3
Sie trat beiseite, um sie hereinzulassen. Hatcher ließ sich nicht anmerken, ob er seinen Namen wiedererkannt hatte, aber er trat über die Schwelle, als gehöre er hierher.
»Was ist dem Mädchen passiert?«, fragte die Frau, während sie zur Feuerstelle ging, um das Feuer zu schüren.
Alice schüttelte Hatchers Arm ab, taumelte auf das Feuer zu, diese wunderschöne Wärme, und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Teppich. Sie hörte Hatchers Antwort nicht mehr, gesegnete Dunkelheit hüllte sie ein.
Als sie wieder aufwachte, lag sie in einem weichen Bett auf einem Federkissen unter einer kratzigen Wolldecke. Es war Jahre her, dass sie in einem Bett geschlafen oder eine Decke gehabt hatte, und eine Weile lang genoss sie einfach nur das luxuriöse Gefühl, es zur Abwechslung mal gemütlich zu haben.
Eine Kerze flackerte auf einem kleinen Tischchen auf der anderen Seite des Zimmers. Der Raum hatte keine Fenster. Ein Krug und eine Schüssel standen neben der Kerze. Alice hatte Schmerzen am ganzen Körper, fühlte sich aber sauber, und ihr Kopf war seltsam leicht. Sie legte ihre Hand daran und erschrak, als sie feststellte, dass ihre langen Haare weg waren. Ihre Finger wanderten vom Nacken hinauf zum Scheitel. Die verfilzte Masse war gleichmäßig abgeschnitten, die seidigen Strähnen, die noch übrig waren, kaum zwei Fingerbreit lang.
Sie fasste an ihre Stirn, an die Stelle, von wo der Schmerz in ihren ganzen Schädel ausstrahlte. Jemand hatte die Wunde gesäubert und vernäht. Sie konnte die ordentlichen kleinen Stiche ertasten. Alice war froh, dass sie das verschlafen hatte.
Sie hob die Decke und sah ein etwas abgetragenes, aber sauberes Musselin-Nachthemd. Der Dreck und das Blut waren abgewaschen. Sie zog die Ärmel des Nachthemds hoch und sah rote Abdrücke an ihren Handgelenken.
»Der Junge hat gesagt, er sei das gewesen, aber es war keine Absicht«, sagte eine Stimme.
Alice blickte über die rechte Schulter und sah, dass die alte Frau den Vorhang im Eingang beiseitegezogen hatte. In einer Hand hielt sie einen Teller, als hätte sie gewusst, dass Alice gerade jetzt erwachen und Hunger haben würde.
Sie ging langsam, wie mit steifen Gelenken, zu Alice’ Bett und reichte ihr den Teller. Es gab braunes Brot und ein Stück krümeligen gelben Käse. Alice nahm den Teller und murmelte: »Vielen Dank.«
»Iss langsam«, riet die alte Frau. »Nicolas hat gesagt, du seist krank gewesen.«
Alice lachte auf, ein kurzes bellendes Geräusch, das sie selbst überraschte. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal gelacht hatte.
»Ja, das könnte man so sagen, dass ich krank war«, sagte sie und weinte plötzlich, schluchzte, wie sie nicht mehr geschluchzt hatte, seit sie ein kleines Kind gewesen war.
All die Jahre, die sie nur an den vier Wänden ihrer Zelle entlanggewandert war, wo man sie nur herumgestoßen und herumgezerrt hatte, diese Wärter, für die sie nur eine abzuleistende Pflicht war. All die Nächte, in denen sie verängstigt aus einem Albtraum hochgeschreckt war, der sie einfach nicht in Ruhe lassen wollte, all die Nächte war niemand da gewesen, um sie zu trösten oder diese Angst zu besänftigen. Alles, was geschehen war, seit das Krankenhaus in Flammen aufgegangen war – der Rauch und die Angst und die Männerhände, die sich zwischen ihre Beine drängten. All diese Dinge hatten sich in ihrem Inneren aufgetürmt, zugedeckt durch den tröstlichen Nebel der Pulver, die jeden Morgen und jeden Abend in ihr Essen gekippt wurden. Jetzt sah die Welt scharf aus und klar, zu klar und zu lebendig. Es war unsagbar schrecklich.
