9
Dornen pikten überall in ihre Haut, stachen nach ihrem Gesicht, ihren Händen und ihrem Scheitel und krochen durch ihre Jacke und Hose. Sie meinte, Hatcher ihren Namen rufen zu hören, war sich aber nicht sicher, denn die Rosen drangen in ihre Ohren und ihre Nase und unter ihre Augenlider und krochen von überall in sie hinein. Als sie den Mund aufmachte, um zu schreien, drängten sich die Rosen auch da hinein und würgten sie.
Hört auf, hört auf, hört auf, hört auf, hört auf! Sie wünschte, sie wäre eine Zauberin. Dann könnte sie die Rosen wegzaubern, aus diesem Irrgarten herausfinden, der Alten Stadt für immer entfliehen und den Jabberwock vergessen und das Kaninchen und Grinser und das Walross und Herrn Zimmermann und die Rosen und alles, was ihr Angst machte, sie weinen ließ oder bluten. Sie würde die Rosen bis auf die Wurzeln abbrennen, sodass sie nie wieder jemandem wehtun könnten.
Ihre Hände waren heiß, heiß von ihrem eigenen Blut, das aus ihrer von Dornen zerstochenen Haut die Arme hinunter über ihre Handflächen lief, doch dann waren da plötzlich Rauch und das Quietschen einer Million winziger Kreaturen. Die Dornen wurden aus ihrer Haut gerissen, und die Blumen lösten sich eilig von ihrer Kehle, krochen aus Nase, Augen und Ohren heraus, und irgendetwas stieß sie hart von hinten in den Rücken, und dann war sie draußen, lag platt auf dem Gras und weinte und spuckte Rosenblätter.
»Alice, Alice.« Hatchers Stimme und dann Hatchers Hand überall auf ihrem Körper, die sie tröstend klopfte, und dann Hatchers Arme, die sie auf seinen Schoß nahmen und hin und her wiegten, während sie weinte und weinte und weinte.
Jegliche Kraft, die sie gefunden zu haben glaubte, hatte sie verlassen, war unter dem Angriff der Rosen zerschmettert worden.
Hatcher strich ihr mit der Hand über den Rücken und sagte: »Alice, meine Alice, hör auf zu weinen. Ich halt das nicht aus, wenn du weinst.«
»Ich w-w-will nach H-Hause«, schluchzte sie. Ihre Zunge schmeckte nach Salz und Rosen.
»Wohin denn, Alice?«, fragte Hatcher. »Wo ist denn zu Hause? Wir haben kein Zuhause, du und ich.«
»Dann will ich zurück ins Krankenhaus«, sagte sie. »Da waren wir in Sicherheit. Nichts konnte uns wehtun. Nichts konnte uns einfach packen und wegzerren.«
»Außer den Ärzten«, sagte Hatcher. »Oder den Medikamenten, die sie uns gegeben haben. Oder unseren eigenen Erinnerungen. Wir waren da nicht in Sicherheit, Alice. Das war eine Illusion. Und das Krankenhaus ist abgebrannt. Wir können nirgendwohin zurück. Wir können nur vorwärts gehen. Wir können unseren Weg nach draußen finden.«
Da schluchzte sie noch heftiger, weil sie wusste, dass er recht hatte. Sie konnten nirgendwohin, und es gab keinen sicheren Ort für sie, und sie waren in diesem Irrgarten gefangen, den Launen eines Verrückten ausgeliefert.
»W-w-woher weißt du, dass es überhaupt einen Ausweg gibt?«, fragte sie. »Woher weißt du, dass Grinser uns nicht für immer hier gefangen hält und uns bis ans Ende unseres Lebens im Kreis rennen lässt?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Hatcher. »Aber eins weiß ich: Du bist eine Zauberin, so sicher, wie ich irre bin.«
»Fang nicht schon wieder damit an, Hatch«, sagte sie müde. Sie hatte keine Lust mehr, darüber zu streiten.
»Sieh nur«, sagte er, hob ihr Kinn sanft mit dem Finger an und drehte ihren Kopf.
