KAPITEL

6

»Jetzt reicht’s«, sagte Hatcher und riss die Tür auf.

Verblüfft beobachtete Alice, wie er mit der Axt in der Hand über das Geländer flankte. Als sie sich wieder gefasst hatte, hatte er bereits die beiden Männer erschlagen, die direkt an der Treppe gestanden hatten.

Harry nutzte das Überraschungsmoment, holte aus und versetzte dem Anführer einen ordentlichen Faustschlag. Unter normalen Umständen wäre der Mann zu schnell für ihn gewesen, aber so schaffte es der Wirt, einen Treffer zu landen, der dem Mann die Nase brach.

Mit einem wütenden Knurren stach der Mann mit seinem fies aussehenden Messer nach Harry, während ihm das Blut über den Mund lief. Alice hätte es dem schweren Mann nicht zugetraut, aber Harry wich dem Angriff mit Leichtigkeit aus und versetzte dem Anführer einen weiteren Fausthieb. Dann wich der Kleinere aus, und die beiden begannen eine Art Tanz umeinander, in dem jeder nach dem anderen hieb, ihn verfehlte, auswich und zu einem neuen Schlag ansetzte.

Alice eilte die Treppe hinunter, das gezückte Messer in der Hand. Hatcher schien die anderen beiden unter Kontrolle zu haben. Diese Männer waren wesentlich besser ausgebildet als die Schläger, die Hatcher letzte Nacht getötet hatte, aber ein Blick sagte ihr, dass er zurechtkam. Einer der Angreifer hatte bereits eine klaffende Wunde an der linken Schulter von Hatchers Axt. Sein Gesicht war kalkweiß, und Alice dachte nicht, dass er noch lange durchhalten würde.

Nell und Dolly waren zur Treppe zurückgewichen, als der Kampf begann. Dolly schrie immer noch, auch wenn Nell sie schüttelte und zum Schweigen bringen wollte, um die Aufmerksamkeit der Angreifer nicht auf sie zu ziehen. Alice stürmte an ihnen vorbei. Sie hatte nur ein Ziel, und Harry machte es ihr leichter, indem er den Angreifer so beschäftigte, dass der Alice in seinem Rücken nicht bemerken konnte.

Sie rammte ihm das Messer mit so viel Überzeugung in den Rücken, dass es bis zum Griff darin verschwand. Es fühlte sich etwas anders an, als es in einen weichen und saftigen Körperteil zu stoßen.

(wie zum Beispiel ein Auge)

Aber ihre Wut verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Ein Auge? Wo kam dieser Gedanke denn her?

Der Mann erstarrte für einen Augenblick, dann fingen seine Arme an zu wedeln und hinter sich zu greifen, um das Ding zu finden, das in seinem Rücken steckte. Harry trat vor und versetzte ihm einen letzten Schlag. Er taumelte rückwärts, rempelte Alice an, die ihrerseits nach hinten taumelte und über eine umgestürzte Bank fiel. Schnell rappelte sie sich hoch, bereit zu kämpfen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, womit sie sich ohne Messer verteidigen sollte. Der Anführer krachte ebenfalls in die Bank, rollte auf den Boden und landete mit unnatürlich zuckenden Beinen auf dem Bauch.

Harry und Alice starrten auf den zuckenden Körper hinunter. Dolly schrie immer noch.

Alice hatte Hatchers letzte Schläge gegen die beiden anderen Männer nicht mehr mitbekommen, aber die lagen jetzt auch am Boden. Er wischte die Klinge an der Innenseite seines Mantels sauber, wo sich, wie Alice auffiel, allmählich ein ziemlich großer Fleck bildete, und ging quer durch den Raum zu Dolly und Nell. Nell wich vor ihm zurück, den Arm um Dolly gelegt, und zog das Mädchen mit sich. Alice konnte es ihr nicht verdenken. Hatcher war mit Blut bespritzt, und seine grauen Augen blickten wild und irre.

»Tu ihr nichts«, sagte Nell, die sich, auch wenn sie ein mutiges Gesicht aufgesetzt hatte, alles andere als sicher über Hatcher zu sein schien.