Die alte Frau nahm sie nicht in den Arm und bot auch keinen falschen Trost an. Sie wartete geduldig und blickte sie mitfühlend an, bis Alice sich ausgeweint hatte. Dann gab sie ihr ein fadenscheiniges Taschentuch, mit dem sich Alice das Gesicht trocknete. Ihre Hände hielten über der linken Wange inne, als ihr voller Schrecken klar wurde, dass die Narbe jetzt gut sichtbar war und von dem kurz geschnittenen Haar nicht mehr verdeckt wurde.
»Warum hast du mir die Haare geschnitten?«, fragte Alice. Sie hatte das nicht sagen wollen. Eigentlich hatte sie sagen wollen: »Vielen Dank, dass du mich gewaschen hast und mir zu essen gibst und meine Wunden verbunden hast«, aber es war anders herausgekommen, als sie es vorgehabt hatte.
»Ihr wart voller Ungeziefer«, sagte die alte Frau sachlich. »Du und der Junge. Wahrscheinlich habt ihr es schon seit Jahren nicht mehr gemerkt. Es war am einfachsten, so viel wie möglich abzuschneiden und den Rest rauszuschrubben. Außerdem scheint Nicolas es für sicherer zu halten, wenn du als Junge gekleidet bist. Wenn man bedenkt, was euch auf dem Weg hierher passiert ist, stimmt das vielleicht sogar. Dünn genug bist du jedenfalls, um als Junge durchzugehen, und groß genug auch, für ein Mädchen zumindest. Auch wenn dein Gesicht immer noch eine Spur zu hübsch ist, selbst mit dieser Narbe, die dir solche Sorgen macht. Und an manchen Orten sind Jungen genauso gefährdet wie Mädchen. Na ja, Nicolas wird ja bei dir sein.«
»Wer bist du?«, fragte Alice. »Für Hatcher, meine ich.«
Sie konnte sich nicht überwinden, ihn bei dem Namen zu nennen, mit dem diese Frau ihn ansprach. Er schien nicht zu dem Mann zu passen, den sie kannte.
»Ich heiße Bess, und er ist mein Enkel, auch wenn er sich nicht daran erinnert«, sagte sie. »Seine Mutter war meine Tochter. Sie hat mich verlassen, als sie neunzehn war, und ist dann drei Jahre später mit ihm zurückgekommen und hat ihn hiergelassen, immer noch in seinen ersten Windeln. Wenn man bedenkt, wie sie geguckt hat, war das wahrscheinlich auch am besten so.«
»Wie hat sie denn geguckt?«
»Als ob sie irgendwo über der Stadt dahinflöge, wie diese Flugmaschinen, in denen die Leute aus der Neuen Stadt reisen. Sie war nicht mehr an die Erde gebunden wie der Rest von uns.«
»Also weißt du, was Hatcher passiert ist? Warum er im Irrenhaus war?«
Bess schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe Nicolas seit dreiundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Mit siebzehn ist er in schlechte Gesellschaft geraten. Ich hab ihm gesagt, dass ich so was unter meinem Dach nicht dulden würde, und so ist er fortgegangen. Genau wie seine Mutter damals. Sieht aus, als hätte ich denselben Fehler zwei Mal gemacht, auch wenn ich beide Male mein Bestes gegeben habe.«
Sie verstummte, und Alice konnte ihre Trauer förmlich mit Händen greifen.
»Seitdem habe ich kein Wort mehr von ihm gehört«, fuhr Bess fort. »Aber vor vier Nächten hatte ich einen Traum, habe geträumt, dass er zurückkommt. Wir haben noch ein bisschen Seherisches in unserem Blut, genug, um zu wissen, dass unsere Visionen die Wahrheit zeigen. Nicolas hat es auch. Deshalb redet er vom Jabberwock.«
»Ich dachte, das wäre nur eine Einbildung«, sagte Alice.