Da war ein Loch in der Rosenhecke – eine rauchende, verkohlte Öffnung, wo eben noch Rosen gewachsen waren.
»Hast du sie angezündet?«, fragte Alice. »Haben sie mich deshalb freigelassen?«
»Du hast sie in Brand gesteckt«, erklärte Hatcher. »Ich glaube nicht, dass die Rosen uns noch länger Ärger machen werden.«
Mit diesen Worten stand er auf, hielt sie immer noch in den Armen wie ein kleines Kind. Ihr war nie bewusst gewesen, wie groß und stark er wirklich war, aber sie war sehr groß, und er konnte sie halten, als wäre sie nichts, ein kleines Dingelchen. Er ging auf die Rosenhecke zu, die die Mauer des Irrgartens bildete, und Alice drehte den Kopf gegen seine Brust und kniff die Augen zu.
»Nein«, sagte er. »Guck hin.«
Sie öffnete die Augen gerade genug, um durch die Schlitze zu lugen, und riss sie dann erstaunt weit auf. Die Rosen wichen vor ihnen zurück, kringelten sich und rollten sich zusammen. Da überwog Alice’ Neugier die Angst, und sie streckte die Hand danach aus.
Die Rosen schreckten vor ihrer Berührung zurück und gaben dabei ein hohes Kreischen von sich, als hätten sie Angst.
Angst vor ihr.
»Eine Zauberin?«, hauchte sie.
»Eine Zauberin«, bestätigte Hatcher.
»Vielleicht«, sagte sie. Es wäre wundersam, wenn das stimmte, aber auch grauenvoll. Einfach zu viel.
»Na gut«, sagte Hatcher und setzte sie ab. »Kannst du wieder gehen?«
Ihre Knie waren weich, und ihr Magen fühlte sich an, als wäre sie seekrank. Alice schloss erneut die Augen, lehnte sich einen Moment lang an Hatchers Schulter und atmete tief und langsam durch die Nase ein und aus. Die Luft war nicht mehr vom Gestank der Rosen durchtränkt. Ein frischer Wind bließ durch die Hecken und brachte den süßen, sauberen Duft von Gras mit sich.
Sie machten sich wieder auf den Weg, hielten sich streng geradeaus und blickten in jede Biegung, wie sie es zuvor getan hatten. Alice fühlte sich alles andere als sicher. Ihr Herz raste, und auch wenn jede Rose, an der sie vorbeikamen, vor ihnen zurückwich, fiel es ihr schwer, keine Angst zu haben. Für den Moment hielten sich die Blumen zurück, aber es gab keine Garantie, dass das auch in Zukunft so blieb.
Kurz dachte sie darüber nach, sich einfach mit Feuer einen Weg aus dem Irrgarten zu brennen. Dieser Plan war aus zwei Gründen nicht umsetzbar. Erstens könnte Grinser ihnen die Zerstörung seines Spielzeugs übel nehmen. Er war nicht ihr Freund, aber bis jetzt schien er auch nicht ihr Feind zu sein. Und Alice wollte ihn auch nicht dazu machen.
Und dann war da die Frage, wie sie die Rosen verbrennen sollte. Irgendwie hatte sie Magie gewirkt – zwei Mal, behauptete Hatcher –, aber sie wusste weder das eine noch das andere Mal, wie sie das angestellt hatte. Wenn sie jetzt versuchte, die Rosenbüsche in Brand zu setzen, und nichts passierte, würden die Rosen wissen, dass sie nichts von ihr zu befürchten hatten, und wieder angreifen.
Während sie weitergingen, brannte die Sonne unerbittlich auf sie herab, ohne jemals ihre Position am Himmel zu verändern. Die Hecken warfen keinen Schatten, es gab nichts, worunter man sich vor dem erbarmungslosen Scheinen verstecken konnte. Schnell hatten sie alles Wasser ausgetrunken, das Hatcher dabeihatte, und es war nicht ansatzweise genug.