»Ich tu ihr nichts«, sagte Hatcher gereizt. Er streckte die Hand aus und legte einen Finger unter Dollys Kinn, damit sie ihn ansah. »Das reicht jetzt.«

Dollys Mund klappte zu. Sie deutete ein verschrecktes Nicken an.

Hatcher drehte sich um und ließ den Blick über den Schankraum und die Toten schweifen – zwei waren von den Angreifern getötet worden, der Rest von ihm und Alice. »Kennt ihr diese Typen?«, fragte er Harry.

Harry schüttelte den Kopf. Jetzt, da der Kampf vorüber war, schien er irgendwie kleiner geworden zu sein. Als hätte man die Luft aus ihm herausgelassen. Nell und er wechselten einen ängstlichen Blick. »Sie haben gesagt, sie kämen vom Walross.«

»Und wer ist das Walross?«, wollte Hatcher wissen. Alice merkte, dass sein Geduldsfaden zum Reißen gespannt war.

»Er frisst sie auf«, flüsterte Dolly, und ihre Stimme war ganz dünn vor Angst, gehört zu werden.

»Wen frisst er?«, fragte Alice.

»Die Mädchen, die ihm am besten gefallen«, sagte Dolly. »Er ist riesengroß, heißt es, größer als vier Männer zusammen. Und wenn ihm ein Mädchen gefällt, dann lässt er es von seinen Männern zu sich bringen, und man sieht sie nie wieder. Weil er sie nimmt und auffrisst, während er es mit ihnen treibt. Er frisst sie bei lebendigem Leib.«

Die Vorstellungen, die diese Worte heraufbeschworen, ließen Alice schaudern. Als ob Vergewaltigung nicht schon schrecklich genug wäre – ein so schrecklicher und böser Mann, dass er seine Opfer auffraß, noch während er sie schändete? Gab es ein grauenvolleres Schicksal? Konnte das wahr sein? Konnte die Welt wirklich so entsetzlich sein? Mit jedem Schritt, den sie machte, sehnte sie sich mehr nach der Sicherheit des Krankenhauses zurück, einem Ort, an dem die Albträume, die einen heimsuchten, zumindest vertraut waren.

»Das ist nur eine Geschichte, Mädchen, und eine, die man nicht noch weitererzählen sollte«, sagte Nell, auch wenn ihr Blick Alice etwas anderes sagte.

»Nein, es stimmt«, sagte Dolly kopfschüttelnd. »Das weiß jeder.«

Das verschlug ihnen allen die Sprache. Sie sahen einander an und fragten sich, ob es tatsächlich sein konnte, ob ein solches Ungeheuer existieren könnte. Das Schreckgespenst des Walrosses schien den ganzen Raum zu erfüllen, ein ungeheurer Schatten, der ihren vorgeblichen Sieg schal schmecken ließ.

Schließlich ergriff Hatcher, praktisch veranlagt, wie er war, das Wort. »Hat keinen Sinn, dass wir uns wegen ihm verrückt machen. Wir müssen diese Sauerei hier beseitigen, bevor seine Leute nach ihren Freunden suchen kommen.«

»Wir müssen ein bisschen warten, bis wir sie rausschaffen«, sagte Harry. »Hört sich an, als würde sich der Rest von ihnen draußen prächtig amüsieren.«

Jetzt, da er es ansprach, hörte Alice den Lärm von draußen – berstendes Glas und Holz, raues Gebrüll, die Schreckensschreie von Frauen. Sie wollte zur Tür gehen, aber Hatcher packte sie am Arm und schüttelte den Kopf.

»Wir können die da draußen nicht alleinlassen«, sagte sie. Das Geschrei schmerzte in ihrem Kopf und auch in ihrem Herzen. Diese Mädchen da draußen wurden wahrscheinlich für das Walross verschleppt.

»Wir sind keine Armee, Alice«, erklärte Hatcher. »Du und ich, wir können es mit ein paar schweren Jungs aufnehmen, aber wir können sie nicht alle aufhalten.«

»Ich lass die nicht im Stich«, sagte Alice. »Diese ganzen Mädchen, diese ganzen schreienden Mädchen.«

Sie erinnerte sich, dass sie auch geschrien hatte, geschrien, bis sie heiser war, geschrien, bis Blut floss und ihr Schreien sich mit seinem mischte, als ein Messer in weiches Fleisch stieß.