Die alte Frau sah sie scharf an. »Hast du das Wesen im Feuer nicht gesehen? Glaubst du nicht, was du mit deinen eigenen Augen gesehen hast?«
»Nein, tu ich nicht«, sagte Alice. »Ich hab mal ein Kaninchen gesehen, das gleichzeitig ein Mann war, und alle haben gesagt, es gäbe ihn nicht und ich würde lügen.«
Bess zischte, als sie das Kaninchen erwähnte. »Oh, und wie es den gibt, der ist mehr als wirklich, schlimmer geht’s kaum. Halte dich von ihm fern, Mädchen, hörst du? Falls du einmal so viel Glück hattest, aus seinem Bau zu entkommen, wirst du das kein zweites Mal bekommen.«
Die Leidenschaft in ihrer Stimme verblüffte Alice. »Du kennst das Kaninchen?«
»Ich sage dir, halte dich von ihm fern«, wiederholte sie. »Lass dich nicht von deiner Neugier verführen, den Gartenpfad entlangzugehen. Das wird’s gewesen sein, was dich beim ersten Mal in Schwierigkeiten gebracht hat, kann ich mir vorstellen.«
»Ja«, sagte Alice ruhig.
Bess hatte natürlich recht. Es würde nichts Gutes dabei herauskommen, wenn sie ihrer Neugier nachgab, mehr über die Gestalt zu erfahren, die seit Jahren ihre Träume heimsuchte. Doch irgendwo tief in ihrem Inneren strahlte etwas triumphierend auf: Alle hatten sie für verrückt erklärt, als sie von einem Kaninchen-Mann erzählte, aber sie hatte recht gehabt. Sie hatte recht.
»Hör auf mich«, sagte Bess. »Suche nicht nach dem Kaninchen, es sei denn, du wünschst dir noch mehr Tod und noch mehr Irrsinn.«
Alice schüttelte den Kopf. »Tu ich nicht. Ich versprech’s.«
Die alte Frau musterte sie eindringlich und sah ihr tief in die Augen. Dann nickte sie, als sei sie zufrieden mit dem, was sie gesehen hatte. »Gut«, sagte sie. »Du wirst sowieso keine Zeit dafür haben. Du und der Junge, ihr müsst den Jabberwock finden.«
»Wir? Wieso das denn?« Sie glaubte kaum, dass dieses Ungeheuer überhaupt existierte, aber falls doch, dann war es doch wohl ebenso wenig ratsam, nach ihm zu suchen, wie nach dem Kaninchen.
»Ihr seid die Einzigen, die gesehen haben, wie er losgelassen wurde – es gesehen und gewusst, was ihr da gesehen habt, meine ich. Er ist bereits auf der Jagd, und das Blut, das er trinkt, lässt ihn nach immer mehr gieren.«
»Wenn es so schlimm ist, wird ihn doch sicher die Polizei fangen«, sagte Alice. »Oder die Soldaten aus der Neuen Stadt.«
»Kein normaler Mensch könnte den Jabberwock fangen«, erklärte Bess. »Die Polizei wüsste nicht mal, was sie vor sich hat. Er kann sich als Mensch ausgeben, wenn er will, und tut das auch oft, weil er damit leichter durchkommt. Und die Soldaten kommen sowieso nicht in die Alte Stadt, unter keinen Umständen, wie du ganz genau weißt. Selbst wenn hier nichts als Ungeheuer und Aufstände wüten würden, würden sie keinen Fuß in die Alte Stadt setzen. Sie sollen den Dreck der Alten Stadt aus der Neuen raushalten, damit sie sauber bleibt, damit die feinen Damen sich nicht die Säume ihrer Kleider beschmutzen.«
Das klang dem so ähnlich, was Hatcher letzte Nacht gesagt hatte, dass Alice rot anlief vor Scham. Trotz des schwachen Lichts bemerkte es die alte Frau und lachte auf.
»Du bist wohl nicht von hier, was, Kleines? Aber du hast immerhin das Kaninchen überlebt, also kannst du nicht so schwächlich sein wie der Rest von euch. Und mein Traum hat mir gesagt, dass ihr beide den Jabberwock finden müsst. Irgendetwas muss in dir stecken, das sich bisher noch nicht gezeigt hat.«
Die alte Frau ging ganz nah an ihr Gesicht heran und musterte sie so eindringlich, dass Alice sich wegdrehte, um ihrem forschenden Blick zu entgehen. Brennender Zorn stieg in ihr gegen diese Frau auf, die sich so gut um sie gekümmert hatte, obwohl sie nichts dazu verpflichtete.
Wer war sie, Alice vorschreiben zu wollen, was sie tun und lassen sollte? Zehn Jahre lang hatte man ihr das gesagt, zehn Jahre und eigentlich noch viel länger, denn als sie noch die Tochter ihrer Eltern gewesen war, hatten die sie auch ständig herumkommandiert und immer nur getadelt, immer nur: Nein, Alice, tu das nicht, das ist unschicklich. Nein, Alice, diese Freundin darfst du nicht mehr sehen, sie ist keine passende Gesellschaft für dich.