Alice zog die Jacke aus, band sie sich um die Taille und steckte das Messer hinter den Gürtel ihrer Hose. Hatcher tat es ihr sofort nach, und Alice konnte nun sehen, wie er seine ganzen Waffen befestigt hatte. Er trug eine Art Geschirr – es erinnerte sie an Mulis, die Karren zogen – mit allerlei Taschen, das eng um seinen Körper gezurrt war. Die Axt schwang griffbereit an seiner Hüfte, weiter oben waren große und kleine Messer und die Pistole, die Grinsers Lächeln eingefroren hatte, wenn auch nur für einen Augenblick. Dort, wo das Geschirr an Hatchers Hemd anlag, waren dunkelgraue Linien aus Schweiß.
Sie selbst war inzwischen auch schweißgebadet, trotzdem war ihre Kehle ausgedörrt. Das Labyrinth des Irrgartens wollte einfach kein Ende nehmen, und nirgendwo war Wasser in Sicht oder zu hören. Nach einer Weile begann Hatcher, vor sich hin zu murmeln.
»Kaninchen und Raupen und Schmetterlinge und Zimmerleute«, sagte er. »Ich hack mich durch ihre Reihen wie durch eine Fichtenschonung. Sieh nur, wie meine Axt weit ausholt und glänzt und sie alle fallen, niedergehauen wie Spielzeugsoldaten. Jenny. Wer ist Jenny? Grinser dachte, ich kenne sie. Jenny. Jenny. Sie hatte graue Augen.«
Alice sagte: »Du hast graue Augen.«
Ihre Zunge fühlte sich dick an in ihrem Mund, und die Worte klangen nicht richtig in ihren Ohren.
»Jenny«, sagte Hatcher noch einmal, nahm die Hände hoch und umklammerte seinen Kopf. Alice sah, wie seine Knöchel weiß wurden, als versuchte er, die Erinnerungen aus seinem Kopf herauszuquetschen. »Jenny. Grinser hält sich für so schlau. Aber irgendwann muss auch er mal schlafen. O ja, irgendwann muss er schlafen.«
Blut rann aus Hatchers linkem Nasenloch, während er sprach, über seine Lippe und sein Kinn, ein wahrer Strom, der Alice vor Schreck erstarren ließ. Sie vergaß, wie durstig sie war und wie müde.
»Hatch«, sagte sie, zog an seinem Arm, versuchte ihn davon abzubringen, seinen eigenen Kopf zu zerquetschen. »Hatch, hör auf.«
Er legte den Kopf schief, doch seine Augen erkannten sie nicht. »Bist du Jenny? Nein, du bist nicht Jenny. Deine Augen sind falsch.«
»Hatcher«, sagte Alice. »Komm zurück zu mir.«
»Sie hatte graue Augen«, sagte er. »Graue Augen. Du bist zu groß, um Jenny zu sein. Hör auf, so zu tun.«
»Ich bin nicht Jenny«, sagte sie und versuchte, ihre Stimme ruhig und fest klingen zu lassen. »Ich bin Alice.«
»Nicht Jenny«, sagte er, und dann ließ seine rechte Hand den Kopf los, und das Messer war darin.
Sie ließ seinen Arm los und machte einen Schritt rückwärts: »In Ordnung, Hatch. In Ordnung.«
Sie hätte ihn nicht davon abhalten können, ihr das Herz aus dem Leib zu schneiden, wenn er das wollte. Sie hatte dieser Klinge nichts entgegenzusetzen und auch nicht der Hand, die sie führte. Also entfernte sich Alice, ging rückwärts, den Blick fest auf Hatcher gerichtet und die Hände erhoben. Frisches Blut tropfte auf sein Hemd.
»Jenny«, sagte er wieder, und seine Stimme klang summend. »Meine kleine Meerjungfrau schwimmt im Meer, meine Jenny.«
Er stolperte zur Seite, sein Hemd verfing sich in den Dornen der Hecke. Alice hielt den Atem an, aber die Rosen schlangen sich nicht um ihn. Hatcher riss sich los und stolperte nach vorn.
Dann hörte Alice es. Jemand sang, sang mit wunderschöner Stimme. Hatcher musste es auch gehört haben, denn er hielt inne und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam.