(in sein Auge, sein blaugrünes Auge)

Und dann war sie weggelaufen und konnte nicht mehr schreien, weil sie ihren Atem zum Weglaufen brauchte.

Hatcher schüttelte wieder den Kopf, und sein Daumen wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Wir können sie nicht alle retten.«

»Es ist einfach schrecklich hier«, flüsterte Alice. »So schrecklich. Warum hast du mich aus dem Krankenhaus geholt? Ich war sicher da, sicher vor alldem hier.«

Hatcher zog sie eng an sich und legte die Arme um sie. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, und sie hörte das gleichmäßige, beruhigende Schlagen seines Herzens. Harry und Nell und Dolly verschwanden außerhalb des kleinen Kreises aus Alice und Hatcher. »Wie hätte ich dich jemals richtig lieben können, solange die ganze Zeit eine Wand zwischen uns stand? Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt, Alice. Ich töte dich, bevor ich zulasse, dass das Walross oder sonst wer dich mir wegnimmt.«

Sie lachte erstickt durch ihre Tränen, ein grimmiges, freudloses Lachen. »Die meisten Männer geben ihrem Mädchen einen Ring, weißt du, statt ihr damit zu drohen, sie zu töten.«

Hatcher legte seine Hände um ihr Gesicht, sodass er ihr in die Augen sehen konnte. »Ein Ring würde dich nicht vor den Männern retten, die dich benutzen und zerstören wollen. Ich will nicht, dass du leiden musst, Alice, keinen einzigen Augenblick. Ich werde nicht zulassen, dass sie dich kriegen.«

Sie starrte ihm in die Augen, und so sah sie es, als es geschah. Sah die Liebe und die Entschlossenheit verschwinden und seinen Blick leer werden. Seine Arme ließen sie los und fielen schlaff herunter.

»Nein«, sagte sie. »Nicht jetzt. Nein.«

»Er kommt«, sagte Hatcher, und seine Stimme klang überhaupt nicht mehr wie Hatchers. Sie war tief, bedrohlich und schadenfroh. »Blut lockt ihn an wie Honig. Er kommt.«

Hatcher ging in die Knie und sackte schlaff auf dem Boden zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte.

»Was passiert mit ihm?«, fragte Dolly. »Wer kommt? Das Walross?«

Alice hörte sie kaum. Sie kauerte sich neben Hatcher, schüttelte ihn, zog an seiner Hand. »Nicht jetzt, Hatch. Lass ihn nicht rein. Hatch, bleib bei mir. Bleib bei mir.«

Er war nicht ohnmächtig geworden, aber die erstarrte Leere in seinem Blick war weitaus schlimmer. Es war, als könnte Hatcher nur den Jabberwock wahrnehmen, nur sehen, was er sah.

Der Lärm in der Straße verstummte abrupt. Harry ging zu Dolly und Nell und nahm sie beide in die Arme. Alice konnte ihren Atem in der kalten Luft sehen. Das Schreckgespenst des Walrosses war von etwas anderem abgelöst worden, etwas unendlich Grauenvollerem.

Von draußen waren Schritte zu hören, ein entschiedenes Klingeln von Absätzen. Der Umriss eines großen, dünnen Mannes in Mantel und Hut wehte unter dem Türspalt hindurch, und als er vorbeiglitt, atmeten sie alle erleichtert aus.

Die Schritte hielten an. Der Schatten unter der Tür kehrte um und kam erneut in den Blick. Die Klinke senkte sich.

Hatcher ergriff Alice’ Hand und umklammerte sie mit einem Mal so fest, dass es wehtat, und sie sah Blut und Feuer in seinen Augen.