Nie war sie frei gewesen, frei, sich auszusuchen, wen sie mochte und mit wem sie zusammen sein und was sie tun wollte. Und jetzt war da dieser fremde Mensch, der ihr sagen wollte, dass sie immer noch nicht frei sein durfte. Niemand konnte sie zwingen, sich auf die Suche nach einem mörderischen Albtraum zu begeben, wenn sie das nicht wollte, und sie würde sich das von keiner Großmutter vorschreiben lassen – Seherin hin oder her.
Die alte Frau legte ihr den Finger unter das Kinn und drehte Alice’ Gesicht zu sich hin. »Na, na«, sagte sie. »Glaub nur nicht, du könntest deinem Schicksal davonlaufen. Ich habe es gesehen, und was einmal geweissagt ist, kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Wenn du deiner Freiheit nachjagst, wird dich dein Schicksal einholen und dich zurückzwingen.«
Alice’ Wangen wurden wieder feucht. »Das ist nicht fair.«
»Es ist, was es ist«, sagte Bess und stand auf. »Am besten geht ihr zu Grinser, oben in Haus Rosenweg, und sprecht mit ihm. Er wird euch helfen, euch die richtige Richtung weisen. Nicolas wird bald zurück sein. Du solltest dich anziehen.«
Sie zeigte auf ein Bündel Kleider, das neben Alice’ Bett an einem Haken hing.
»Wo ist Hatcher hingegangen?«
»Ein paar Sachen für mich besorgen, für die ich sonst einen Laufburschen bezahlen müsste. Er brauchte was zu tun, Nicolas. Hat beinahe den Verstand verloren, als du da so stumpf umgekippt bist, und dann die ganze Zeit an deinem Bett gesessen und dich angestarrt, bis ich ihn rausgejagt habe.«
Bess ging hinaus, und Alice starrte auf ihre Hände. Sie hielt immer noch den Teller mit dem Brot und dem Käse, wovon sie jeweils nur einen Bissen gegessen hatte. Die Worte der alten Frau klangen ihr noch in den Ohren. Wenn du deiner Freiheit nachjagst, wird dich dein Schicksal einholen und dich zurückzwingen.
Warum sollte ausgerechnet sie, Alice, den Jabberwock finden? Wieso konnte das nicht jemand anderes machen? Sie war doch nichts Besonderes! Und was sollten sie und Hatcher tun, wenn sie ihn fanden? Hatcher mochte über die Gabe des Sehens verfügen, aber er war kein Zauberer und Alice auch nicht.
Sie nahm noch einen Bissen von dem Brot und kaute nachdenklich darauf herum. Das Brot war gut, wesentlich besser als alles, was sie im Krankenhaus zu essen bekommen hatte. Mit einem Mal überwältigte sie der Hunger, und sie stopfte sich den Rest des Brots schneller in den Mund, als sie es kauen konnte.
Sie war so hungrig. Noch nie im Leben war sie so hungrig gewesen. Das Brot verschwand im Handumdrehen. Als sie den Käse ansah, drehte sich ihr der Magen um wie am Tag zuvor. Sie ließ den Käse auf den Teller fallen, warf die Bettdecke beiseite, sprang aus dem Bett und lief zum Tisch.
Der Boden unter ihren nackten Füßen war kalt. Der Krug war zur Hälfte mit Wasser gefüllt, wie sie gehofft hatte. Sie hob ihn an die Lippen und stürzte so viel herunter, wie sie schlucken konnte. Das Wasser war eiskalt und brannte in ihrer gereizten Kehle, und die Kälte ließ ihr beinahe das Herz stehen bleiben. Sie stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab und atmete heftig durch die Nase, bis die Krämpfe und die Übelkeit vergingen und ihr Körper sich wieder normal anfühlte.
Alice begann zu zittern. Jetzt, da sie den schützenden Kokon der Decken verlassen hatte, merkte sie, wie kalt es war. Sie dachte an das Feuer, das sie im Nebenraum knistern hörte, und suchte nach den Kleidern, damit sie sich anziehen und nach drüben gehen und sich so dicht vors Feuer stellen konnte wie irgend möglich.
