KAPITEL

14

Vor ihnen befanden sich drei Türen aus Holz, alle weiß-rosa gestreift wie das Haus der Kreatur auf der Insel im Irrgarten. Es gab keinerlei Hinweis darauf, wohin die Türen führen mochten.

»Eine führt zum Kaninchen«, vermutete Alice. »Das hat uns Raupe erzählt. Eine muss zu Grinser zurückführen, weil die Meerjungfrau gesagt hat, dass sie diesen Weg gekommen ist, als sie an Raupe verkauft worden war. Was ist mit der dritten?«

»Das Walross?«, riet Hatcher. »Die Ratten müssen ja auch irgendwo hergekommen sein.«

»Die Ratten. Stimmt.«

Alice suchte den Boden nach Spuren extragroßer Nagetiere ab, die durch eine der Türen gekommen waren. Aber der Boden war überall aufgeschürft und von vielen Füßen zertrampelt, die hier entlanggegangen waren, und verriet nichts darüber, aus welcher Tür sie gekommen sein könnten.

»Mir gefällt es nicht, einfach blind zu raten«, sagte Alice. »Wenn wir die falsche Tür nehmen, laufen wir dem Walross direkt in die Arme.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, meinte Hatcher. »Wir wissen nicht wirklich, wohin diese Durchgänge führen. Sie könnten zu unterirdischen Eingängen in die Bauten des Kaninchens und des Walrosses und von Grinser führen. Oder die Tunnel dahinter führen uns auf die Straße zurück, in die Nähe, aber nicht direkt dorthin.«

»Ich würde es lieber nicht riskieren«, sagte Alice. »Solange das Walross weiß, dass er nach einem großen Mädchen mit einer Narbe im Gesicht suchen muss, bin ich in Gefahr.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich nicht zulasse, dass er dich kriegt«, sagte Hatcher.

Alice seufzte. »Sogar du kannst überrascht werden, Hatch.«

Sie streckte die Hand nach dem Knauf der mittleren Tür aus. Hatcher stellte sich mit der Axt in der Hand neben den Türrahmen und drückte sich eng an die Tunnelwand. Falls irgendjemand versuchte hindurchzustürmen, während Alice die Tür öffnete, würde er keine Gelegenheit bekommen, es zu bereuen.

Die Tür schwang auf und enthüllte … nichts. Auf der anderen Seite war einfach nur derselbe Tunnel wie der, durch den sie gekommen waren. Alice war enttäuscht. Sie hatte auf Hinweise gehofft, die anzeigten, wohin der Tunnel führte.

Als sie die Tür wieder schließen wollte, zuckte ihre Nase. »Ich kann Rosen riechen«, sagte sie. »Hier geht’s zu Grinser.«

Hatcher schnupperte. »Ja. Rosen.«

»Ich will nie wieder Rosen riechen müssen«, sagte Alice, während sie hastig die Tür schloss.

Sie sahen hinter den anderen beiden Türen nach, aber es gab dort keinerlei Hinweise, wohin sie führen könnten.

»Nutze deine Magie«, schlug Hatcher vor.

Alice starrte ihn verständnislos an. »Ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll. Was soll ich machen, meinen Finger hochhalten wie eine Wünschelrute und hoffen, dass er uns in Richtung Kaninchen schickt?«

»Du hast Magie in dir«, sagte Hatcher. »Du hast mit den Ratten gesprochen. Du hast die Rosen in Brand gesteckt.«

»Das hab ich getan, ohne darüber nachzudenken.«

»Dann denk jetzt auch nicht nach«, sagte er.

Das mochte für Hatcher logisch erscheinen, aber für Alice ergab es keinen Sinn. Dennoch trat sie vor den linken Durchgang und tat das Einzige, was ihr einfiel. Sie legte die Hand auf die Tür und dachte an das Kaninchen, stellte ihn sich vor, wie sie ihn im Kopf hatte. Die langen weißen Ohren, die blaugrünen Augen (Auge, korrigierte sie sich), den hohen Hut.