»Nein«, sagte sie noch einmal und fühlte, wie in ihr etwas aufstiegt. Sie entwand ihre Hand Hatchers Griff und drehte sich zur Tür. Ihr ganzer Körper summte vor Wut. Sie würde Hatcher nicht an dieses Ding verlieren. Unter keinen Umständen. »Nein, du kriegst ihn nicht. Du wirst ihn nicht kriegen!«

Der ganze Raum füllte sich mit Licht, mit einem Licht, das so rot war wie Alice’ brennendes, blutendes Herz. Draußen erklang ein abscheuliches Geheul, ein Geheul, als hätten sich alle Ungeheuer unter allen Betten zusammengetan und in das Heulen eingestimmt, das Heulen aller lauernden Albträume, die sich an die Dunkelheit klammerten, das Heulen von etwas Grauenvollem, dem klar wird, dass es selbst in Angst und Schrecken versetzt werden konnte, erschreckt durch eine Macht, die es längst verschwunden und besiegt geglaubt hatte.

Der Schatten unter der Tür verschwand. Alice stand wie angewurzelt da, ihr Herz raste, Schweiß rann ihr über Gesicht und Rücken.

»Alice?« Hatchers Stimme, kleinlaut und verwirrt.

Langsam drehte sie sich zu ihm um. Sie fühlte sich seltsam, als wäre sie nicht ganz sie selbst in ihrem Körper, als wäre in ihr etwas erwacht, das sie nicht wirklich dort haben wollte.

»Er war hier«, sagte Hatcher. Sein Blick war verschleiert, als erwachte er aus einem Traum. »Aber dann ist er weggegangen.«

»Ja«, sagte Alice, während sie ihm auf die Füße half. »Gott sei Dank ist er wieder weggegangen.«

»Nicht Gott sei Dank«, sagte Nell.

Alice und Hatcher sahen sie an. Die Wirtsfrau löste sich von Harry und Dolly und trat mit glänzenden Augen auf Alice zu.

»Nicht Gottes Dank«, wiederholte Nelle. »Dank dir.«

»Dank Alice was?«, fragte Hatcher.

Nell machte eine zittrige Handbewegung in Alice’ Richtung. »Sie hat … was immer da vor der Tür war weggeschickt. Nein, sag seinen Namen nicht. Ich will ihn gar nicht wissen. Wenn du den Namen von etwas weißt, kann es dich finden. Sie hat es weggeschickt. Sie ist eine Zauberin.«

»Eine Zauberin? Nein. Es gibt keine Zauberer mehr. Keine echten jedenfalls«, wiegelte Alice ab, während sie an Bess und Hatcher und ihr Seher-Blut dachte.

Hatcher blickte von Nell zu Alice. Er schüttelte den Kopf wie ein Hund mit einem Floh im Ohr, und sein benommener Gesichtsausdruck klärte sich. Er ging ganz nah an Alice heran und musterte sie eindringlich, seine Augen waren auf sie konzentriert, aber sein Blick war noch auf etwas anderes gerichtet, als lauschte er einer Stimme in seinem Kopf.

»Doch, das bist du«, sagte Nell, während sie Alice’ Hände ergriff. »Jetzt, wo du hier bist, wird alle besser werden. Die Zauberer werden zurückkehren. All die Dunkelheit und das Leid werden verschwinden.«

Alice riss ihre Hände zurück, während Panik in ihr aufwallte. »Ich bin kein Zauberer. Du irrst dich. Ich bin nur ein vollkommen normales Mädchen.«

Hatcher schüttelte den Kopf. »An dir ist überhaupt nichts normal, Alice. Nichts könnte den …«

»Bitte sag seinen Namen nicht«, sagte Nell drängend.

»Ihn«, sagte Hatcher. »Nichts hätte ihn wegschicken können außer Magie, echter Magie. Er fürchtet sich nicht vor Menschen oder Waffen. Aber er hat Angst vor Zauberern, weil ein Zauberer ihn in sein Gefängnis verbannt hat und es jederzeit wieder tun könnte. Bess hat gesagt, du hättest eine Bestimmung, dass nur du und ich ihn besiegen könnten. Jetzt wissen wir, warum.«

»Ich bin keine Zauberin!«, sagte Alice noch einmal. Wenn sie es nur immer wieder sagte, wenn sie es nur oft genug sagen könnte, würde es wahr werden.