Das Bündel Kleider entpuppte sich als eine wollene Männerhose, ein weißer Kasack aus grobem Stoff, eine graue Jacke und eine Mütze. Alice breitete die Sachen auf dem Bett aus und versuchte, nicht an die hübschen Kleider zu denken, die sie früher getragen hatte, als sie noch in der Neuen Stadt lebte.
Dieses Leben ist vorbei. Und das hier ist allemal besser als das, was du im Krankenhaus getragen hast.
Sie zog das Nachthemd über den Kopf und nahm sich etwas Zeit für eine eingehende Bestandsaufnahme ihres Körpers. An der leichten Wölbung ihrer rechten Brust war ein großer lilafarbener Bluterguss, und sie hatte Schürfwunden am Bauch und an den Oberschenkeln. An den Innenseiten ihrer Beine befanden sich Fingerabdrücke im gleichen Lila, und ihre Fußrücken waren aufgeschürft.
Rippen und Hüftknochen zeichneten sich unter der Haut ab, die so bleich war, dass sie durchscheinend wirkte, und einfach alles schmerzte von den Anstrengungen des vergangenen Tages, auch dort, wo an der Oberfläche nichts zu sehen war. Es war Jahre her, dass sie so weit zu Fuß gegangen war, und sie war ganz sicher noch nie in ihrem Leben aus einem Fenster im dritten Stock in einen Fluss gesprungen.
Als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, blickte sie auf und sah einen fremden Mann, der den Vorhang beiseitegeschoben hatte und sie anstarrte. Ihr Herz schien kurz stehen zu bleiben, und sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus.
Sein Haar war schwarz, mit grauen Flecken gesprenkelt, und sehr kurz geschnitten. Sein Gesicht war glatt rasiert, mit hohlen Wangen und einem kantigen Kinn. Er trug dieselben groben Kleider, Hose und Hemd, wie Alice sie gerade auseinandergefaltet hatte. Ihre Stimme arbeitete sich ihre Kehle herauf, doch dann erkannte sie seine Augen. Seine eisengrauen Augen, mit einem Feuer darin, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte.
Er trat zu ihr, zog den Vorhang hinter sich zu und nagelte sie mit seinem Blick fest. Ihr Herz flatterte in ihrer Brust wie ein in einem Netz gefangener Falter. Als er vor ihr stand, blieb er stehen und legte eine Hand an ihre Wange, die Wange, die vor so vielen Jahren aufgerissen worden war.
Er legte die Hände um ihr Gesicht, und ihr fiel zum ersten Mal auf, wie groß seine Hände waren und wie groß er war, um wie viel er sie überragte. Aus der Nähe erkannte sie eine Vielzahl verblasster weißer Narben, die sein Gesicht überzogen und die früher durch den Bart verborgen gewesen waren.
Dann ließ er die Hand sinken, ging vor ihr auf die Knie und legte seine Wange so sanft an ihren Bauch, dass sie am liebsten geweint hätte. Seine Arme umschlangen ihre Taille, nicht so fest, dass es wehtun könnte, aber gerade fest genug, damit sie wusste, dass er sie nicht loslassen würde. Seine Haut schien mit ihrer zu verschmelzen, es war, als versuchte er, in sie hineinzukriechen.
Ihre Hände gruben sich in sein Haar, das noch kürzer war als ihres und sehr viel dicker und drahtiger. So standen sie eine Weile da, atmeten einander ein, bis ihr Atem im selben Rhythmus floss.
Dann stand Hatcher auf, und Alice sah das Feuer in seinen Augen lodern. Er strich ihr noch einmal übers Haar und verließ dann wortlos den Raum.
Alice zog sich dann schnell an. Ihre Beine zitterten, als sie versuchte, in die Hose zu steigen, und sie wusste nicht, ob es von der Kälte kam oder von dem, was gerade geschehen war. Die Hose wollte nicht auf ihren knochigen Hüften halten. Sie fasste den Bund mit den Händen zusammen und schlurfte auf kalten, nackten Füßen in den Wohnraum.
Bess und Hatcher standen nebeneinander und betrachteten eine Sammlung verschiedener Gegenstände, die auf dem Boden ausgebreitet lagen. Die alte Frau bemerkte Alice.
»Ich hole ein Seil für dich«, sagte sie und verschwand im hinteren Teil der Behausung.
