Ganz und gar zerbrechen

Die Mutter des jüngsten Kindes von meinem Freund rief mitten in der Nacht an. Mein Freund schlief, und die Wärme seines Körpers hüllte uns ein. Ich blickte zu den dunklen Schatten des Deckenventilators hoch, der sich träge über uns drehte. Mein Freund macht Geräusche beim Schlafen, obwohl es viele Gründe gibt, dass er das nicht tun sollte.

»Ich stehe vor der Haustür«, sagte sie. Ihre Stimme klang angespannt und schwach.

Ich versuchte, meinen Freund wachzurütteln, aber er drehte sich nur um und streckte sein Bein über meinen Teil des Bettes. Er schnarchte leicht. Ich seufzte.

Anna Lisa, die Mutter des jüngsten Kindes von meinem Freund, gab mir ihre Tochter, die in einer Babytrage lag, und dazu eine große Reisetasche. Sie reckte das Kinn Richtung Tasche. »Die Babysachen.« Ich sah das Baby an, es war weder hübsch noch hässlich, ein Klümpchen mit ungewissen Gesichtszügen. Wir standen still da und lauschten den Motten und anderen Insekten, die in die helle, summende Lampe flogen, die uns in ihr Licht tauchte. Meine Schultern taten weh. Die Luft war feucht und schwer. Anna Lisa ist wunderschön, aber sie sah müde aus. Sie trug eine schlabbrige Jogginghose mit verblassenden aufgedruckten Großbuchstaben seitlich am linken Bein. Ihr T-Shirt war schmutzig. Ihre Brüste waren geschwollen. Das konnte ich erkennen. Das Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Ein unangenehmer Geruch ging von ihr aus. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe. Ich weiß nicht, ob wir uns unähnlich waren.

Ich bat sie herein und bot ihr ein Bad an. Ich wollte ihr helfen, sich auszuziehen, ihr das T-Shirt über den Kopf ziehen. Ich wollte ihr ein heißes Bad einlassen, sie waschen und ihr den Rücken und die Oberschenkel und den Bauch mit der immer noch gedehnten Haut schrubben, sie gründlich säubern.

»Ich kann mich nicht mehr um mein Kind kümmern.«

Ich sah das Baby noch einmal an. Es erwiderte meinen Blick, gähnte und blinzelte müde. »Du willst das Baby bei ihm lassen?«

Anna Lisa schüttelte den Kopf. »Ich lasse mein Baby bei dir.«

Mein Mann hasst meinen neuen Freund. Ich auch. Er gehört zu den Männern, die jeder hasst. Meinen Mann liebe ich. Er mag weiches Rührei mit frisch gemahlenem Pfeffer und Meersalz. Ich wachte jeden Morgen in aller Frühe auf, um ihm Frühstück zu machen, ich genoss die Regelmäßigkeit, genoss das damit verbundene Gefühl, gebraucht zu werden. Mein Mann ruft mich jeden Tag an und sagt: »Warum bestrafst du dich?« Er sagt: »Komm nach Hause.«

Mein Freund ist eigentlich nicht mein Freund; wir leben eigentlich nicht zusammen. Es gibt zwischen uns eine stille Übereinkunft, dass ich meistens da bin. Meine Sachen sind immer noch in meinem eigenen Haus – vier Schlafzimmer, drei Bäder – bei meinem Mann. Ich besuche meine Sachen und meinen Mann oft. Ich fahre mit den Fingern über die moderne Skulptur am Eingang, das Kinngrübchen meines Mannes, die dicken Muskelstränge seiner Schultern, die Kaminverkleidung aus Mahagoni. Ich gehöre zu diesen Sachen, sie gehören mir, also bleibe ich nicht lange.

Eine Mücke stach mich in die Backe, und ich zuckte zusammen. Ich drückte die Hand auf den Bauch, versuchte, den dünnen Wulst der Narbe zu ignorieren, die gegen meine Handfläche pulsierte. Das Baby quengelte, deshalb stellte ich die Reisetasche in den Flur und nahm sie aus der Trage, hielt sie an meiner Schulter. Sie roch süß und nach Puder und beruhigte sich, als ich ihr mit sanften, rhythmischen Bewegungen den Rücken tätschelte. Ich sagte: So ist gut, so ist gut, meine Süße. Anna Lisa legte ihre Hand auf meine, als ich ihr Kind tröstete. Anna Lisas Hand war schweißnass.

Sie sah das Baby nicht an, als sie ging.

