Wie

Wie diese Dinge passieren

Am besten nachdenken kann Hanna spätnachts, wenn all die Eindringlinge in ihrem Haus schlafen. Wenn nicht Winter ist, also nicht oft, klettert sie mit einem Päckchen Zigaretten und einem Feuerzeug auf ihr Dach. Sie raucht und starrt hoch in den blauschwarzen Nachthimmel. Sie lebt im Norden, wo Sterne sinnvoll sind. Sie wohnt mit ihrem arbeitslosen Ehemann, ihrer Zwillingsschwester, dem Mann ihrer Schwester, deren Sohn und ihrem Vater zusammen. Sie ist die Einzige, die arbeitet – morgens kellnert sie im Koivu Café, und abends steht sie an der Bar im Karpela’s Supper Club. Den Großteil ihres Trinkgelds lässt sie bei ihrer Freundin Laura. Hanna plant ihre Flucht.

Das beliebteste Gericht im Koivu ist pannukakku, ein finnischer Pfannkuchen. Wenn der alte Larsen zu verkatert ist, wärmt Hanna die Pfanne im Ofen vor und mischt den Teig – Eier, leicht aufgeschlagen, dann langsam den Honig, Salz und Milch dazugeben, zum Schluss das gesiebte Mehl. Sie mag das knarrende Geräusch, wenn sie die Siebmaschine anstellt. Sie wiegt sich von einer Seite zur anderen und stellt sich vor, eine Flamencotänzerin zu sein. Sie ist in Spanien, wo es warm ist, wo es Sonnenschein gibt und Schönheit. Sie mag es, pannukakku mit extraviel Butter zu machen, so dass die Ränder der Pfannkuchen golden und knusprig werden. Manchmal zupft sie vorsichtig die Ränder eines Pfannkuchens ab und isst sie, einfach so. Sie ist immer noch in Spanien und isst Brot aus einer panadería, vielleicht zusammen mit einem Glas Wein. Dann hört sie jemanden rufen: »Bestellung fertig!«, und sie ist nicht mehr in Spanien. Sie ist mitten im Nirgendwo und steht an einem heißen, fettigen Herd.

Peter, Hannas Mann, kommt jeden Morgen zum Frühstück. Sie hält ihm einen Platz am Tresen frei und nimmt seine Bestellung auf. Er starrt sie an, sieht ihr in den Ausschnitt und wackelt mit den Augenbrauen. Sie täuscht Zuneigung vor, klopft ihm mit ihrem Bestellblock auf den Kopf und gibt die Bestellung an den alten Larsen weiter, der brummelt: »Hier gibt’s keine Extrawürste«, aber dann macht er ihm Kartoffelpuffer mit drei Spiegeleiern und Zwiebeln, vier Scheiben Bacon mit Toast und zwei noch ein bisschen matschige pannukakkus. Wenn der Teller vor ihm steht, macht Hanna Pause, setzt sich neben ihn und sieht ihm beim Essen zu. Sein Bart ist lang geworden. Ein Mann ohne Job braucht sich nicht zu rasieren, sagt er. Sie hasst es, Peter beim Essen zuzuschauen. Sie hasst es, dass er ihr hierher folgt. Sie hasst sein Gesicht.

Er glaubt, sie versuchen, ein Kind zu kriegen. Er trägt Boxershorts statt Slips, obwohl er das sichere Tragegefühl von Slips bevorzugt. Peter hat einmal in einer Zeitschrift gelesen, dass sich durch das Tragen von Boxershorts die Beweglichkeit der Spermien erhöhe. Er und Hanna haben nur Sex, wenn sie laut dem Eisprung-Kalender, den er bei Walmart gekauft hat, ihre fruchtbaren Tage hat. Er würde es vorziehen, jeden Tag Sex zu haben. Sie würde es vorziehen, nie wieder mit Peter Sex zu haben, nicht, weil sie frigide ist, sondern weil es ihr schwerfällt, von einem ununterbrochen arbeitslosen Mann erregt zu werden. Vor zwei Jahren sagte Hanna, sie würde mit Laura in den Süden fahren, um Urlaub zu machen, und fuhr stattdessen nach Marquette, um sich sterilisieren zu lassen. Sie würde nicht enden wie ihre Mutter, mit zu vielen Kindern in einem zu kleinen Haus, mit zu wenig Essen. Trotz all ihrer Anstrengungen lebt sie jetzt dennoch in einem zu kleinen Haus mit zu vielen Leuten und zu wenig Essen. Das ist die bittere Wahrheit.