»Da lang«, sagte er und rannte zur nächsten Kreuzung zurück, die ein paar Meter hinter ihnen lag.
»Hatcher!«, rief Alice und rannte ihm nach. Woher nahm er plötzlich die Energie? Seine Stiefelabsätze verschwanden hinter einer Biegung, sie musste sich anstrengen, um mitzuhalten. »Hatcher!«
Die Stimme sang immer noch, zu lieblich, um echt zu sein, und irgendwie …
Nicht wirklich schön, dachte Alice. Es war der Gedanke eines kleinen Mädchens, das wusste sie, aber es war auch wahr. Bei aller Schönheit lag etwas Grausames in dieser Stimme. Sie bog um die Ecke, an der sie Hatcher zum letzten Mal gesehen hatte, und kam auf eine Kreuzung, von der vier Wege abgingen.
»Hatcher!«, rief sie wieder, lief kurz in jeden Weg hinein, ohne ihn zu finden. Hatcher war verschwunden.
Der Gesang verstummte.
Jetzt war Panik in ihrem Magen und ihrem Herzen und ihrem Mund. Noch nie war sie ohne Hatcher gewesen, noch nie ganz auf sich allein gestellt, nicht seit dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal durch das Mauseloch hindurch angesprochen hatte. Was sollte sie ohne Hatcher nur machen? Wie sollte sie überleben?
Finde ihn, du dämliche Heulsuse, sagte eine feste Stimme in ihrem Kopf. Diese Stimme klang Grinser verstörend ähnlich. Alice gefiel der Gedanke ganz und gar nicht, dass ihr Geist die Identität einer Person annehmen könnte, die sie aus tiefstem Herzen verabscheute. Nutz deinen Verstand und finde ihn.
»Aber wie?«, fragte sie sich, während sie sich nach irgendeiner Spur von Hatcher umblickte.
Nirgendwo war das Gras niedergedrückt, um anzuzeigen, dass er dort entlanggegangen war. Es gab überhaupt nichts, was anzeigte, wo er gegangen sein könnte. Die Sonne schien greller denn je, blendete sie, ließ sie leuchtend gelbe Flecken sehen, wenn sie die Augen schloss, und schwarze, wenn sie sie wieder aufschlug. Sie rieb sich über das Gesicht, blinzelte gegen das gleißende Licht an und blickte auf ihre Schuhe hinab, um die Sonne kurz auszublenden.
Neben ihrem rechten Absatz war ein winziger Tropfen Blut auf einem Grashalm, ein kleines hellrotes Juwel, das in der nicht enden wollenden Hitze schnell braun antrocknete.
Alice ließ sich auf alle viere fallen und betrachtete den Grashalm aus der Nähe. Ihre Augen suchten weiter vorn, bis sie einen anderen Grashalm mit einem roten Tröpfchen darauf fand, das ebenso in der Sonne trocknete.
Sie legte den Kopf auf die Erde, sodass ihre Nase direkt über dem Gras war, und kroch eilig los (wie ein Welpe, der etwas Gutes riecht), folgte der Spur aus Blutstropfen in den Weg hinein, der rechts abging. Kurz darauf, als sie sich sicher war, dass Hatcher diesem Weg gefolgt war, stand sie wieder auf.
Sie versuchte zu rennen, war aber viel zu erschöpft und durstig, um das Tempo über längere Zeit zu halten. Sie spürte, dass Hatcher in Gefahr war, konnte ihren entkräfteten Körper aber nicht zwingen, sich schneller zu bewegen.
Eil dich, Alice, eil dich, eil dich.
Sie erreichte eine andere Kreuzung mit zwei Möglichkeiten und ging mit der Nase wieder dicht an den Boden. Dieses Mal war das Blut frischer, immer noch glitzernd-hell, und Hoffnung erwachte in ihr. Vielleicht war er gar nicht so weit vor ihr. Vielleicht konnte sie ihn noch retten.
Aber der Gesang hat aufgehört.