»Lasst das Mädchen in Ruhe«, mischte Harry sich ein. Er sah Alice besorgt an.

»Aber wenn sie doch wirklich eine Zauberin ist!«, beharrte Nell.

»Ich hab gesagt, ihr sollt sie in Ruhe lassen«, wiederholte Harry. »Wir haben schon genug Ärger damit, diese Sauerei hier zu beseitigen.«

Ja, 'ne Menge zu beseitigen, dachte Alice. Sieben Leichen und so viel Blut, dass ihre Schuhe am Boden klebten.

Der Anführer hatte längst aufgehört zu zucken. Alice griff nach dem Heft ihres Messers, das aus seinem Rücken ragte. Als die Klinge schmatzend aus dem Fleisch glitt, blitzte wieder diese (Erinnerung? Traum?), dieses Bild von den blaugrünen Augen auf und die Erinnerung an die Stimme eines Mannes, der vor Schmerz und Wut heulte.

Draußen auf der Straße regte sich wieder etwas, auch wenn das Schreien und Brüllen und Zerbrechen aufgehört hatte. Stattdessen hörte es sich an, als wanderten alle ziellos umher, aufgewacht aus einem schrecklichen Traum. Alice hoffte, dass ein paar der Mädchen zur Besinnung kamen und davonliefen, bevor die Männer des Walrosses sie mitnehmen konnten.

Ich wünschte, ich könnte zaubern, dachte sie. Dann würde ich all diese verlorenen Mädchen finden und sie nach Hause bringen. Und ich würde all diese Männer nehmen, die den Mädchen wehgetan haben, und sie zum Schreien bringen.

Aber sie war keine Zauberin, was immer Nell und Hatcher auch glauben mochten. Sie stammte aus einer ganz normalen Familie aus einem ganz normalen Viertel der Neuen Stadt. Es hatte niemals auch nur den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass irgendetwas mit ihrem Blut nicht stimmen könnte, weder auf der Mutter- noch auf der Vaterseite. Sie waren ruhige, perfekte und in hohem Maße anständige Leute.

Außer dir, dachte Alice. Du warst nichts davon.

Doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie eine Zauberin war. Es bedeutete nur, dass sie nicht dazugehörte.

»Die Mühe mit dem Saubermachen könnt ihr euch sparen«, sagte Hatcher. »Wenn es stimmt, was du gesagt hast, und das Walross tatsächlich zu viel von euch verlangt, dann müsst ihr hier weg. Wenn er rausfindet, dass seine Männer hier getötet worden sind, dann ist euer Leben sowieso keinen Heller mehr wert.«

»Ich dachte, du kennst das Walross nicht?«, fragte Harry misstrauisch.

»Tu ich auch nicht«, antwortete Hatcher. »Aber ich weiß, wie diese Bosse sind. Wenn die dir durchgehen lassen, dass du ihre Soldaten tötest, dann werden andere denken, sie könnten das ebenfalls tun. So verlieren diese Typen ihre Macht, und die möchten ihre Macht nicht gern verlieren, wenn sie sie erst mal gewonnen haben. Sobald rauskommt, dass diese Jungs verschwunden sind, nachdem sie bei euch waren, wird das Walross zurückschlagen, prompt und gnadenlos. Eines Nachts wachst du auf, und dein Bett brennt, und du merkst, dass es kein Entkommen gibt.«

Doll winselte. »Wenn sie fortgehen, was wird dann aus mir und meiner Mam? Ich brauche diese Arbeit. Sie kann nicht laufen. Und ich will nicht vom Walross entführt werden, wenn er sich hier breitmacht.«

Alice sah Hatcher an, der nur mit den Schultern zuckte. Sie fühlte sich hilflos, so gern hätte sie alle diese Probleme für sie gelöst. Aber es war genau wie zu dem Zeitpunkt, als sie aus dem Krankenhaus geflohen waren. Sie konnten versuchen, alle zu retten, und dabei alle sterben. Oder sie konnten aus dem Fenster springen und die anderen sich selbst überlassen.

»Gibt ihr Geld, Hatch«, sagte Alice.