»Ein Hut!«, rief Alice aus. »Er hat immer einen hohen Hut getragen.«

»Wer?«, fragte Hatcher.

»Das Kaninchen.« Alice verengte die Augen und versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen. »Das ist mir gerade eingefallen. Außerdem war er groß. So groß wie du.«

»Wir sind schon so ein paar Riesen«, sagte Hatcher. »Du bist das größte Mädchen, das ich je gesehen habe. Die Raupe war größer als wir beide. Und das Walross – nun, wenn er der Fleischwolf ist, dann ist er größer als du und ich und das Kaninchen zusammen.«

»Hatcher«, sagte sie, als ihr etwas klar wurde. »Du bist ein Seher. Warum versuchst du’s nicht mal?«

»Sehen ist nicht so«, sagte er. »Die Visionen kommen zu mir, ohne dass ich vorher daran denke.«

»Dann denk halt nicht dran«, sagte Alice schnippisch.

Sie hatte nichts erreicht, als sie die Tür berührt hatte. Das Bild des Kaninchens war aus ihrer Konzentration auf die Vergangenheit entstanden. Dennoch probierte sie dasselbe an der anderen Tür, ebenfalls ohne Ergebnis. Dann setzte sich sich im Schneidersitz auf den Boden und blickte jede der Türen an. Hatcher setzte sich zu ihr und begann mit dem Stiel seiner Axt Muster in den Dreck zu malen.

»Was soll das sein?«, fragte Alice, während sie auf eines der verschlungenen Symbole zeigte. Es erinnerte an die Struktur eines Schneckenhauses, wie es sich spiralförmig nach innen wand.

Er zeichnete noch vier Sterne außen um die Spirale, einen für jede Himmelsrichtung. Irgendetwas daran kam Alice vertraut vor, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, wo sie es schon einmal gesehen hatte. Sie berührte den Mittelpunkt der Spirale mit dem Finger.

Plötzlich befand sie sich nicht mehr mit Hatcher in der Höhle. Sie stand auf einem hohen Turm, um sie herum blubberten Flüssigkeiten, und staubige Bücher sangen von Wissen. Ihre Hände waren nicht mehr ihre eigenen, sondern die Hände eines Mannes, der viel, viel älter war als sie. Er hielt einen Dolch in der Hand, so lang wie ihr Unterarm und ebenso breit. Er glänzte silbrig im Feuerschein, und sein Griff glitzerte schwarz. Direkt unter dem Heft befand sich die Spirale mit den vier Sternen darum. Mit schwerem Herzen blickte sie auf die Klinge, denn sie wollte nicht tun, was sie tun musste. Sie wollte ihren Freund nicht zerstören. Doch er war nicht mehr ihr Freund. Er war jetzt der Jabberwock, Hüter dunkler Magie, und dunkle Magie hatte keinen Platz in dieser Welt.

»Alice?«

Hatchers Stimme klang dumpf und kam von weit weg zu ihr, als spräche er durch ein Rohr. Als Kind hatte sie dieses Spiel mit ihrer Freundin gespielt (Dor, aber Dor war nicht mehr ihre Freundin), sie hatten durch ein langes hölzernes Rohr miteinander gesprochen, das sie nach einem heftigen Unwetter gefunden hatten. Es hatte ihre Stimmen verfremdet, ihnen eine Tiefe verliehen, die ihre mädchenhaften Piepsstimmchen normalerweise nicht hatten.

»Alice?« Seine Hände waren an ihren Schultern, schüttelten sie.