Das war beunruhigend. Alice vermutete, dass der Gesang sie zu der Sängerin führen sollte. Wenn sie (Alice dachte, dass es sich nach einem weiblichen Wesen angehört hatte, auch wenn es nach allem, was sie wusste, genauso gut eine Schildkröte hätte sein können) nicht mehr sang, dann bedeutete das womöglich, dass sie bekommen hatte, was sie wollte. Alice wollte nicht, dass es Hatcher war.
Der Weg bog um eine weitere Ecke, und Alice folgte ihm. Dann blieb sie stehen und starrte.
Vor ihr dehnte sich eine große Wasserfläche aus. Zu groß, um als Teich zu gelten, zu klein für einen See, und das Wasser war so blau, dass es in den Augen schmerzte. Alice konnte es beinahe auf der Zunge schmecken, sie wollte sich hineinstürzen, untertauchen, bis sie ertrank.
In der Mitte des Sees befand sich eine kleine Insel, und auf der Insel stand ein kleines Häuschen, rosa-weiß gestreift wie eine Pfefferminzstange. Auf der Insel war niemand zu sehen, und Hatcher schien auch nirgendwo zu sein.
»Hatcher!«, schrie Alice, so laut sie konnte. »Hatcher!«
Dann sah sie es. Am Ufer, wo die kleine Wellen leckten, lagen seine Sachen auf einem Haufen. Noch beunruhigender war der große Stapel Waffen, der auf der verschmutzten Kleidung lag. Hatchers Axt war da. Alice konnte nicht glauben, dass er seine Axt freiwillig zurückgelassen hätte.
Sie setzte sich auf den Strand und zog Stiefel, Hose und Jacke aus, bis sie nur noch das übergroße Hemd am Leib trug. Das Messer war in ihrer Hand, als sie die Füße ins Wasser tauchte.
Es war kalt, aber auf erfrischende Art. Alice verspürte wieder diesen überwältigenden Drang, sich einfach auf den Grund des Sees sinken zu lassen, und schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
Sie wusste, dass Hatcher in Schwierigkeiten steckte, sonst hätte er geantwortet. Dennoch. Sie zögerte. Sie konnte nicht schwimmen. Das einzige Mal, dass sie in den letzten zehn Jahren im Wasser gewesen war, war, als sie und Hatcher in den stinkenden Fluss gesprungen waren, um dem Feuer des brennenden Krankenhauses zu entkommen. Sie wusste, dass sie mit den Füßen treten und die Arme bewegen musste, aber wie sollte sie sich über Wasser halten? Und der Gedanke, sich einfach sinken zu lassen, war immer noch sehr verführerisch. Der See war offensichtlich verwunschen, und Alice war sich nicht sicher, ob sie sich gleichzeitig darauf konzentrieren konnte, zu schwimmen und gegen den Drang anzukämpfen, sich untergehen zu lassen.
Ich muss zu Hatcher, dachte sie. Sie richtete ihren ganzen Willen auf diesen einen Gedanken und hoffte, dass es reichte.
Alice watete ins Wasser.
Halb erwartete sie, dass sich etwas Schreckliches aus dem Wasser erhob, ein grünes Monster mit langen Armen, um sie zu packen, oder ein silbergeschuppter Drache mit rasiermesserscharfen Fangzähnen. Ihre Kinderbücher waren voll von solchen Kreaturen gewesen. Doch nichts störte die Wasseroberfläche, abgesehen von Alice selbst.
Bald schon reichte ihr das Wasser bis über die Knie, und dann fiel der Boden unvermittelt ab, und ihr Kopf tauchte unter Wasser.
Es geschah so plötzlich, dass sie keine Zeit mehr hatte, Luft zu holen. Das Wasser schlug über ihr zusammen, so herrlich leicht und erfrischend nach der brütenden Hitze im Irrgarten. Aber sie konnte nicht atmen. Ihr Brustkorb schmerzte bereits vor Anstrengung, die Luft anzuhalten, und sie sank sehr schnell.
Alice öffnete die Augen unter Wasser und fand es klar und absolut ruhig. Der Grund des Sees war nicht mehr weit.
Er war mit Skeletten übersät.