Wenn sie um drei Uhr nachmittags das Café verlässt, geht sie nach Hause, wäscht sich Fett und Salz ab und zieht sich etwas Hübsches mit einem dennoch leicht nuttigen Touch an. Sie fährt zur Universität in der benachbarten Stadt. Sie ist siebenundzwanzig, sieht aber viel jünger aus, also tut sie, als wäre sie eine Studentin. Manchmal geht sie in eine Vorlesung in einem der großen Auditorien. Sie schreibt mit und spielt mit ihren Haaren und denkt an all die Dinge, die sie hätte machen können. An anderen Tagen sitzt sie in der Bibliothek und liest Bücher und lernt Dinge, damit sie, wenn ihr endlich die Flucht gelingt, mehr sein kann als eine Bedienung mit einem breiten Bett in einer toten Stadt in Upper Michigan.

Sie flirtet mit jungen Männern, weil es am Michigan Institute of Technology jede Menge junger Männer gibt, die nichts anderes wollen, als von einem hübschen Mädchen bemerkt zu werden. Sie gibt keinesfalls vor, ein Dummchen zu sein. Dazu ist sie zu alt. Manchmal nehmen die jungen Männer sie mit in die Mensa oder ins Campus-Café für einen Snack. Sie erzählt ihnen, sie studiere Maschinenbau, weil Laura an dieser Fakultät Sekretärin ist. Manchmal nehmen die jungen Männer sie mit in ihre unordentlichen Schlafräume, die voller schmutziger Wäsche und Spielkonsolen und anderen jungen Männern sind, oder in ihre verwahrlosten Apartments außerhalb des Campus. Sie bläst den Jungs einen und liegt bei ihnen auf ihren schmalen Doppelbetten mit dünnen Laken und erzählt ihnen die Lügen, die sie gern hören. Nachdem die jungen Männer eingeschlafen sind, fährt sie über die Brücke zurück ins Karpela’s, wo sie bis zwei Uhr nachts hinter dem Tresen steht.

Peter besucht sie auch im Club, aber dort muss er seine Drinks bezahlen, also kommt er nicht oft. Don Karpela, der Besitzer, ist ständig da und begrapscht alle Sachen mit seinen fleischigen Fingern. Er ist geizig und ein Freund ihres Vaters. Obwohl er schon fast sechzig ist, verfolgt er sie ständig, rempelt sie an, wenn sie in dem engen Raum hinter der Bar sind, und sagt ihr, er würde sie verdammt glücklich machen, wenn sie ihren Alten verlassen würde. Hanna schließt dann die Augen und atmet gleichmäßig, weil sie ihren Job braucht. Wenn Peter sieht, was Don mit ihr macht, lacht er und hebt sein Glas: »Du kannst sie haben«, lallt er, als hätte er in dieser Angelegenheit ein Mitspracherecht.

Wenn die Bar schließt, wischt Hanna alles ab und spült alle Gläser und leert die Aschenbecher. Sie und Laura, die ebenfalls in der Bar arbeitet, sitzen dann in der finsteren Seitenstraße auf der Kühlerhaube von Hannas Auto und halten sich an den Händen. Hanna lehnt sich an Lauras Schulter und atmet tief ein und fragt sich, wie es möglich ist, dass ihre Freundin nach Stunden in diesem dunklen, rauchigen Loch, in dem die Männer das Wort Nein nicht hören, immer noch so gut riecht. Wenn die Nacht unbelebt genug ist, küssen sie sich lange, bis ihre kalten Lippen warm werden, bis die Welt von ihnen abfällt, bis ihre Körper sich anfühlen, als würden sie im Herzen zerbersten. Sie sprechen nie über diese Momente, aber wenn Hanna ihre Flucht plant, geht sie nicht allein weg.

Ihre Zwillingsschwester Anna bleibt oft auf, bis Hanna wieder zu Hause ist. Sie macht sich Sorgen. So war es schon immer. Sie ist nervös. Sie war schon als Kind nervös. Bevor ihre Mutter sie verließ, sagte sie immer, dass Hanna das ganze sisu abgekriegt hätte, die wilde Kraft, die auf beide Mädchen hätte verteilt werden sollen. Hanna und Anna war immer klar, dass ihre Mutter rein gar nichts von ihnen wusste. Sie waren beide stark und wild. Annas Mann arbeitete in der Papierfabrik in Niagara, bis irgendeine ausländische Firma sie aufkaufte und schloss, und dann verloren die meisten Leute der Stadt ihre Häuser, weil die ganze Arbeit, die getan werden musste, schon getan war. Als Anna anrief, nervös wie eh und je, um zu fragen, ob sie mit ihrer Familie zu Hanna ziehen könne, hatte sie die Frage noch gar nicht gestellt, als Hanna schon ja sagte.