»Ich hab die Klinge gesehen«, sagte sie und schlug die Augen auf. Hatchers Gesicht war direkt vor ihr, und dahinter war die Höhlendecke zu sehen. »Was ist passiert?«

»Als du dieses Muster berührt hast, hat es Funken geschlagen«, erklärte Hatcher. »Und dann bist du ganz blass geworden und nach hinten umgekippt.«

»Ich habe die Klinge gesehen«, wiederholte sie. »Den Dolch, den wir finden müssen, den das Kaninchen hat. Wir müssen ihn bekommen, bevor der Jabberwock ihn kriegt. Diese ganzen anderen Sachen, die passiert sind, haben es mich beinahe vergessen lassen. Wir sind hier irgendwo unter der Erde, und ja, es mag sein, dass das Walross tobt, aber der Jabberwock ist auf der Jagd, er jagt und jagt. Wenn er die Waffe findet, wird er sie zerstören, seine verlorene Magie zurückgewinnen, und dann werden wir ihn nicht mehr aufhalten können.«

Hatcher nickte. »Ja. Wir müssen uns auf den Jabberwock konzentrieren, nicht auf unsere eigenen Probleme.«

»Obwohl unsere eigenen Probleme mit unserer Suche nach dem Jabberwock zu tun zu haben scheinen, zumindest ein bisschen«, wandte Alice ein. »Trotzdem, die Waffe ist am wichtigsten.«

»Welchen Weg nehmen wir also?«, fragte Hatcher.

»Ich weiß es immer noch nicht«, gestand Alice ein. »Lass uns mal die linke Tür probieren. Und ganz vorsichtig weitergehen.«

»Und wenn wir auch nur ein Haar vom Walross sehen, bring ich den Job zu Ende, den ich vor langer Zeit hätte zu Ende bringen sollen«, setzte Hatcher hinzu.

Sie traten durch die linke Tür. Genau wie bei der mittleren war Alice enttäuscht, keine Wache dahinter zu finden. Einen Wachmann konnte man dazu bringen, einem Informationen zu verraten. Es wirkte fast, als würden alle, die diese Durchgänge nutzten, den anderen vollkommen vertrauen.

Vielleicht war es auch so, überlegte Alice. Raupe und Grinser waren Freunde, ebenso wie Raupe und Kaninchen. Das Kaninchen tolerierte der Raupe zuliebe das Walross.

Aber die Ratten hatten gesagt, dass jetzt, da die Raupe tot war, das Kaninchen sich mit dem Zimmermann gegen das Walross verbünden würde. Wenn dem so war, dann erleichterte es der direkte Weg zum Walross, sich einen Gegner vom Hals zu schaffen.

Nachdem sie ziemlich lange gegangen waren (wir gehen und gehen, und wenn wir nicht gehen, dann kämpfen wir, dachte Alice), kamen sie an eine weitere Tür. Diese Tür wurde bewacht, wenn auch von der anderen Seite. Alice und Hatcher hörten Stimmen durch das Holz, ohne allerdings verstehen zu können, was gesagt wurde.

»Welcher ist es?«, flüsterte Alice Hatcher ins Ohr. »Das Walross oder das Kaninchen?«

»Wir müssen es darauf ankommen lassen«, sagte Hatcher. »Es hört sich an, als wären sie zu weit. Du bringst deinen zum Schweigen, ich verhöre den anderen.«

Was für eine schrecklich zivilisierte Art, es in Worte zu fassen, dachte Alice. Ihn »zum Schweigen bringen«. Nicht »ihm mit deinem Messer die Kehle durchschneiden«, was Hatcher in Wirklichkeit von mir verlangt.

Sie rissen die Tür auf und überraschten die Wachen. Beide waren nicht auf der Hut, sondern hatten es sich bequem gemacht und aßen. Alice war über ihrem Mann, bevor der seinen auf dem Boden liegenden Speer aufnehmen konnte. Sie brachte ihn zum Schweigen, wie Hatcher es verlangt hatte.

Der zweite Mann war schneller auf den Füßen und bereitete Hatcher einen Augenblick lang etwas mehr Schwierigkeiten. Am Ende verlor Hatcher die Beherrschung und der Wachmann seinen Kopf, und sie hatten niemanden mehr, den sie verhören konnten.