Sie trat heftig mit den Füßen, um hochzukommen, wollte die verlassenen Knochen im Schlamm nicht berühren, wollte nicht das nächste Opfer dessen werden, was immer in dem Pfefferminzstangenhäuschen lebte.
Ihr Gesicht durchbrach die Wasseroberfläche, ihr hektisches Gepaddel hielt gerade so Nase und Mund über Wasser. Das Häuschen war nicht weit entfernt, sie musste es nur noch ein bisschen weiter schaffen. Sie schluckte Luft und manchmal auch Wasser, und das Wasser schmeckte süß und köstlich, wie Limonade an einem Sommertag. Wieder dachte sie, dass sie sich auch gut auf den Boden des Sees sinken lassen könnte.
Hatcher, ermahnte sie sich und dachte nichts anderes mehr. Hatcher, Hatcher, Hatcher.
Sie strampelte sich durch das Wasser, kam in winzigen Schritten voran, und als ihre Füße das sandige Ufer in der Nähe des Häuschens berührten, was sie überrascht, es bis hierhin geschafft zu haben.
Alice kroch aus dem Wasser. Das Hemd war schwer vom See und schien sie zurückziehen zu wollen, aber ihre Hände und Knie bewegten sich vorwärts, und ihre Lippen sprachen immer wieder und wieder: »Hatcher, Hatcher, Hatcher.«
Dann erreichten ihre Finger Gras statt Sand, und sie rappelte sich auf, das Hemd tropfnass am Körper, das Messer, das Bess ihr gegeben hatte, fest in der rechten Hand.
Das kleine Haus mit den rot-weißen Pfefferminzstreifen (wie Blut, dachte Alice) lag ganz ruhig da. Die Tür war der einzige Eingang. Es gab keine Fenster, keinerlei Anzeichen davon, dass irgendjemand zu Hause war. Alice wusste, dass Hatcher hier war, denn er war nicht unter Wasser im See, verrottete nicht mit den anderen Knochen. Sie öffnete die Tür, der rote Türknauf bewegte sich leicht unter ihrer Berührung.
Hatcher lag nackt auf dem Boden, seine Augen blickten leer in weite Ferne. Eine Frau mit mondlichtweißer Haut beugte sich über ihn, mit dem Rücken zur Tür. Ihre Knochen, Wirbelsäule und Rippen, waren durch die Haut zu sehen. Ohne nachzudenken, stürzte sich Alice auf sie und vergrub ihr Messer im Nacken der Frau.
Sie wand sich und drehte ihr Gesicht zu ihr herum. Alice sah, dass sie gar keine richtige Frau war, sondern eine Kreatur aus einem Albtraum, etwas mit langen, nadelspitzen Zähnen, die sich über das Kinn hinaus bogen, und Augen so blind wie die eines Erdwurms. Die Spitze von Alice’ Messer ragte vorne aus dem Hals des Wesens.
Alice riss das Messer heraus, und Blut in der Farbe von Milch sprudelte aus dem Maul der Kreatur. Sie breitete die Arme aus wie Flügel und sackte über Hatcher zusammen, wobei die weiße Flüssigkeit sich überall auf seine Brust und seinen Bauch ergoss.
»Hatcher«, sagte Alice und schob die leblose Kreatur mit dem Fuß von ihm herunter.
Er setzte sich auf, rieb sich den Nacken und blickte sie verlegen an. »Ich glaube, sie wollte mich aufessen.«
»Das würde ich auch sagen«, antwortete Alice und wandte den Blick ab. Hatcher hatte bisher immer darauf geachtet, sich in ihrer Gegenwart nicht nackt zu zeigen.
Er stand auf, anscheinend vollkommen unbekümmert darüber, dass er nichts anhatte, und starrte einen Moment lang auf das Wesen hinunter. »Ich frage mich, wie lange sie schon hier lebt.«
»Eine ganze Weile, wenn man die Knochen auf dem Grund des Sees bedenkt«, meinte Alice.