Hanna und Laura tragen ihre Gefühle nicht zur Schau, aber sie lieben einander heftig. In der Highschool ließ sich Anna mit einem Jungen ein, der sie nicht gut behandelte. Als Hanna das herausfand, tat sie ihm ziemlich weh. Hanna täuschte vor, sie sei ihre Schwester, und dann nahm sie den bösen Jungen mit zu den Bahngleisen hinter dem Jahrmarktsgelände. Sie ging auf die Knie und begann, ihm einen zu blasen, und sie sagte, wenn er ihre Schwester noch ein einziges Mal anrührte, aber bevor sie den Satz beendete, biss sie ihm in den Schwanz und nahm sich vor, nicht aufzuhören, bis ihre Zähne aufeinanderträfen. Sie lächelte, als sie sein Blut schmeckte. Er schrie so leise, dass sich die Härchen auf ihren Armen sträubten. Sie sieht diesen Typen immer noch ab und zu in der Stadt. Er ist kein Junge mehr, aber er hinkt und wechselt jedes Mal die Straßenseite, wenn er sie kommen sieht.

In den Nächten, wenn Hanna und Laura auf der Kühlerhaube sitzen und sich küssen, bis ihre kalten Lippen warm werden, steht Anna fröstelnd draußen auf der Veranda und wartet. Ihre Wangen sind rot. Ihr Herz flattert ängstlich in ihrer Brust. Anna fragt Hanna, ob sie sich mit einem anderen Mann trifft, und Hanna sagt ihrer Schwester die Wahrheit. Sie sagt nein, und Anna runzelt die Stirn. Sie weiß, dass Hanna die Wahrheit sagt. Sie weiß, dass Hanna lügt. Sie kann sich nur keinen Reim darauf machen, wie sie beides gleichzeitig hinkriegt. Die Schwestern rauchen eine Zigarette zusammen, und bevor sie hineingehen, legt Anna ihre Hand sanft auf Hannas Arm. Sie sagt: »Sei vorsichtig.« Hanna küsst ihre Zwillingsschwester auf die Stirn und denkt, Das werde ich, und Anna hört es.

Wie Hanna Ikonen klar wird, dass es Zeit ist, sich das Mädchen zu schnappen und die Stadt zu verlassen

Hannas und Annas Vater Red wohnt im Erdgeschoss. Er darf nicht in den ersten Stock, wo alle schlafen. Als Peter fragt, warum, schüttelt Hanna nur den Kopf und sagt: »Das ist Privatsache.« Sie bespricht private Dinge nicht mit ihrem Mann. Ihr Vater hat früher im Bergwerk gearbeitet. Als die letzte Kupfermine schloss, hat er sich nicht die Mühe gemacht, ein neues Handwerk zu erlernen. Er hielt sich immer öfter den Rücken beim Gehen und sagte, er sei verletzt. Er bekam Geld aus der Erwerbsunfähigkeitsversicherung, und als das aufgebraucht war, lebte er mit diversen Freundinnen zusammen, die ihn alle nach kurzer Zeit hinauswarfen. Am Ende, als es in der ganzen Stadt keine Frau mehr gab, die ihn haben wollte, tauchte er nach Whiskey stinkend und mit langem, struppigem Bart vor Hannas Tür auf. Lallend entschuldigte er sich dafür, ein miserabler Vater zu sein. Er flehte seine Tochter an, Mitleid zu haben mit einem alten Mann. Hanna blieb ungerührt, aber sie wusste, dass er ihr, so oder so, Probleme bereiten würde. Sie sagte ihm, er könne es sich im Erdgeschoss bequem machen, aber wenn er je in den ersten Stock käme, wäre die Sache gelaufen. Die Mine ist seit fünfzehn Jahren geschlossen, aber Red bezeichnet sich immer noch als Kumpel.

Wo Hannas und Annas Mutter Ilse abgeblieben ist, weiß niemand. Sie ging, als die Mädchen elf waren. Es war ein Donnerstagmorgen. Sie zog die Mädchen und ihre Brüder für die Schule an und machte ihnen Frühstück – Haferbrei mit Banane. Sie küsste sie auf ihre blassblonden Köpfe und sagte, sie sollten brav sein. Als sie von der Schule heimkamen, war sie weg. Eine Zeitlang ging das Gerücht, dass Ilse sich mit einem Schuhverkäufer aus Marquette eingelassen habe. Später hieß es, sie sei in Iron Mountain gelandet, als Frau eines Zahnarztes, mit einer neuen Familie. Dann hörte man nichts mehr.