»Warum?«, fragte er. »Wir brauchen dieses Geld für uns selbst.«

»Gib ihr was und Nell und Harry auch«, sagte Alice. »Wir können uns nicht um sie kümmern, aber wir können ihnen helfen, von hier wegzukommen.«

»Mach dir um uns keine Sorgen, Mädchen«, sagte Harry. »Du hast schon genug dafür getan, dass sie meine Nell nicht gekriegt haben.«

»Ich brauch es«, sagte Dolly. »Ich kann meine Mam nicht allein fortschaffen.«

»Hatcher«, sagte Alice.

Er blickte sie finster an, sagte aber nichts mehr, sondern zog ein paar Münzen aus der Tasche und gab sie Harry. Der Wirt versuchte abzulehnen.

»Nimm sie«, sagte Hatcher. »Alice hat ein besseres Gefühl bei der ganzen Sache, wenn du sie nimmst.«

Harry blickte zwischen ihnen hin und her, und Alice nickte. Widerstrebend nahm er die Münzen von Hatcher an.

»Wir müssen jetzt los«, sagte Hatcher. »Ich will nicht noch mehr Ärger mit Walross-Männern, wenn ich es vermeiden kann.«

Er lief die Treppe hinauf, um ihre Sachen aus dem Zimmer zu holen. Nell ging in die Küche, um etwas Essen zu holen, und Harry gab ein paar von den Münzen an Dolly weiter.

»Geh nach Hause und hol deine Mutter, Mädchen«, sage er. »Und verlass die Gegend, so schnell du kannst.«

Dolly nickte. Harry folgte Hatcher die Treppe hinauf, wahrscheinlich, um für sich selbst etwas zusammenzupacken. Alice und Dolly blieben allein mit den Leichen und der Sauerei im Schankraum zurück.

»Wie hat dein Kerl dich genannt?«, fragte Dolly.

»Hm«, sagte Alice.

Sie hatte nicht wirklich zugehört, in Gedanken war sie bei einem Messer und einem blaugrünen Auge. Hatte sie das geträumt? Oder hatte sie dem Kaninchen das Auge ausgestochen, als sie entkommen war? Wenn sie das getan hatte, war er vielleicht tot. Vielleicht verrottete das Gesicht, das sie in Albträumen über Jahre heimgesucht hatte, längst unter der Erde, und sie musste sich nie wieder Sorgen deswegen machen.

»Alice«, fragte Dolly noch einmal, als versuchte sie, sich zu erinnern. »Alice. Und Nell hat gesagt, du bist eine Zauberin.«

Etwas in Dollys Stimme zerrte Alice aus ihren Grübeleien. Verschlagenheit blitzte in den Augen des Mädchens, was Alice ganz und gar nicht gefiel.

»Ich bin keine Zauberin«, sagte sie barsch.

»Aber ich habe dich gesehen«, sagte Dolly in aller Unschuld. »Wir haben alle das Licht aus dir herauskommen sehen, und das gruselige Ding vor der Tür ist weggegangen. Also wenn das keine Zauberei war, dann weiß ich’s auch nicht.«

Könnte Alice sich diesen Blick in Dollys Augen nur eingebildet haben? Das Mädchen wirkte so schlicht wie eh und je, tief beeindruckt von dem, was Alice getan hatte.

Ich sollte ihr mein Messer zeigen und dafür sorgen, dass sie sich hütet herumzuerzählen, was sie gesehen hat, dachte Alice. Doch dann zögerte sie. Erstens wollte sie es sich nicht zur Gewohnheit machen, ständig mit dem Messer herumzuwedeln. Sie war kein Straßengangster, auch wenn sie gekleidet war wie einer. Zweitens wollte sie nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ohnehin schon. Wahrscheinlich würde Dolly erst mal mehr damit beschäftigt sein, dem Walross zu entkommen. Wenn Alice und Hatcher erst einmal weg waren, würde sie vergessen, was sie gesehen hatte … oder ihre Mutter würde ihr vielleicht sagen, sie hätte sich das alles nur eingebildet. Und damit wäre die Sache erledigt.