Hatcher blinzelte. »Knochen?«
»Viele«, sagte Alice. »Lass uns ans andere Ufer zurückgehen. Wir haben unsere Sachen da liegen lassen.«
Sie verließen das Pfefferminzhäuschen – ein merkwürdiges Haus für so ein Wesen, dachte Alice, eigentlich hätte hier eine kleine dicke Hexe reingehört – und gingen ans Seeufer. Hatcher watete sofort hinein. Alice folgte ihm zögernd. Es war schon beim ersten Mal nicht gerade angenehm gewesen.
Als er bereits hüfttief im Wasser war, drehte sich Hatcher zu ihr um. »Was ist los?«
»Ich kann nicht richtig schwimmen«, sagte Alice.
»Du hast es hierher geschafft, oder?«, gab Hatcher zurück und streckte die Hand aus. »Na los, Dummerchen.«
Alice lächelte ein wenig und legte ihre Hand in seine.
Da erhob sich das Wasser in einer gigantischen Welle, höher als jedes Haus in der Stadt. Alice’ Kiefer klappte auf. Hatcher drückte ihre Hand und zog sie eng an sich, als die Welle über ihnen brach.
Einen Augenblick später bestand die Welt nur noch aus rauschendem Wasser und Hatchers Griff um ihre Hand. Alice’ Kopf ging unter, tauchte auf, dann wieder unter, unzählige Male. Sie konnte nichts sehen außer Wasser und Wellen, konnte nichts hören außer dem erbärmlichen Geplansche, das sie veranstaltete, um irgendwie nicht zu ertrinken. Hatcher ließ sie nicht los, nicht für einen Augenblick, und sie war sich sicher, dass sie zumindest zusammenbleiben würden, ob sie das hier überlebten oder nicht.
Grinser ist echt unausstehlich, dachte sie.
Die rauschenden Fluten verschwanden genauso plötzlich, wie sie gekommen waren. Sie wurden bäuchlings auf Kopfsteinpflaster geschleudert. Alice schmeckte Blut. Sie ließ das Messer fallen, wischte sich mit der freien Hand die Augen (Hatcher hatte seinen Griff um die andere nicht gelockert) und blickte sich benommen um.
Sie befanden sich in einer dunklen Gasse, anscheinend vollkommen verlassen, an deren Ende ein schwaches Licht zu sehen war. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie einen ordentlich zusammengelegten Stapel Kleidung vor sich liegen und darauf diverse Waffen gestapelt, einschließlich Hatchers Axt und Pistole.
»Sind das unsere Sachen?«, fragt Alice. »Hat Grinser sie uns mitgeschickt?«
»Am Ende ist er vielleicht doch ein Zauberer«, sagte Hatcher. »Zieh dich besser an, bevor jemand vorbeikommt.«
Sie zogen sich schnell an. Alice’ Hose und Jacke und Mütze waren trocken, aber das Hemd war tropfnass. Sie wrang den Saum aus, hielt es vom Körper ab und beobachtete, wie das Wasser auf die Steine tropfte.
»Du musst die Jacke zumachen«, sagte Hatcher.
Alice hatte dasselbe gedacht. Das nasse Hemd ließ sehr deutlich erkennen, dass sie nicht der Junge war, der sie zu sein vorgab. Ihr Busen war klein, aber doch nicht zu übersehen, wenn der Stoff daran klebte.
Hatcher kramte in ihrem Bündel herum. »Hier ist was zu essen.«
»Pasteten von Nell und Äpfel von Bess«, sagte Alice.
Hatcher schüttelte den Kopf. »Das ist verschwunden. Stattdessen gibt es neues Essen.«
Er zog einen kleinen Kuchen heraus, der wie eine Rose geformt war.
Alice winkte ab. »Ich will nichts essen, was von Grinser kommt«, sagte sie.
»Wahrscheinlich auch klüger so«, sagte Hatcher. »Ich hab immer noch mein Geld. Wir können uns was kaufen. Ich hab Hunger.«
Alice hatte überhaupt keinen Hunger. Sie hätte welchen haben müssen, aber die Erinnerung an das, was sie in Grinsers Haus und im Irrgarten erlebt hatten, verdrängte jeden Gedanken an Essen. War Grinser wirklich ein Zauberer? Oder hatte er einfach nur gelernt, die bereits vorhandene Magie zu manipulieren?