Hanna und Anna haben fünf Brüder, über den ganzen Bundesstaat verstreut. Sie sind mehrheitlich verbittert, faul und abgestumpft, und sie sind nicht gewillt, bei der Unterbringung und Pflege ihres Vaters zu helfen. Als Hanna eine Telefonkonferenz mit ihren Geschwistern organisierte, um über ihren Vater zu sprechen, sagten die Jungs – wie sie zusammenfassend genannt werden –, das sei Frauenarbeit, und wenn die Zwillinge keine Lust auf diese Arbeit hätten, könnten sie den alten Mann gerne verrotten lassen. Einer der Brüder, Venn, bot Hanna oder Anna – wer immer es sei, die die Last auf sich nehme, für Red zu sorgen – zwanzig Dollar im Monat an. Die Zwillinge antworteten ihm wie aus einem Mund, er solle sich sein Geld in den Arsch stecken, und dann sagten sie den Jungs: »Fickt euch.« Nachdem sie aufgelegt hatten, rief Hanna Anna an und Anna bot an, sich um Red zu kümmern, bis er sich zu Tode gesoffen hätte, aber Hanna fragte sich besorgt, ob Tod durch Saufen nicht zu lange dauern würde. Anna hatte schließlich Kinder aufzuziehen.

Es ist ein ganz normaler Dienstag, an dem Hanna beschließt, nach der Arbeit im Café nach Hause zu fahren, statt über die Brücke zur Uni, um mit den Collegestudenten Spielchen zu spielen. Sie spürt, dass Fett aus ihren Poren trieft, und was sie sich mehr als alles andere wünscht, ist, in einem leeren Haus in eine saubere Badewanne zu steigen. Als sie in die Einfahrt biegt und Anna sieht, die vor der Garage auf und ab läuft, weiß sie, dass es heute kein Bad und kein leeres Haus geben wird. Sie stellt das Auto ab, holt tief Luft und geht zu ihrer Schwester, die Hanna mitteilt, dass ihre Mutter auf der Heilsarmeecouch im Wohnzimmer sitzt und Tee trinkt. Hanna denkt: Klar tut sie das.

Wie Hanna Peter Lahti kennenlernte und heiratete

Anna verliebte sich, als sie siebzehn war. Er hieß Logan, und er lebte in dem Reservat in Baraga. Sie liebte sein langes schwarzes Haar und seine glatte braune Haut und seine sanfte Stimme. Sie lernten sich bei einem Footballspiel kennen, und am Tag nach ihrer letzten Prüfung heirateten sie und zogen weg. Als Anna umzog, freute sich Hanna für ihre Schwester, aber sie hoffte, obwohl es keinen Grund dafür gab, dass ihre Schwester und ihr frisch angetrauter Ehemann sie mitnehmen würden. Sie hätte etwas sagen können. Jahre später merkte Hanna, dass sie etwas hätte sagen sollen, aber sie war diejenige, die zurückblieb. Sie hatte ein eigenes Apartment und ging zur Uni und besuchte die Seminare, die sie sich nicht leisten konnte. Peter wohnte in dem Apartment nebenan, und damals arbeitete er als Fernfahrer, der Holz in den Süden fuhr, also war es in Ordnung, ihn als Freund zu haben, denn er war nicht oft da.

Nach einer langen Fahrt, als Peter drei Wochen weg gewesen war, tauchte er vor ihrer Tür auf, mit zurückgekämmtem und gegeltem Haar und gestutztem Bart, in einem Button-down-Hemd und frisch gebügelten Jeans. In einer Hand hielt er einen billigen Nelkenstrauß. Er hatte vergessen, dass Hanna ihm bei ihrem ersten Date gesagt hatte, sie hasse Nelken. Er drückte ihr die Blumen in die Hand, betrat ohne Aufforderung ihr Apartment und sagte: »Ich habe dich so vermisst. Wir sollten heiraten.« Hanna, die gerade dabei gewesen war, eine Flasche Wein zu öffnen, zuckte die Achseln. Peter, ein geborener Optimist, verstand diese Geste als Zustimmung. Nur wenig später heirateten sie. Bei der Feier waren Anna und ihr Mann, Red und drei der Jungs zugegen. Von Peters Familie kam niemand. Seine Mutter war entsetzt, dass ihr Junge ein Kind von Red Ikonen heiratete.