Alice rümpfte die Nase. »Ich dachte, du wolltest ihn was fragen?«

»Ich hab …«

»Rotgesehen, ich weiß.« Sie schob die Beine des ersten Mannes mit ihrer Stiefelspitze aus dem Weg. Erst jetzt fiel ihr auf, wie die beiden Wachleute gekleidet waren – genau wie die Männer, die sie im Gasthaus angegriffen hatten. »Das sind Leute vom Walross.«

Hatcher fluchte. »Verdammt! Es ist zu weit bis zu den anderen Türen zurück.«

Alice rannte zur Tür zurück und zog daran. Sie bewegte sich nicht. Sie rüttelte am Knauf, versuchte es mit Drücken. Die Tür gab nicht nach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Hatcher an.

»Wir kommen hier nicht raus«, sagte sie.

Panik begann in ihrer Brust zu summen. Sie wollte das Walross nicht treffen. Er machte ihr mehr Angst als das Kaninchen, bei dem sie irgendwie das Gefühl hatte, ihn besiegen zu können. Sie hatte ihn einmal geschlagen, war ihm einmal entkommen, und sie hatte auf dieser Reise schon so viel überlebt. Das Kaninchen war ein schrecklicher Buhmann, aber einer, den sie kannte, vertraut und in der Vorhersagbarkeit seines Bösen weniger beunruhigend. Das Walross war ein Horror, den sie noch nicht kannte, ein Albtraum, den sie nicht erleben wollte.

Sie wollte nicht bei lebendigem Leib aufgefressen werden.

Hatcher schob sie beiseite und warf sich mit Wucht gegen die Tür. Nichts.

»Wenn ich sie einschlage, gibt das Lärm. Das könnte andere aufmerksam machen«, sagte er.

Alice nickte. Direkt hinter dem kleinen Vorraum, in dem die Wachleute gesessen und gegessen hatten, bog der Tunnel scharf nach links ab. Sie ging hin und lugte vorsichtig um die Ecke.

Ein paar Meter dahinter führte eine Treppe nach oben. Sie schlich sich weiter, zuckte jedes Mal zusammen, wenn ihre Füße im Dreck schlurften oder ein Steinchen gegen die Wand stieß. Oben am Kopf der Treppe befand sich eine Falltür.

Sie kehrte zu Hatcher zurück und beschrieb ihm, was sie gesehen hatte.

»Am besten bleibst du unten an der Treppe, wo dich niemand sehen kann«, meinte Hatcher. »Vielleicht kannst du einen oder zwei überrumpeln.«

»Wie viele Soldaten, glaubst du, kann ich allein besiegen?«, fragte Alice.

»So viele wie nötig«, antwortete Hatcher. »Ich glaube an dich, Alice.«

Zum ersten Mal wollte sie ihn küssen, wollte wissen, wie es sich anfühlen würde. Also tat sie es.

Seine Lippen waren weich, und sie schmeckte seine Überraschung und dann seine Lust. Er legte seine Arme nicht um sie oder versuchte, sie an sich zu ziehen. Sie legte ihre Hände an seine Schultern, um festeren Stand zu bekommen, denn sie fühlte sich schwindelig, von den Zehen bis zu den Wimpern.

Hatcher lächelte sie an, und sie lächelte zurück. Es war schön, überlegte Alice, sich daran zu erinnern, dass es noch etwas anderes im Leben gab als Wahnsinn und Tod. Dann bezog sie Stellung am Fuß der Treppe, und Hatcher machte sich an die Arbeit.

Es gab ordentlich Lärm, als Hatcher sich mit seinem ganzen Gewicht immer wieder gegen die Tür warf. Bei jedem Aufprall war Alice sich sicher, dass ein Dutzend Männer die Treppe heruntergestürmt kommen würden, mit Mordlust in den Augen, doch es kam niemand.

Nach einer Weile wurde klar, dass Hatcher die Tür nicht würde einschlagen können. Alice ging zu ihm, streckte die Hand aus, um ihn aufzuhalten.

Hatcher zog die Axt heraus. Der erste Schlag hinterließ nicht einmal einen Kratzer an der Tür, aber von der Schneide sprang ein Stückchen ab. Wortlos steckte Hatcher die Axt wieder weg. Er wollte nicht riskieren, seine Lieblingswaffe weiter zu beschädigen. »Da lang kommen wir nicht raus«, sagte er.

