du, sondern auch Geschichten.«

Alice wartete. Er genoss seine Vorstellung und wollte, dass sie ihn um mehr bat. Sie würde ihm nicht geben, was er wollte, wie sie es bei Grinser getan hatte.

Verärgerung flackerte in seinen Augen auf, aber er erzählte weiter. »Nicolas war mal ein schwerer Junge, damals, wenn auch nicht so schlimm, wie er hätte werden können. Er hat sich geprügelt, hat getrunken und Ärger gemacht, wo er ging und stand. Er war groß und stark und sah gut aus, und all die schlimmen Mädchen wollten an seinem Arm hängen. Findest du nicht auch, dass er gut aussieht, Alice?«

Hatcher sah gut aus, wurde ihr klar, nicht nur in ihren Augen. Er hatte ein ebenmäßiges Gesicht und die dramatischen Farben, die attraktiv wirkten, selbst jetzt, mit den grauen Bartstoppeln und dem Wahnsinn in den Augen. Und er war groß und stark, groß genug, dass auch ein Mädchen wie Alice sich in seiner Gegenwart klein und beschützt fühlen konnte. Mädchen in der Alten Stadt würden so etwas mögen.

Raupe fuhr fort, anscheinend zufrieden mit Alice Gesichtsausdruck. »Eine Zeit lang war er sogar ziemlich berühmt, ist gegen Geld in jeden Ring gestiegen, und reiche Männer haben auf ihn gewettet.«

Da hat er sich die Nase gebrochen, dachte Alice.

»Eines Tages kam das Kaninchen, um Nicolas gegen einen Riesen kämpfen zu sehen, so groß und unschlagbar, dass man ihn nur den Fleischwolf nannte. Der Fleischwolf hat aus seinen Gegnern Hackfleisch gemacht, verstehst du?«

Raupe fand das offensichtlich sehr lustig, denn er lachte schallend über seinen eigenen Witz. Alice wartete und übte sich in Geduld.

»Nun, eine Weile sah es aus, als würde der Fleischwolf auch aus Nicolas Hackfleisch machen, genau wie er es mit all den anderen getan hatte. Doch dein Hatcher kann manchmal ziemlich unvernünftig sein, ist dir das schon aufgefallen? Jedenfalls schien er nicht gewillt, den Fleischwolf gewinnen zu lassen. Als es vorüber war, zeigte Nicolas’ Nase zur Seite, und seine Augen waren zugeschwollene Schlitze, aber sein Stiefel stand auf des Fleischwolfs Brust, und der Fleischwolf kam nicht mehr hoch.

Einen so temperamentvollen Kämpfer wollte das Kaninchen für sich haben. Nicolas hatte aber keine Lust dazu. Er wusste, was für ein Mann das Kaninchen war und was er mit Frauen machte. Nicolas war was Besseres als Männer wie das Kaninchen und ich, nicht wahr?« Seine Stimme war scharf geworden. »Dachte, er könnte sich aus dem Schlamm befreien, in den er hineingeboren war. Also sagte er nein.

Aber das Kaninchen kennt kein Nein. Er denkt, dass es immer einen Weg gibt, immer einen Preis. Und mach dir nichts vor, Alice – es gibt immer einen Weg, immer einen Preis. Alle sind käuflich. Das Kaninchen hat Nicolas’ Preis in Hattie gefunden.

Hattie war eins von seinen Mädchen, und ihre Augen waren traurig und blau, genau wie deine, nur dass darin kein Kampfgeist mehr blitzte. Sie hatte schon vor Jahren aufgegeben. Nicolas sah sie und wollte ihre Traurigkeit vertreiben, wollte sie wieder in Ordnung bringen. Als das Kaninchen mit Hattie am Arm vorbeikam, bot Nicolas ihm seine Dienste für ihre Freiheit an.«

Ja, das war ihr Hatcher, dachte Alice. Das war genau das, was er tun würde.