Wie Red Ikonen zu seinem Ruf kam

Red Ikonen lag das Bergwerk im Blut. Sein Daddy und der Daddy seines Daddys waren schon Kumpel in Calumet gewesen, als die Arbeit im Bergwerk dort oben noch etwas darstellte und die Stadt Geld hatte und die Kirchen sonntags voll waren mit braven Leuten, erfüllt von Dankbarkeit für die Reichtümer, die die harte Erde ihnen schenkte. Als Kind hatte Red die Geschichten seines Vaters über die Welt unter der Welt geliebt. Als auch für Red die Zeit kam, einzufahren, gab es nicht mehr viele Bergwerke, und das war ein verdammt schweres Kreuz zu tragen. Er war wie ein Soldat ohne Krieg. Er fing an zu trinken, um seine Enttäuschung zu betäuben. Er heiratete eine hübsche junge Frau, bekam fünf wohlgeratene Jungen und zwei reizende Mädchen und trank weiter, um sein Glück zu feiern. Die hübsche junge Frau verließ ihn, und er trank, um sich nicht so einsam zu fühlen. Irgendwann war Trinken das Einzige, von dem er noch wusste, wie’s geht, also machte er genau das.

Er war ein stattlicher Mann – fast zwei Meter groß –, und er hatte eine laute Stimme und kein Gespür dafür, wie man sich anständig benimmt. Es war einfach nicht sein Ding. In der ganzen Stadt gab es keine Bar, in der Red keine Schlägerei angefangen oder etwas Ungehöriges mit seiner Frau oder mit der Frau eines anderen gemacht hätte. Es war so schlimm geworden, dass er nach South Range oder Chassell fahren musste, um mit den alten Kerlen vom Veteranenclub zu trinken, die echte Soldaten ohne Krieg waren, weil er in seiner Stadt nirgends mehr einen Drink bekam. Als die Jungs noch da waren, riefen die Leute aus der Bar an und sagten, einer von ihnen solle vorbeikommen und den Vater abholen. Als Red Ikonen irgendwann nur noch trank, um sich nicht so einsam zu fühlen, wurde er zu einem bösartigen Trinker. Nie hatte er ein gutes Wort für seine Söhne, die mitten in der Nacht meilenweit fuhren, um ihren betrunkenen Daddy nach Hause zu bringen.

Einer nach dem anderen verließen die Jungs ihr Zuhause und versuchten, so weit wie möglich von ihrem Vater wegzukommen, bis nur noch die Zwillinge übrig blieben, und dann fing er an, ungehörige Dinge mit ihnen zu machen, und es war eine kleine Stadt, in der die Leute redeten, und es dauerte nicht lange, bis überhaupt niemand mehr irgendetwas mit Red Ikonen zu tun haben wollte.

Wie Laura und Hanna beste Freundinnen wurden

Laura Kappi wuchs im Nachbarhaus auf. In der Highschool traf sie sich eine Zeitlang mit einem der Jungs, doch dann zog er weg, ging ans College und machte sich nicht die Mühe, sie mitzunehmen. Tatsächlich war Laura in der Highschool sowohl Hannas wie Annas Freundin. Als Anna und Logan nach Niagara zogen, sah Laura, wie verloren Hanna ohne ihre Zwillingsschwester war. Sie beschloss, sich alle Mühe zu geben, um Anna zu ersetzen. Hanna ließ sie überglücklich walten. Sie wurden beste Freundinnen, und dann wurden sie mehr als Freundinnen, aber sie sprachen nie darüber, weil es zu dem Thema nicht viel zu sagen gab.

Wie Hanna reagiert, als sie zum ersten Mal seit sechzehn Jahren ihre Mutter sieht

Bevor sie hineingehen, nimmt Anna Hannas ausgestreckte Hand in ihre. Sie drücken beide so fest zu, dass ihre Knöchel knacken, und dann gehen die Zwillinge hinein. Ilse Ikonen sitzt auf der Sofakante. Sie ist klein und hat scharf geschnittene Gesichtszüge. Sie ist immer schön gewesen, und weder Zeit noch Entfernung haben etwas daran geändert. Ihr Haar wird am Ansatz grau, ihre Züge haben etwas an Spannung verloren, aber sie sieht keinen Tag älter aus als vierzig. Red sitzt, wo er tagsüber immer sitzt, in dem Fernsehsessel neben der Couch, und starrt seine fremde Frau an. Er hat das Hemd in die Hose gesteckt, aber seine Hände zittern, weil er versucht, nicht zu trinken. Er will einen klaren Kopf behalten, aber seine Frau ist so verdammt schön, dass er mit oder ohne Alkohol nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Peter sitzt neben Ilse, auch er starrt, weil ihm die Ähnlichkeit zwischen seiner Frau und ihrer Mutter unheimlich vorkommt. Sie haben sich nie zuvor getroffen. Annas Mann Logan sitzt neben Peter, mit ihrem halb schlafenden Sohn auf dem Schoß. Er vermeidet bewusst jeden Blickkontakt mit seiner Schwiegermutter. Er hilft seiner Frau, die Last ihres Zorns zu tragen.