Er musste schon länger zu diesem Schluss gekommen sein, hatte es aber einfach weiter versucht, vielleicht getrieben von der Vorstellung, was geschehen konnte, wenn das Walross ihre Anwesenheit bemerkte.

»Wir müssen nach oben, Hatch«, sagte Alice. »Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir können nicht hier unten warten, bis wir beim Wachwechsel entdeckt werden.«

»Wie sind die Ratten rausgekommen?«, fragte Hatcher, immer noch keuchend vor Anstrengung. »Von hier können sie nicht gekommen sein. Aber das war der einzige Weg, den wir gesehen haben.«

»Wir müssen irgendetwas übersehen haben«, vermutete Alice. »Irgendeine geheime Abzweigung.«

»Ratten in der Größe können nicht aus irgendeinem Tunnel gekrochen sein, den wir übersehen haben«, sagte Hatcher.

Alice war geneigt, ihm zuzustimmen. Aber die Frage, woher die Ratten gekommen waren, spielte eigentlich gar keine Rolle. Sie mussten hier weg, darauf kam es an.

Hatcher ging die Treppe hinauf. Als er die Falltür erreichte, blieb er stehen und lauschte angestrengt. Alice hörte nichts, und kurz darauf drückte Hatcher langsam die Falltür nach oben.

Als Erstes traf sie der Geruch, so überwältigend, dass Alice zu husten anfing und ihr die Galle hochkam. Hastig schlug sie den Arm vor den Mund. Hatcher presste die Lippen zusammen, während er langsam die Tür umlegte und nach oben kletterte. Er sprang von der Tür weg, bedeutete Alice jedoch zu warten. Sie vermutete, dass er erst nachsehen wollte, ob jemand im Raum war, der etwas gegen ihr plötzliches Erscheinen haben könnte. Wie immer verursachten seine Stiefel fast keinen Laut. Für einen so großen Mann bewegte er sich sehr leise.

Schon kurz darauf kam er zurück und forderte sie auf, ihm zu folgen.

»Ich glaube nicht, dass du das sehen willst«, sagte er und sah selbst aus, als würde er den Anblick am liebsten ungeschehen machen.

»Ich kann ja wohl kaum mit geschlossenen Augen weitergehen«, sagte Alice, während sie den Kopf durch die Falltür steckte und sich umsah.

Der Gestank traf sie noch heftiger. Sie musste sich vornüberbeugen und übergab sich auf die Treppe.

Na ja, falls Grinsers Sandwiches vergiftet waren, hat sich das jetzt erledigt, dachte Alice und mühte sich verzweifelt, an etwas anderes zu denken als das, was sie sehen konnte.

Alice hatte bis jetzt vier Mal getötet. Immer um sich selbst zu verteidigen oder jemand anderes – um Hatcher zu retten, um Nell und Dolly zu retten, um einen Wachmann davon abzuhalten, Alarm zu schlagen. Sie würde es nie schön finden, es nie so genießen können, wie Hatcher es zu genießen schien, aber sie hatte sehr schnell begriffen, dass es in der Alten Stadt eine Notwendigkeit war. Hier fügte man jemand anderem Leid zu, bevor er einem Leid zufügen konnte.

Doch das hier war niemals getan worden, um ein Leben zu verteidigen. Es war schlicht und einfach Gemetzel.

Sie waren in einer Art Vorratsraum herausgekommen, und wo sie auch hinsahen, lagen und hingen die Körper von Mädchen. Alice wusste, dass es ausschließlich Mädchen waren, denn sie waren alle nackt. Ihre Gesichter waren zerfressen, unregelmäßig zerrissene Stücke Haut dort, wo die Zähne des Walrosses nicht zugepackt hatten. Auch an anderen Stellen waren Bisswunden, aber Alice wollte sich das alles lieber nicht genauer ansehen. Sie wollte es am liebsten überhaupt nicht sehen.