»Tut mir leid«, sagte Hatcher und zeigte auf die Hosenbeine, die hinter Alice’ Fersen auf dem Boden schleiften. »Ich war in Eile, als ich sie besorgt habe, und hab mehr so in diese Richtung gedacht« – er zeigte an seinem Körper auf und ab – »als in diese« – er bewegte seine Hand von einer Seite zur anderen.
Alice ging um ihn herum, vor allem weil dort das Feuer war und sie sich verzweifelt nach Wärme sehnte, aber auch weil sie neugierig auf die Gegenstände war, die auf dem Boden lagen.
»Warum warst du in Eile?«, fragte sie.
»Hm?«, fragte Hatcher. Er betrachtete wieder die gesammelten Sachen.
»Warum warst du in Eile, als du die Sachen besorgt hast?«
»Oh.« Er grinste, und dieses Grinsen traf sie direkt ins Herz und machte es sich dort bequem. Sie hatte ihn noch nie wirklich lächeln sehen. »Ich habe sie von einer Wäscheleine geklaut.«
»Hatch«, sagte Alice tadelnd. »Du hättest sie nicht stehlen müssen, du hast einen ganzen Beutel Gold von diesem Sklavenhändler.«
»Inzwischen ist es kein ganzer Beutel mehr, weil ich die Sachen hier mitgebracht habe«, erklärte er. »Abgesehen davon werden wir noch was von dem Gold brauchen, wo wir hingehen. Bess sagt, ihr Name wird reichen, um bei Grinser reinzukommen, aber ich erinnere mich, dass eine Menge Hände geschmiert werden müssen, bevor man da überhaupt hinkommt.«
»Du erinnerst dich«, sagte Alice.
Hatcher sah sie überrascht an. »Ja, stimmt. Daran erinnere ich mich.«
»Nur an das oder auch an anderes?«
»Nur an das, fürs Erste«, sagte er. »Es ist, als fiele mir immer nur genau so viel ein, wie ich für den Augenblick brauche.«
»Was sind das für Sachen da?«, fragte Alice.
»Vorräte«, sagte Hatcher.
Alice dachte, dass ihre Vorstellungen davon, was »Vorräte« waren, sich ziemlich stark unterschieden. Wenn Alice diejenige gewesen wäre, die hätte Vorräte beschaffen sollen, wäre sie mit Essen und Kleidung und Decken zurückgekommen, Sachen, die man zum Überleben brauchte. Was da vor ihr ausgebreitet lag, erinnerte mehr an ein Waffenarsenal.
Da waren zwei Messer – ein ziemlich gewöhnlich aussehender Dolch mit Ledergriff und ein dünnerer mit einer geraden und einer geschwungenen Seite, wie ein Schlachter ihn benutzen könnte. Es gab verschiedene Seile, dickere und dünnere in verschiedenen Längen. Und eine kleine Axt. Alice warf Hatcher von der Seite her einen Blick zu, als sie sie entdeckte. Er folgte ihrem Blick zurück zu der böse aussehenden Klinge und schüttelte den Kopf.
»Die weckt keine Erinnerungen, nicht so, wie man es vermuten sollte«, sagte er. »Obwohl sie sich, als ich sie in der Hand hielt, anfühlte, als gehörte sie dahin, als wäre sie ein Teil von mir.«
Noch ein Gegenstand lag auf dem Boden, und es war so seltsam, ihn zu sehen, dass Alice ihn nur wortlos anstarren konnte.
»Ist das …?«, fragte sie und zeigte darauf. Sie wusste nicht mal, wie man es nannte. Bisher hatte sie so etwas nur auf Abbildungen in Büchern gesehen, niemals in Wirklichkeit.
Hatcher grinste wieder, und sie erkannte den Schalk darin, der irgendwo unter all dem Blut und all dem Wahnsinn verborgen war. Irgendwo tief in ihm steckte immer noch der Lausejunge, der gern Streiche ausheckte.
»Eine Pistole, ja«, sagte er.