»Dem Kaninchen war ein guter Kämpfer wichtiger als ein abgenutztes Mädchen. Er kam jederzeit überall an neue Mädchen und war der Meinung, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Nicolas heiratete Hattie und holte sie fort von da und beschützte sie. Und wenn das Kaninchen jemanden hatte, der sich schwer überzeugen ließ, schickte er Nicolas zu ihm.

Schon bald hatten sie ein properes Baby mit schwarzen Haaren und grauen Augen, ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, und sie nannten es Jenny. Und als das Mädchen größer wurde, wurde sie von Tag zu Tag hübscher. Sogar, als sie noch ein ganz kleines Ding war, sagten die Leute zu ihr, dass sie einmal zu einer Schönheit heranwachsen würde. Als Nicolas das hörte, begann er, sich Sorgen zu machen, denn ein schönes Mädchen zieht in der Alten Stadt zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Also bat er das Kaninchen, in der Stadt zu verbreiten, dass sie unter seinem Schutz stand und ihr nichts zu Leide getan werden durfte. Und das Kaninchen versprach es.

Er versprach es, aber das Mädchen wuchs heran, und mit zehn war sie so schön, so schön, viel zu schön, um ihre Schönheit in Nicolas und Hatties kleiner Hütte zu verschwenden. Ein Mädchen wie sie, so frisch und neu und lieblich, konnte ein Vermögen einbringen. Das Kaninchen wollte sie für sich selbst, aber er wollte das Schicksal nicht herausfordern. Er hatte gesehen, was passierte, wenn Nicolas wütend wurde.

Eines Abends, als Nicolas im Auftrag des Kaninchens unterwegs war, schickte der sechs Männer zu seinem Haus. Einer von ihnen nahm Jenny mit. Die anderen fünf vergnügten sich mit Hattie, während sie auf Nicolas warteten. Sie übertrieben es etwas und spielten so grob mit ihr, dass sie starb, bevor Nicolas nach Hause kam.

Als er zurückkam, war seine Tochter verschwunden und seine Frau vergewaltigt und tot. Die Nachbarn hörten den Lärm aus der Hütte, sahen das Blut unter der Tür hindurch auf die Straße fließen. Als die Bullen kamen, mussten sie zwanzig Männer schicken, um ihm die Axt aus der Hand zu winden, und von den anderen waren nur noch unidentifizierbare Stücke übrig.

Nicolas wurde weggebracht, aber er war nicht tot, und das Kaninchen wollte nicht, dass der Schlächter von Schnucken eines Tages zurückkehrte und es ihm heimzahlte. Also verkaufte er Jenny an einen fahrenden Händler aus dem Osten, der sie durch den Wald und über die Berge mitnahm und weit fort brachte. Wenn Hatcher jemals zurückkam, würde das Kaninchen sicher vor ihm sein, denn er war der Einzige, der wusste, wer sie mitgenommen hatte.«

»Nur dass er sich da irrt«, sagte Hatcher, und seine Stimme klang wie eine Klinge am Wetzstein.

Er stand auf, seine Augen loderten. Sogar Alice, die ihn liebte, bekam Angst vor ihm. Das war der Jäger, der Axtmörder, der Schlächter, der ohne Angst vor den Folgen metzelte.

»Da irrt er sich, er ist nicht in Sicherheit«, wiederholte Hatcher. »Denn ich werde ihn finden und ihm das Fleisch Stück für Stück von den Knochen schälen. Das Kaninchen wird sich nirgendwo verstecken könnten, es gibt kein Loch, in das er verschwinden kann. Ich werde nicht ruhen, bis ich ihn um Gnade schreien höre, die er niemals bekommen wird.«

Raupe klatschte in die Hände. »Wunderbar, wunderbar. Ja, das wird ein Schauspiel werden, wenn ihr beiden wieder auf das Kaninchen trefft.«

Das war der Moment, in dem Alice sich auf ihn stürzte.