»Wer macht denn so was?«, fragte sie und kämpfte gegen den Impuls an, sich die Hände vors Gesicht zu schlagen und sich zu verstecken. Die Zeit des Versteckens war vorüber, erkannte sie. Sie musste das Monster als das erkennen, was es war.

»Kein Mensch«, sagte Hatcher. »Kein Mensch würde so etwas jemals tun.«

Hatcher war wütend. Viel wütender, als er jemals gewesen war, und das war kein gutes Zeichen. Wenn Hatcher wütend war, neigte er dazu … spontaner zu sein.

»Da ist Dolly«, sagte er und zeigte auf einen Körper, der oben auf einem der Haufen lag. »Das dumme Mädchen. Dieses dumme, dumme Mädchen.«

Alice war sich nicht sicher, wie er dieses Ding als Dolly hatte identifizieren können, aber sie glaubte ihm blind.

»Ja, dumm war sie«, sagte Alice. »Sie dachte, sie würde eine Belohnung bekommen, wenn sie ihm von mir erzählte. Und von dir.«

Es gab noch eine weitere Tür, abgesehen von der Falltür. Hatcher trat an die Tür und lauschte.

»Da draußen sind Leute«, sagte er. »Eine ganze Menge Leute sogar, so wie es sich anhört.«

Alice ging zu ihm. Es hörte sich an, als wäre auf der anderen Seite der Tür ordentlich was los. Sie hörte jenes summende Murmeln, das immer erklang, wenn eine große Menge an einem Ort zusammenkam – das Schleifen von Füßen, das Auf- und Abebben von kurzen Gesprächen, die gelegentlichen Zurufe an einen Freund oder die Unruhe, die in einem empörten Aufschrei endete.

»Was meinst du?«, fragte Alice.

Es erschien ihr nicht klug, einfach hineinzustürmen und sich durch eine Menschenmenge hindurchhacken zu wollen. Es konnten Soldaten des Walrosses sein, in welchem Fall Alice und Hatcher zwar ein paar überrumpeln könnten, aber am Ende mit Sicherheit überwältigt werden würden. Oder es waren keine Soldaten, sondern unschuldige Leute, und Alice wollte auf keinen Fall, dass Unschuldige zu Schaden kamen.

Obwohl im Grunde keiner im Umfeld des Walrosses wirklich unschuldig sein kann, dachte sie. Bestenfalls sind es Männer, die die Mädchen nutzen wollen, die das Walross nicht aufgefressen hat. Schlimmstenfalls arbeiten sie für ihn, stehlen diese Mädchen aus ihren Leben und halten sie hier gefangen, wenn sie versuchen zu fliehen.

»Warte«, sagte Hatcher. »Hör mal hin.«

Alice konzentrierte sich auf die Geräusche auf der anderen Seite der Tür. Es war ruhiger geworden, und irgendjemand verkündete etwas. Sie konnte nicht ganz verstehen, was gesagt wurde, aber die Menge brüllte zur Antwort auf, jubelte und klatschte Beifall. Kurz darauf wurde es wieder still, und das Geschehen wiederholte sich.

»Das ist eine Kampfarena«, sagte Hatcher, als er das Ohr von der Tür nahm. »Alice, das ist perfekt. Wir müssen nur in der Menge untertauchen und mitgehen, wenn sie hinausgehen. Irgendwo muss es einen Ausgang geben, und zwar in der Nähe, wenn sich so viele Leute an einem Platz versammeln.«

Alice zögerte. »Was, wenn es nur Leute sind, die für das Walross arbeiten, und keine von außerhalb? Dann gibt es keine Garantie dafür, dass wir rauskommen.«

»Wir wissen, dass wir hier nirgendwo anders rauskommen«, wandte Hatcher ein. »Und wir sollten diesen Raum verlassen, bevor die Wachen wechseln und wir entdeckt werden. Was ist mit deiner Mütze passiert?«

Alice strich sich über das kurze Haar auf ihrem Kopf und entdeckte überrascht, dass sie keine Mütze mehr trug. »Die muss ich irgendwo verloren haben, ohne es zu merken. Es sind so viele seltsame Sachen passiert.«

»Dein Gesicht ist unverwechselbar«, sagte Hatcher. »Nimm meine, damit kannst du die Narbe etwas verbergen. Wenn wir Glück haben, ist es da drüben dunkel.«

Alice zog die Mütze tief ins Gesicht. Der Plan war überaus riskant, aber es sah aus, als hätten sie keine andere Wahl. Sie mussten den Raum verlassen, bevor sie in der Falle saßen.