»Eine Pistole«, wiederholte Alice. Nichts hätte sie mehr schockieren können, nicht einmal wenn er behauptet hätte, insgeheim ein Zauberer zu sein. »Nur die Königliche Wache darf Pistolen tragen. Nicht mal die Soldaten, die die Neue Stadt beschützen, haben welche.«
Hatcher legte den Kopf schief, als sähe er sie zum ersten Mal. »Glaubst du eigentlich immer, was man dir erzählt?«
Sie kam sich dumm vor, als er sie so fragte, und errötete unter seinem Blick. »Nein. Früher vermutlich schon. Jetzt weiß ich es nicht mehr.«
»Glaube nichts, was dir die Bullen erzählen oder die Soldaten oder die Regierung, Alice«, sagte Hatcher. »Die scheren sich nicht um dein Glück. Die wollen nur, dass du den hohen Herrschaften in der Neuen Stadt keinen Ärger machst. Diese Soldaten haben Pistolen, Alice, das ist so sicher, wie deine Augen blau sind. Du siehst sie nur nicht.«
Die Pistolen der Soldaten waren ihr ziemlich egal, viel mehr Sorgen bereitete ihr die Tatsache, dass Hatcher offensichtlich vorhatte, eine Pistole mitzunehmen. »Das ist illegal. Wenn du diese Pistole mit dir rumträgst, wird das sehr viel mehr Aufmerksamkeit erregen, als ein Messer es je könnte.«
»Weil sie damit rechnen, dass der Abschaum Messer hat und damit aufeinander losgeht«, nickte Hatcher. »Ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Sie wird gut versteckt sein. Ist nur für den äußersten Notfall.«
Alice blickte ihn zweifelnd an, sagte jedoch nichts mehr. Er begann, die Gegenstände vom Boden aufzuheben. Die Messer, die Axt und die Pistole verschwanden so vollständig unter seinem Mantel, dass man nichts mehr davon ahnte. Die Seile wurden zusammengelegt und in ein Bündel Kleidung eingerollt, das ihr bisher noch nicht aufgefallen war.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Umhänge«, erklärte er. »Besser als Decken, wenn es dunkel wird. Man verliert sie nicht so leicht, wenn man schnell wegmuss, verstehst du? Tagsüber fällt man nicht so auf, nach Sonnenuntergang verschmilzt man mit den Schatten.«
Also hatte er auch an andere Möglichkeiten gedacht, als ihr Leben mit Gewalt zu verteidigen, dachte Alice. Es war so warm an diesem Feuer, dass sie am liebsten für immer hiergeblieben wäre. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn sie zu dieser Tür hinausgingen.
Allein dass sie aus dem Krankenhaus geflohen waren, konnte sie schon in heftige Schwierigkeiten bringen. Aber wenn Hatcher mit der Pistole erwischt würde, würde er hingerichtet werden. Ohne Prozess, ohne auch nur den Anschein von Gerechtigkeit. Wahrscheinlich würden sie ihn auf der Stelle mit seiner eigenen Waffe erschießen.
Der Gedanke riss sie jäh aus ihrer Träumerei, sie starrte ihn an.
»Was?«, fragte er.
»Du hast diese Pistole gekauft, damit du nicht zurück ins Krankenhaus musst«, sagte sie und war ein bisschen überrascht von dem Zorn, der in ihrer Stimme mitschwang. »Du weißt, dass sie dich auf der Stelle umbringen, wenn du damit erwischt wirst.«
Hatcher nickte. »Ja. Ich hab dir gesagt, dass ich nicht zurückkann. Ich ertrage den Gedanken nicht mehr, zwischen vier Wänden eingesperrt zu sein. Und sie würden uns trennen, Alice. Kein Trost mehr durchs Mauseloch. Sie würden uns getrennt voneinander halten, und den Gedanken kann ich genauso wenig ertragen wie den, eingesperrt zu sein. Also werde ich dafür sorgen, dass es keinen anderen Ausweg gibt, dass mir dieser Ausweg immer bleibt. Und das kann ich auch für dich tun.«
Sie wusste, was er anbot. Er würde sie zuerst töten, mit der Pistole oder dem Messer oder seinen Fäusten, wenn er musste, und dafür sorgen, dass sie nie wieder in diesen Käfig gesperrt würde. Bei jedem anderen hätte es sie erschreckt, dass er so nüchtern einkalkulierte, sie zu töten. Aber sie verstand, dass dieses Versprechen für Hatcher so viel wert war wie ein Heiratsantrag. So weit würde er für sie gehen, so wichtig war sie ihm.
Die Vorstellung, wieder in ihr Gefängnis zurückzukehren, bereitete ihr Übelkeit. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie Hatchers Angebot nicht annehmen würde. Sie hatte noch gar nicht richtig gelebt und konnte sich nicht so bereitwillig dem Versprechen des Todes ergeben. Noch nicht.