Dann kam Hatcher die Treppe herunter, sein Bündel über der Schulter, und Nell kam mit einem Armvoll Pasteten aus der Küche. Sie drängte ihnen einige davon auf, die sie dankbar annahmen. Nachdem sie sich wortreich verabschiedet hatten, schafften sie es, sich von Nell zu lösen, und schlüpften zum Hinterausgang in die Gasse hinaus.

Es war niemand zu sehen, auch nicht die Mädchen, die hier arbeiteten.

Schon vom Walross weggeholt, dachte Alice. In der Ferne konnte sie ab und zu etwas huschen hören, einen erstickten Schrei, das Klatschen von Schuhen auf Stein. Hatcher beugte sich nah an ihr Ohr heran.

»Wir müssen zusehen, dass wir so schnell wie möglich von Zimmermanns Straßen verschwinden«, sagte er. »Wir wollen nicht zwischen die Fronten eines Revierkampfs geraten.«

»Aber woher wissen wir, wann wir raus sind?«, flüsterte Alice.

Sie war sich der Stille in der Gasse nur allzu bewusst und der Schatten, die weiter voraus lauerten. Wer weiß wer konnte sich dort versteckt halten. Wer weiß wer konnte dort auf sie warten.

Hatcher würde nicht zulassen, dass sie entführt wurde. Sie selbst würde nicht zulassen, dass sie entführt wurde. Aber sie war das Blut und das Kämpfen und das Weglaufen leid, und das schien alles gewesen zu sein, was sie getan hatten, seit sie aus dem Krankenhaus geflohen waren.

»An den Grenzen werden überall Wachposten stehen«, erklärte Hatcher. »Wenn wir an denen vorbeikommen, verlassen wir Zimmermanns Straßen.«

»Und dann?«, fragte sie. »Es könnte sein, dass wir geradewegs in Walross’ Territorium marschieren!«

»Wenn das Walross sich in Zimmermanns Straßen herumtreibt, wird seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein, nicht auf sein eigenes Revier. Und jedes Territorium hat vier Seiten, Alice. Walross könnte im Norden sein, und wir wollen nach Westen.«

Das war Alice vollkommen neu. Ihr war es vorgekommen, als seien sie vollkommen planlos durch die Alte Stadt geirrt, auch wenn Hatcher immer wieder behauptet hatte, er folge einer Karte in seinem Kopf.

»Wie weit ist es noch bis Haus Rosenweg?«, fragte sie.

Hatcher bewegte sich leise und vorsichtig durch die Gasse. »Morgen früh sollten wir da sein.«

Wenn nichts dazwischenkommt, dachte Alice. Sie wollte ihn über Grinser ausfragen, aber es war klüger, sich still zu verhalten, solange Zimmermanns Leute sie noch entdecken konnten.

Sie schob jeden Gedanken an Magie oder Zauberer oder den Jabberwock beiseite. Bess hatte gesagt, sie müssten ihn finden und wieder einfangen, und dafür müssten sie das Ding finden, wonach der Jabberwock suchte, das Ding, das ihm ein Zauberer vor langer Zeit weggenommen hatte. Was das anging, würde Alice ihr Bestes geben, wenn sie damit Hatcher aus dem Griff des Jabberwocks befreien konnte. Aber dafür musste sie nicht darüber nachgrübeln, warum der Jabberwock von der Tür zu Harrys Gasthaus geflohen war. Sie musste nicht darüber nachdenken, wenn sie es nicht wollte.

Es wurde eine weitere Nacht, in der sie von einem dunklen Platz zum nächsten rannten, immer auf der Hut vor den allgegenwärtig scheinenden Soldaten. Alice überzeugte Hatcher davon, dass es effizienter war, über ein nahegelegenes Dach zu klettern, statt schon wieder Wachposten zu töten, und als sie erst einmal hoch über den Straßen waren, fanden sie es dort viel schöner, sodass sie beschlossen, oben zu bleiben. Es war nicht gerade einfach, auf und über die Dächer zu klettern, und einige Male waren die Abstände zwischen den Häusern ein bisschen zu weit für ihren Geschmack. Aber dafür mussten sie keine Angst vor Messern und Blut haben, weil jeder, der einigermaßen bei Sinnen war, schön mit den Füßen auf festem Boden blieb.