Auf der anderen Seite grölte die Menge, und Hatcher nutzte den Augenblick, um durch die Tür zu schlüpfen. Es war eine gute Entscheidung, denn die Männer direkt vor der Tür standen mit dem Rücken zu ihnen und waren mit dem Geschehen unten im Ring beschäftigt. Hatcher schob sich hastig an der Wand entlang, weg von der Tür zu dem unterirdischen Tunnel. Alice vernarbte Wange zeigte zur Wand, was ein Glück war, weil sie nicht auffiel, wenn jemand sie ansah.

Der Raum war angelegt wie eine Arena, mit einer runden Manege unten und ansteigenden Tribünen mit Holzbänken darauf rundherum. Es stank nach Schweiß und Tabak und Verzweiflung, während die Männer sich heiser schrien, um den Kämpfer anzufeuern, auf den sie ihr Geld gesetzt hatten. Mädchen in verschiedenen Stadien der Entkleidung schlenderten durch die Menge und boten Erfrischungen zum Kauf an. Und einen kleinen Einblick in die Ware, die zusätzlich im Angebot ist, dachte Alice wütend, als sie beobachtete, wie einige Mädchen von Betrunkenen begrapscht wurden.

Unten im Ring stand ein dünner, drahtiger, aber dennoch muskulöser Mann, der nur eine Augenklappe und eine abgerissene Hose trug. Sein Gegner war …

Alice blieb stehen und starrte. Als Hatcher merkte, dass sie nicht mehr hinter ihm war, kam er zu ihr zurück.

»Was ist los?«, fragte er.

»Ein Kaninchen«, sagte sie und zeigte nach unten.

Der Gegner des dünnen Mannes war in der Tat ein Kaninchen – ein großes weißes Kaninchen mit rosafarbenen Augen. Sein Pelz, früher wahrscheinlich fluffig und weiß, war verfilzt und voll mit kupferfarbenen Flecken wie von getrocknetem Blut.

Hatcher runzelte die Stirn. »Nicht das Kaninchen. Nicht das, nach dem wir suchen.«

»Nein«, bestätigte Alice kopfschüttelnd. »Das muss noch so eine arme Kreatur sein, die Grinsers Wachstumstrank verabreicht bekommen hat, wie die Ratten.«

Der Mann tänzelte und drehte sich und schlug auf das Kaninchen ein, das seine Hiebe nur halbherzig erwiderte. Sogar aus dieser Entfernung konnte Alice den traurigen, gebrochenen Ausdruck in seinen Augen sehen.

Dann kam aus der Dunkelheit eine Peitsche, die das Kaninchen auf dem Rücken traf, und sie erblickte den Mann, der sie hielt.

Er war in der Tat monströs, aber nicht in der Art, wie Alice es erwartet hatte. Dollys Beschreibung hatte sie an jemanden denken lassen, der so fett war, dass er sich kaum bewegen konnte, einen massigen, aufgedunsenen Klumpen ohne Form und Gesicht. So war das Walross nicht.

Das Walross war sehr groß und kraftvoll gebaut, ein Berg aus Muskeln, die nur leicht außer Form waren. Sein tonniger Bauch sprach von seinem Appetit, aber jeder seine Arme war ungefähr doppelt so dick wie Alice’ Beine zusammen. Sein Gesicht lag halb im Schatten, auch wenn Alice meinte, seine Augen grausam amüsiert glitzern zu sehen, als das Kaninchen zu Boden ging.