Ich ließ mich mit dem Baby im Wohnzimmer nieder, setzte sie auf eine saubere Decke. Als ich es leid war, sie zu beobachten, streckte ich mich aus und legte meine Hand auf ihren Bauch. Ich schlief ein, während sie mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

Morgens stieß mein Freund meinen Fuß mit seinem schweren Arbeitsstiefel an. »Was zum Teufel ist das?« Ich setzte mich rasch auf und legte den Finger an die Lippen. Dann stand ich auf und zog ihn ins Schlafzimmer. »Anna Lisa hat sie gestern Nacht hergebracht. Sie kann sich nicht mehr um sie kümmern.«

Mein Freund schüttelte den Kopf, nahm sein Telefon und rief gleich seine Ex an. »Was für ein Schwachsinn«, murmelte er. Als Anna Lisa nicht dranging, warf er das Telefon an die Wand. »Was zum Teufel soll ich mit einem Baby anfangen?«

»Dafür sorgen, dass es am Leben bleibt.«

Er schüttelte den Kopf und ging an mir vorbei. »Ich muss zur Arbeit. Du erledigst das.«

Ich habe viele Babybücher gelesen. Nachdem mein Freund gegangen war, füllte ich das Waschbecken in der Küche mit warmem Wasser, seifte die Kleine ein und wusch sie, dann wechselte ich die Windeln und zog ihr die niedlichsten Sachen an. Ich machte eine Fläschchen warm und gab ihr zu trinken, und dann schlief sie wieder ein. Ich machte rasch eine Bestandsaufnahme – ein Stapel ordentlich zusammengefalteter Bodys, sieben weitere Strampelanzüge, ein Plüschtier, drei Fläschchen und eine Tüte voller Schnuller, zwei Dosen Milchpulver, eine halbvolle Packung Feuchttücher, sechs Windeln und ein Notizbuch mit detaillierten Anweisungen über die Persönlichkeit des kleinen Mädchens, was sie mochte und nicht mochte, Tagesablauf, was die verschiedenen Laute bedeuteten, die sie hervorbrachte, all das, was nur eine liebevolle Mutter aufzulisten imstande ist. Wir mussten einkaufen gehen, aber zuerst musste ich diese Entwicklung der Dinge meinem Mann mitteilen. Ein, zwei Mal pro Woche macht er Homeoffice. Ich traf ihn in seinem Arbeitszimmer an, mit nacktem Oberkörper und in einer Pyjamahose aus Flanell. Er lächelte, als er mich sah, und ich wollte in ihn hineinkriechen.

Als er sah, dass ich ein Baby auf dem Arm trug, runzelte er die Stirn. »Warum hast du ein Baby auf dem Arm?«

»Eine Frau hat es mir gegeben.«

Mein Mann glotzte in die Trage. »Das ist nicht lustig.«

»Das ist auch kein Witz.«

Eine Menge Leute sagten, nach dem Unfall sei ich verrückt geworden. Sie warteten nur darauf, dass ich mich mitten im Einkaufszentrum nackt auszog oder eine Katze fraß oder so was in der Art. Als ich mich mit einem Arschloch einließ, seufzten sie erleichtert. »Das lässt sich immer noch alles richten«, sagte meine Mutter, als ich noch ans Telefon ging, wenn sie anrief.

Ich bin nicht verrückt.

Mein Mann, Ben, hockte sich hin und gab dem Baby einen Nasenstüber. Sie lächelte, und er gab ihr einen zweiten Nasenstüber. Ben sah auf. »Du hast dieses Kind doch nicht etwa gestohlen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist seins. Seine Ex hat es letzte Nacht vorbeigebracht. Sie sagte, sie will das Kind bei mir lassen.«

Ben setzte sich hin und zog sie aus der Trage. Er fing an, ihre Händchen zusammenzupatschen und ein albernes Lied dazu zu singen. Ich spürte, dass die Narbe über meinem Bauch ganz straff wurde. Ich rannte ins Bad und erreichte gerade noch rechtzeitig die Toilette, dann hob sich mein Magen, bis es mir im Rücken wehtat.

Ben tauchte in der Tür auf. »Bist du okay?«

Ich sah auf mein Frühstück, das träge in der Toilette schwamm.

Als mein Freund an diesem Abend von der Arbeit kam, war er betrunken. Ich hörte ihn an der Tür, als er herauszufinden versuchte, wie der Schlüssel ins Schloss passte und was er als Nächstes tun sollte. Ich half ihm nicht. Das Baby schlief bereits in einem kleinen Korb, den ich ihm in einem Babyladen für Leute mit zu viel Geld und wenig Verstand gekauft hatte. Die Verkäuferin, die mich aus anderen Zeiten kannte, sah auf das Kind hinunter und sagte: »Er ist so groß geworden«, weil alle Babys gleich aussehen und alle Frauen mit Babys gleich aussehen. Ich biss mir ein Loch in die Zunge und nickte.

Ich saß auf der Couch mit dem Baby im Korb, und wir sahen uns eine Reality-Show über berühmte Leute an, die so taten, als wären sie süchtig.