Sobald Hanna und Anna das Zimmer betreten, revoltieren ihre Mägen. Schweißperlen rinnen ihnen über die Stirn. Ilse beugt sich vor und setzt die Teetasse auf dem Couchtisch ab. Sie lächelt ihre Töchter an. Hanna denkt: Warum hast du ihr Tee gemacht? Anna denkt: Ich wollte nur höflich sein. Hanna beißt sich auf die Lippe. »Was machst du hier, Ilse?«, fragt sie.

Ilse Ikonen nimmt die übereinandergeschlagenen Beine auseinander und faltet die Hände auf ihrem Schoß. »Es ist lange her«, sagt sie.

Hanna blickt zu all den kaputten Menschen in ihrem Wohnzimmer, die auf ihren kaputten Möbelstücken sitzen und darauf bauen, dass sie ihr kaputtes Leben repariert. Sie dreht sich um und geht schnurstracks durch die Tür wieder hinaus. Anna entschuldigt sich und läuft ihrer Schwester nach. Sie findet Hanna neben der noch warmen Kühlerhaube ihres Autos, vornübergebeugt, sich übergebend. Annas Magen grummelt unbehaglich. Als Hanna aufsteht, wischt sie sich mit dem Handrücken über die Lippen und sagt: »Was soll das … ehrlich?«

Wie Laura Hanna schließlich davon überzeugt, mit ihr wegzulaufen

Hanna sitzt in ihrem Auto, bis Ilse Ikonen sich verabschiedet und in dem Motel etwas weiter die Straße entlang ein Zimmer nimmt. Als ihre Mutter nicht mehr da ist, fährt Hanna zum Campus und betritt das feuchtkalte Zimmer eines ihrer Collegefreunde. Sie liegt auf seinem muffigen schmalen Doppelbett und starrt auf die phosphoreszierende Sternenkonstellation an der Decke, während der Junge mit seinen knochigen Händen ungeschickt an ihren Brüsten herumfummelt. Sie seufzt, schließt die Augen, denkt an Laura. Danach, als der Junge fest schläft, die Hand zu einer lockeren Faust geballt, nah am Mund, schlüpft sie aus dem Bett und fährt zurück über die Brücke zum Haus von Laura.

Laura lächelt, als sie die Vordertür öffnet. Hanna zieht die Achseln hoch und steht mit gefühllosen Wangen im Eingang. Ihr ist immer noch übel. Sie schiebt ihre kleinen Hände in die Taschen, versucht, die Kälte zu ignorieren. Laura schlingt die Arme um sich, wechselt rasch von einem Fuß auf den anderen. »Warum kommst du nicht rein?«

Hanna schüttelt den Kopf. »Ich halte das nicht mehr aus.«

Laura hebt eine Augenbraue, und obwohl sie barfuß ist, tritt sie auf ihre schneebedeckte Veranda. Sie holt Luft, tritt auf Hannas Stiefel, schiebt ihre Arme unter Hannas Jacke und legt sie ihr um die Taille. Sie streift Hannahs Mund mit den Lippen. Hanna schließt die Augen. Sie atmet tief.

Wie Hanna sich noch mehr in Laura verliebt, als sie je für möglich hielt

Als Laura ihre Zehen nicht mehr spürt, sagt sie: »Wir gehen besser rein, bevor meine Füße erfrieren und ich den Rest meines Lebens hinter dir herhoppeln muss.«

Hanna nickt und folgt Laura in ihr Haus. Es ist ihr vertraut, es sieht seit zwanzig Jahren fast genau gleich aus, und darin liegt Trost. Im Flur sinkt Hanna zwischen Jacken und Stiefeln, einer Schneeschaufel, einem gestrickten Schal, einem Sack voll Salz auf den Boden und sitzt mit gekreuzten Beinen da. Laura sitzt ihr gegenüber, streckt die Beine aus, legt Hanna ihre kalten Füße in den Schoß.