Jetzt konnte sie die Striemen aus altem und frischem Blut erkennen, die den Rücken des Kaninchens zeichneten, und es tat ihr im Herzen weh. Die Zuschauer brüllten dem Kaninchen zu, es solle wieder aufstehen, und als es dem Befehl nachkam, versetzte ihm der dünne Mann direkt einen Hieb auf die rosafarbene, zitternde Nase. Die Schnurrhaare des Kaninchens waren in unterschiedlichen Längen abgebrochen, und sein rechter Schneidezahn war nur noch ein kurzer Stummel.

»Wir können ihn nicht hierlassen«, sagte Alice, als Hatcher ihre Hand in seine Armbeuge nahm und sie mit sich zog.

»Wir können dem Walross kein riesiges weißes Kaninchen direkt unter der Nase wegschnappen«, sagte Hatcher. »Abgesehen davon, was willst du dann mit ihm anfangen? Ihn zu dem anderen Kaninchen mitnehmen?«

Alice entzog ihm ihren Arm. »Wir können ihn nicht hierlassen«, sagte sie noch einmal bockig. »Er ist unschuldig.«

»Die Welt ist voll von Unschuldigen«, fuhr Hatcher sie an. »Du warst selbst unschuldig, und niemand hat dich gerettet.«

»Du hast Hattie gerettet«, sagte Alice.

»Sie war nicht unschuldig, als ich sie gefunden habe.«

»Und doch hast du sie gerettet.«

»Was ist mit den ganzen Mädchen, die wir bei der Raupe zurückgelassen haben? Was mit den schreienden Leuten im Irrenhaus, die wir haben verbrennen lassen?«, fragte Hatcher. »Es gab einen Grund, warum wir sie nicht gerettet haben. Wir können nicht alle retten.«

»Nein«, sagte Alice. »Wir können nicht alle retten. Aber jemanden können wir retten. Und ich will das Kaninchen nicht zurücklassen.«

»Warum ihn?«, fragte Hatcher. »Warum ausgerechnet jetzt?«

»Er ist hilflos«, sagte Alice. Sie konnte nicht ganz erklären, was das Kaninchen für sie bedeutete, wie sein Anblick ihr im Herzen schmerzte. »Er gehört nicht hierher. Er gehört auf eine Wiese, wo er an Löwenzahnblättern knabbern kann. Ich weiß es nicht, Hatch. Ich weiß nur, dass ich ihn nicht hierlassen kann. Ich bring es nicht übers Herz, ihn im Stich zu lassen.«

Hatcher seufzte, in seinen grauen Augen lag ein schwer zu deutender Ausdruck – irgendetwas zwischen Amüsiertheit, Frustration und Liebe und Wut und all dem durcheinander.

»Ich wusste, dass du eines Tages deine Linie finden würdest«, sagte er. »Ich dachte nur nicht, dass es ausgerechnet jetzt passieren würde.«

»Meine Linie?«

»Die Linie, die du nicht überschreiten wirst. Du wirst das Kaninchen nicht im Stich lassen. Du wirst diese Linie nicht überschreiten.« Hatcher verschränkte die Finger und ließ sie knacken. »Es musste wohl irgendwann so kommen, schätze ich. Ich bin meinem eigenen Rat nicht gefolgt.«

»Welchem Rat?«, fragte Alice.

»Ihn zu töten«, sagte Hatcher. »Das war mein Fehler, und den sollte ich wiedergutmachen. Warte hier.«

Er drängte sich durch die tobende Menge, bis er fast an der untersten Bankreihe angekommen war. Dann versetzte er einem Mann einen Tritt in den Rücken, sodass der mit dem Kinn nach vorn kippte und gegen einen anderen vor sich stürzte. Hatcher kletterte auf die Bank, während sein Opfer versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, und sich mit den anderen Betrunkenen um ihn herum verfing. Alle Blicke richteten sich auf das Durcheinander, einschließlich der des Walrosses.

Hatcher zog die Axt aus dem Mantel und erhob die Stimme laut über das Gemurmel der Menge.

»FLEISCHWOLF!«, brüllte er.