In dieser Höhe war es für Alice sogar noch schwieriger, ihren Weg durch die Stadt nachzuvollziehen. Von oben sahen die Straßen unter ihnen alle verstörend gleich aus, ein unergründlicher Irrgarten. Aber die Luft war ein bisschen klarer. Der schwere Nebel und der ganze Gestank schienen sich in den Schluchten der Stadt abzulagern und in die Schichten aus Holz und Stein einzusickern. Auf den Dächern konnte sie durch den Dunst schwach die Sterne funkeln sehen.

Einmal hielten sie an, um sich die Bäuche mit Nells Pasteten vollzuschlagen, die jetzt zwar kalt, aber immer noch köstlich waren. Alice’ schwindende Kräfte wurden wieder geweckt, und sie konnte besser mit Hatchers sicherem Schritt mithalten.

Er ist echt wie eine Katze, dachte sie. Seine Absätze schienen nie auf den Dachziegeln aufzuklatschen wie ihre, sein Gewicht schien kaum den Boden zu berühren, bevor er zum nächsten Sprung ansetzte. Noch nie hatte sie ihn unsicher gesehen, ganz gleich, was ihnen zustieß. Alice hatte das Gefühl, als taumele sie die ganze Zeit am Rande eines schwarzen Lochs (eines Kaninchenlochs), seit sie geflohen waren, und dass sie das nächste seltsame oder furchteinflößende Ereignis jederzeit in dieses Loch stürzen lassen könnte. Doch Hatcher schien das alles nichts anhaben zu können. Sogar die Besessenheit durch den Jabberwock glitt von ihm ab, wie Wasser vom Gefieder einer Ente, sobald es vorüber war.

Die Sonne schickte die ersten schwachen orangefarbenen Strahlen durch den Dunst, als Hatcher auf einmal die Hand hob und stehen blieb. Alice kroch auf allen vieren seitwärts zu ihm – sie waren gerade auf einem ziemlich abschüssigen Dach, und Hatcher hockte wie eine Taube auf dem First – und hielt Ausschau nach dem, was er anstarrte.

Beinahe direkt unter ihrem Ausguck befand sich ein kleines Haus, eingerahmt von viel größeren, mehrstöckigen Gebäuden, die die Straße säumten. Es war so klein im Vergleich zu seinen Nachbarn, dass es aussah wie ein Spielzeughaus. Alice erwartete fast, dass die Hand eines kleinen Mädchens ein Püppchen durch die Tür schob, damit es die Rosen goss.

Und das waren mal Rosen! Unmengen davon, so viele, dass Alice ihren Augen kaum traute. Sie rankten über die Tür und das Fenster, die Wände hinauf und bedeckten das Dach so dicht, dass die Dachziegel nicht zu sehen waren. Sie schienen zu leuchten, in überirdisch schönen Farben, Rosa und Rot und Weiß und Gelb ineinander verschlungen zu einem unwirklichen Bouquet. Der Duft der Blumen wehte zu ihnen herauf.

Alice sog ihn tief ein. Der Duft machte sie schwindelig, ihr Kopf fühlte sich an, als löste er sich vom Körper. Einen Augenblick lang drehte sich alles.

Sie merkte nicht, wie sie vornüberkippte, bis Hatcher sie an der Schulter packte und davon abhielt, vom Dach zu fallen.

»Was …?«, fragte sie mit schwacher Stimme. Sie schüttelte den Kopf, um den Rosenduft zu vertreiben, und versuchte es noch einmal: »Was ist das?«

»Das ist Grinsers Haus«, sagte Hatcher, und in seiner Stimme klang ein wenig Stolz mit. »Ich wusste, dass ich es wiederfinde, auch wenn ich nicht genau weiß, warum.«

»Aber die Rosen«, sagte Alice. »Wie kommen diese ganzen Rosen dahin, mitten in dem ganzen Dreck und Dunst?«

Hatcher deutete ein schiefes Lächeln an, seine grauen Augen glitzerten spöttisch im Morgenlicht: »Zauberei.«