»Willst du es mir erzählen?«

Hanna schüttelt wütend den Kopf. »Meine Mutter ist wieder da.«

»Was soll das … echt jetzt?«, fragt Laura.

Hanna geht nicht nach Hause. Sie ruft Anna an und versichert ihrer Schwester, dass es ihr gut geht. Anna fragt nicht, wo sie ist. Allmählich dämmert ihr, was los ist. Hanna lässt Laura die steile Treppe vorgehen, die Wände sind voller Bücher. Sie lässt sich von Laura ein heißes Bad einlaufen. Sie lässt sich von Laura waschen. Sie folgt Laura ins Bett, und zum ersten Mal seit Monaten schläft sie in einem fast leeren Haus ein. Sie denkt: Das ist alles, was ich will.

Während Hanna schläft, überschlägt Laura, wie viel Geld sie gespart hat, das Profil ihrer Reifen, wie weit sie fahren müssen, damit Hanna die Chance hat, das Leben, das sie hinter sich lässt, zu vergessen. Das alles macht Laura sehr müde, aber dann beobachtet sie Hannas Unterlippe, wie sie im Schlaf zittert.

Wie es immer war

Am nächsten Morgen hört Laura das Klopfen an ihrer Vordertür. Sie hüllt sich in einen dünnen Bademantel und wirft einen letzten Blick auf Hanna, die immer noch schläft, mit immer noch zitternder Unterlippe. Laura hat Hanna immer geliebt, schon lange bevor sie begriff, warum ihr ganzer Körper zu glühen begann, sobald sie Hanna sah, in der Schule oder wenn sie im Hof ihres Hauses herumrannte oder auf dem Dach neben ihrem Schlafzimmerfenster saß. Sich mit einem der Jungs zu treffen war ein Weg, Hanna näherzukommen. Laura küsste Hannas Bruder und dachte an seine Schwester, ihr Lächeln und wie sie mit hochgezogenen Schultern herumlief. Laura wollte nicht mit dem Bruder zusammen sein, aber sie redete sich ein, dass es ihr genüge. Zum ersten Mal spürt Laura etwas Ungewohntes in der Kehle. Ihr wird ein bisschen übel. Sie denkt, es könnte Hoffnung sein. Unten steht Anna bibbernd auf der Veranda. Sie hat rasende Kopfschmerzen. Als Laura die Tür öffnet, schlüpft Anna rasch ins Haus. Sie drückt Lauras Hand und geht die Treppe hoch in Lauras Schlafzimmer. Sie legt sich neben ihrer Schwester ins Bett und umschlingt ihre Taille mit beiden Armen. Hanna legt eine Hand auf Annas Hände. Sie ist noch nicht ganz wach.

»Sag nicht, ich soll zurückkommen«, krächzt sie mit heiserer Stimme.

Anna drückt ihre Arme fester um ihre Schwester, küsst ihre Schultern. Sie sagt: »Du musst zurückkommen, um dich zu verabschieden.« In ihrer Stimme liegt eine Zuversicht, die Hanna beruhigt.

Hanna seufzt und öffnet langsam die Augen. Sie sieht Laura in der Tür stehen. Sie lächelt. »Du brauchst nicht so weit weg zu sein«, sagt sie. Laura grinst und legt sich zu den Zwillingen ins Bett. Sie sagt: »Wisst ihr noch, als wir klein waren und im Sommer zu dritt auf eurem Dach herumlungerten, bis es kühler wurde?« Hanna und Anna nicken. Die drei Frauen legen sich auf den Rücken und sehen zur Decke hinauf, sehen die Risse und Wasserflecken und wie sie durchhängt. »Schon damals waren wir unglücklich«, sagt Laura.

Wie Hanna ihrer Mutter endlich die Stirn bietet

Wo Hanna als Beschützerin auftrat, war Anna die Stimme der Vernunft, in der Lage, zwischen zwei unmöglichen Alternativen die richtige Wahl zu treffen. Als sie klein waren und Hanna Rachepläne schmiedete gegen alle, die den Zwillingen wehgetan hatten, hielt Anna ihre Schwester davon ab, unüberlegt zu handeln. Als Red Ikonen betrunken in ihr Zimmer stolperte und Hanna versuchte, ihn mit einem Küchenmesser zu erstechen oder sein Ohr abzubeißen, packte Anna sie am Arm und sagte: »Entweder er oder das Heim.« Anna sang ihrem Vater Lieder vor und streichelte seinen Bart und bügelte seine ganze Bösartigkeit aus. In diesen Momenten empfand Hanna eine solche Wut, dass sie glaubte, ihr Herz würde zerbersten, aber dann ließ sie das Messer auf den Boden fallen und lockerte den Kiefer, so dass ihre Zähne nicht mehr aufeinanderbissen, weil alles besser war als das Heim, eine staatliche Anstalt, in der mutterlose Kinder bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag verwahrt wurden. Sie hatten Geschichten gehört, die sie glauben ließen, dass es schlimmere Dinge gab als Red Ikonens stinkenden Atem an ihrer Wange, wenn er vergaß, sich wie ein anständiger Vater zu benehmen.