Du solltest dich lieber fragen, ob du selbst eine Zauberin bist.
Sie fühlte sich nicht wie eine. Ja, es waren seltsame Dinge um sie herum geschehen, aber das machte sie noch lange nicht zu einer Zauberin. Vor allem war es wichtig, dafür zu sorgen, dass nicht andere sie für eine Zauberin halten konnten. Sie hatten schon genug Ärger mit dem Jabberwock.
(und dem Kaninchen)
Bess hatte ihr gesagt, sie solle sich von dem Kaninchen fernhalten. Grinser hatte ihr gesagt, sie habe ihm das Auge ausgestochen und das Kaninchen habe sie nie vergessen. Je tiefer sie in die Alte Stadt vordrangen, desto wahrscheinlicher wurde es, dass sie auf den Mann stoßen würden, der seit Jahren durch ihre Albträume tanzte. Er würde sie mit Sicherheit wiedererkennen, wenn Grinser sie an der Narbe in ihrem Gesicht erkannt hatte, denn das Kaninchen war es gewesen, der sie ihr verpasst hatte.
Hatcher schnippte vor ihrem Gesicht mit den Fingern. »Hast du mich gehört, Alice? Wir müssen rausfinden, wo wir sind.«
»Ja«, sagte sie und folgte ihm. Sie hatte einfach dagestanden und ins Leere gestarrt, über das Kaninchen und Grinser und den Jabberwock nachgedacht.
Und Kuchen. Erst gestern hatte sie von buttergelbem Kuchen mit rosafarbenem Zuckerguss und Sahne geträumt, aber der Gedanke an Grinsers rosenförmigen Kuchen ließ sie schaudern – und erinnern.
Vier Leute um einen Tisch herum. Alice, Dor, das Kaninchen und ein Mann im Schatten. Sie lachten, alle lachten sie so heftig, weil alles so furchtbar lustig war, und das Kaninchen sagte Alice, sie könne so viel Kuchen essen, wie sie wolle. Sie konnte gar nicht damit aufhören. Der Kuchen sah so hübsch aus, und es gab so viel davon, und das machte alles immer noch lustiger als zuvor. Niemand sonst aß Kuchen. Sie tranken Tee und lächelten, aber nur Alice aß Kuchen. Dor hatte Plätzchen auf ihrem Teller, kleine gelbe Plätzchen, die nach Zitrone schmeckten, wie sie sagte. Alice wollte keine Plätzchen. Plätzchen gab es auch zu Hause.
Nach einer Weile wurde ihr schlecht und schwindelig. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter sagen: »Nicht zu viel Süßes.« Mit halb geschlossenen Augen sank sie auf dem Stuhl in sich zusammen.
Der Mann, der sich im Schatten gehalten hatte, nahm eine Scheibe Kuchen mit lilafarbenem Zuckerguss und legte sie auf ihren Teller, drängte sie, mehr davon zu essen. Sie wollte nicht noch mehr, aber er teilte mit der Gabel ein Stück ab und drängte es ihr in den Mund. Sie prustete Krümel über die Lippen, Krümel fielen auf ihr Kinn, und wieder lachten sie alle, alle außer Alice, die hustete und spuckte und zwei große Schlucke Tee trinken musste. Wer war dieser Mann? Sie konnte ihn nicht sehen. Seine Hände allerdings waren groß, sehr groß, eine einzige größer als ihre beiden Hände zusammengenommen, und weiß wie Schnee. Nein, nicht Schnee. Handschuhe. Er hatte große Hände und trug weiße Handschuhe.
Am Ende der Gasse blieb Hatcher stehen, und Alice stolperte mit der Nase gegen seinen Rücken. Das brachte sie in die Gegenwart zurück, und sie blickte um seine Schulter herum, um zu sehen, weshalb er stehen geblieben war.
Er machte eine ausladende Handbewegung. »Schmetterlinge.«