»Danke. Ich werde daran denken«, sagte Alice.
Hatcher nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Bess kam zurück, mit einem Seil in einer Hand und in der anderen etwas Rotem, das an einer Silberkette glitzerte.
»Ich hab schon gedacht, ich hätte es verloren«, sagte sie entschuldigend. »Hab länger suchen müssen als gedacht.«
Alice nahm den provisorischen Gürtel entgegen, schlang ihn geistesabwesend um die Taille und zog den Hosenbund eng. Das im Feuerschein glitzernde Ding faszinierte sie.
»Das ist für dich«, sagte Bess. »Es stammt von meiner Ururururgroßmutter, die eine echte Zauberin war, lange vor der Großen Reinigung. Es wird dich schützen.«
Sie hielt es Alice hin, die zögerte. »Ich sollte mir kein Familienerbe aneignen.«
Bess schnaubte. »Ich habe sowieso keine Familie mehr, abgesehen von Nicolas hier, und im Vergleich zu allen, die er mal mit nach Hause gebracht hat, kommst du einer Braut noch am nächsten. Wenn du es nicht nimmst, wird es nur gestohlen, wenn sie mich dereinst hier tot finden, und dieser Tag ist nicht mehr fern.«
Sehen musste eine schreckliche Gabe sein, dachte Alice, wenn man die Stunde seines Todes erfahren konnte. Sie sah, wie Hatchers Hände innehielten, als die alte Frau so beiläufig von ihrem Tod sprach. Also ließ es auch ihn nicht ganz unberührt. Vielleicht erinnerte ein kleiner Teil von ihm sich doch an Nicolas und die Großmutter, die ihr Bestes für ihn gegeben hatte.
Bess hielt ihr die Kette weiter hin, ein bisschen ungeduldig jetzt, und Alice nahm sie. Sie sah sich das glitzernde Juwel in ihrer Hand von Nahem an.
»Es ist eine Rose«, sagte sie und hatte plötzlich das Gefühl zu ertrinken, zu ertrinken in Erinnerungen an Reihen voller roter Rosen in einem Garten, Rosen auf dem Kleid, das sie an dem Tag trug, als sie sich mit Dor davongestohlen hatte.
»Meine Mutter …«, fing sie an und hatte für einen Augenblick das Gefühl, wieder in Ohnmacht zu fallen. »Meine Mutter liebte Rosen. Sie sind bei ihr wie von Zauberhand gediehen. Niemand hatte so schöne Rosen wie sie, und dabei hat sie sich kaum vom Gärtner helfen lassen.«
Das andere sprach sie nicht aus, jene andere Erinnerung, die ihr gekommen war, behielt sie in ihrem Herzen. Ihre kleine pummelige Hand in der schlanken und eleganten Hand ihrer Mutter, die Sonne von hinten, die das goldene Haar ihrer Mutter zum Leuchten brachte, so dass sie aussah wie ein Engel, und ihr Gesicht, das lächelnd auf Alice herabschaute und zärtlich mit ihr sprach: Alice, meine kleine Rose, meine kleine aufblühende Rose.
Wo war diese Frau geblieben, diese liebevolle Mutter? Warum hatte sie Alice nicht mehr geliebt, als sie verletzt und verängstigt nach Hause gekommen war? Warum hatte sie Alice fortgeschickt, an den schrecklichsten Ort der Welt?
Sie dachte, sie hätte diese Vergangenheit längst aus sich herausgeweint, aber da war sie wieder, stieg in ihrer Brust auf, bereitete ihr Schmerzen und ließ ihre Augen vor Tränen brennen.
Bess betrachtete sie mit demselben geduldigen Blick wie zuvor, und nach einer Weile rieb sich Alice die Augen.
»Danke«, sagte sie und hob die Kette über ihren Kopf.
Als die Rose in ihrer Halsbeuge zu liegen kam, begann sie zu leuchten wie von einem inneren Feuer erhellt. Die kleine Frau holte erschreckt Luft und packte Alice am Kinn, drehte es zu sich, sodass sie ihr in die Augen blicken konnte.
»Du. Du!«, sagte sie.
Da sprang Hatcher auf, und sein Gesicht war totenbleich, sogar seine Lippen.
»Er ist da«, sagte er, verdrehte die Augen und kippte um.