Anna hielt Hannas Hand, als sie zu ihrem Haus zurückgingen, angetrieben von einem kräftigen Wind, der ihre Körper durch den Schnee schob. Hanna versuchte zu atmen, aber die Luft war dünn und kalt und tat in der Lunge weh. Als sie die Verandastufen hinaufgingen, blieb sie stehen und lehnte sich schwer gegen das Geländer.

»Mir geht’s nicht so gut«, sagte sie.

Anna legte ihre kühle Handfläche an Hannas Stirn. »Du kannst bald weggehen«, sagte sie. »Halt dich daran fest.«

Hanna sah ihre Schwester unverwandt an. Sie sagte: »Komm mit uns mit – du und Logan und das Baby.«

Anna schüttelte den Kopf. »Jetzt bin ich an der Reihe, hierzubleiben.«

»Schwachsinn. Wir haben uns lange genug abgewechselt.«

Die Vordertür ging auf. Peter stierte die Zwillinge wütend an. »Verdammt noch mal, wo wart ihr heute Nacht?« Er packte Hanna am Ellbogen und zog sie ins Haus, und sie wehrte sich nicht. Sie wollte den Rest Kampfgeist, den sie in sich spürte, aufsparen.

Der Anblick im Wohnzimmer ähnelte stark der Szene von gestern, in die Hanna hineingeraten war. Ilse Ikonen saß auf der Couch, in königlicher Haltung, als wäre sie nie weg gewesen und als hätte sie es nicht nötig, Reue an den Tag zu legen.

Hanna versuchte, sich aus Peters Griff zu befreien, und er ließ sie schließlich los, als Anna ganz ruhig sagte: »Lass meine Schwester los.« Peter hegte ein instinktives Misstrauen gegen die Zwillinge. Es war nicht normal, dachte er, dass zwei Leute sich so ähnlich sahen. Außerdem war er ziemlich eifersüchtig auf die innere Verbundenheit von Zwillingen. Er war kein besonders intelligenter Mann, aber klug genug, um zu wissen, dass er seiner Frau nie so nah sein würde, wie er es sich wünschte.

Die Zwillinge standen vor ihrem Vater, ihrer Mutter, ihren Männern. Sie standen in dem Haus, in dem sie aufgewachsen waren, das voll war mit kaputten Menschen und kaputten Dingen. Anna dachte: Wir stehen jetzt zum letzten Mal in diesem Zimmer, und Hanna kam es plötzlich so vor, als könnte sie wieder atmen. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie hatte keine Stimme. Ihre Kehle war trocken und hohl. Die Zwillinge sahen ihre Eltern an und dachten an alles, was sie diesen zwei Menschen, die so unfähig waren, sich ihren Kindern gegenüber anständig zu verhalten, je hatten sagen wollen.

»Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte Ilse knapp, mit angespannter Stimme. Sie schlug die Beine übereinander und spielte mit einem großen Diamantring an ihrer linken Hand. »Ich wollte wissen, wie es euch und den Jungs geht, ich wollte was erklären.«

Anna schüttelte den Kopf. »Wir brauchen keine Erklärungen«, sagte sie. »Dein Abgang ist lange her.«

Hanna nahm ihren Ehering ab und warf ihn auf den Couchtisch. Peter grinste und sagte: »Meinetwegen«, und Hanna verdrehte die Augen.

Die Zwillinge standen vor ihrem Vater, ihrer Mutter, ihren Männern. Sie holten tief Luft, reckten die Schultern zurück. Sie hatten diesen Moment mehr als einmal geübt, aber dann wurde ihnen klar, dass es nach dieser langen Zeit und diesen ganzen schlimmen Taten nichts Nennenswertes mehr zu sagen gab.

Wie Hanna, Laura, Anna, Logan und das Baby entkamen

Sie quetschten sich in Lauras Pick-up, ihre Sachen hatten sie in einen kleinen Wohnwagen gepackt, den sie hinten ans Auto anhängten. Sie saßen vollkommen still, hielten den Atem an, blickten stur nach vorne.