Mein Freund schaffte es schließlich, in die Wohnung reinzukommen. »Frau, wo bist du, verflucht noch mal«, sagte er, als ihm klar wurde, dass ich nicht allein war. »Dieses Kind ist immer noch hier?«

Er zog mich von der Couch hoch ins Schlafzimmer. Ich entspannte mich, verwandelte mich in Fleisch, das ihm gehörte. Er warf mich aufs Bett und fingerte an seinem Gürtel. »Warum bist du immer so verdammt still? Ich kriege richtig Schiss vor dir.«

Ich sagte nichts. Er brauchte meine Stimme nicht. Er legte sich aufs Bett, zog mir die Jeans herunter, spreizte meine Beine. Er legte sich auf mich, und er war so schwer, dass ich tief in die Matratze sank. Er drückte seine nach Alkohol stinkenden Lippen an meinen Hals, presste meine Brüste, so dass sie sich verformten. Es tat weh. Ich stöhnte. »Sag was«, sagte er. Ich schloss die Augen und hoffte, dass das Baby seinen Vater nicht hörte. Er schlug mich, und meine Augen tränten; die Knochen hinter meiner Stirn fühlten sich an, als würden sie zersplittern. Ich drehte ein wenig den Kopf, bot ihm mein Gesicht an.

»Ich mein’s ernst, sag was, oder ich vergesse mich.«

Ich öffnete die Augen. »Weck die Kleine nicht auf. Sie hatte einen langen Tag.«

Er griff nach meiner Kehle und drückte zu, drückte seine Finger tief in die Haut. Ich hielt seinem Blick stand. Ich wartete auf seine Bestrafung, und als sie kam, war da ausnahmslos Erleichterung.

Am nächsten Tag rief mich mein Mann an. »Falls du Lust haben solltest, mit dem Kind vorbeizukommen, hätte ich nichts dagegen.«

Ich suchte nach einem langärmligen, hochgeschlossenen T-Shirt, aber ich fand keins, deshalb bedeckte ich mich mit einer Kapuzenjacke und zu starker Schminke. Während der Fahrt sprach ich im Rückspiegel mit dem Baby. Ben wartete auf der Veranda, und als wir vorfuhren, kam er zum Auto, hob sie vorsichtig aus ihrem Kindersitz und machte mir die Tür auf.

»Wie in alten Zeiten«, sagte er mit sanfter Stimme.

Ich biss die Zähne zusammen, als ich auf der Couch saß, eines der ersten hübschen Dinge, die wir uns gekauft hatten.

Ben stellte die Kleine in den Laufstall, der seit Monaten unbenutzt in der Ecke unseres Arbeitszimmers stand. Sie fing an, mit den Spielsachen zu spielen – Plastiksachen, die Geräusche machten. Er saß neben mir, zog mir die Kapuze vom Kopf, schlug mit der Faust auf den Couchtisch. Eines der Bücher fiel auf den Boden. »Ich bringe ihn um.«

Ich lehnte mich an seine Schulter, die so warm war, und dann legte ich den Kopf in seinen Schoß. »Ich bin echt müde.«

Er schnaubte, rieb sanft meinen Arm. »Hier kannst du dich ausruhen«, sagte er, also tat ich genau das, und er passte auf mich auf.

Ein paar Tage später hatte das kleine Mädchen Fieber. Sie weinte ständig, und ihr Gesicht war rot und voll von ihrer winzigen hitzigen Wut. Ich zog sie bis auf die Windel aus und stand mit ihr am offenen Kühlschrank, und die Klimaanlage blies uns eisige Luft entgegen. Sie hörte nicht auf zu weinen. Ich kam zu dem Schluss, dass sie ihre Mutter vermisste. Mein Freund kam aus dem Schlafzimmer, und seine Boxershorts hingen komisch an seinen schmalen Hüften. Ich hielt das Baby eng an mich gedrückt und säuselte ihr ins Ohr.

Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und nickte uns zu, als er die Flasche öffnete. »Was ist los mit ihr?«

»Sie hat Fieber.«

Er nahm einen langen Schluck Bier und wischte sich die Lippen ab. »Braucht sie einen Arzt oder so was?«

»Ich weiß noch nicht.« Ich hüpfte ein bisschen herum, und sie beruhigte sich etwas. »Wir müssen abwarten.«

Mein Freund schwang sich auf die Küchentheke und saß mit baumelnden Beinen da. »Woher weißt du so viel über Babys?«

Ich massierte ihr behutsam den Rücken. »Solche Fragen stellen wir uns nicht.«

Er spuckte ins Waschbecken und trank noch einen Schluck. »Wie du willst.« Als ihm langweilig wurde, ging er zurück ins Schlafzimmer. Das Baby hörte auf zu weinen. Ihr Körper zitterte alle paar Minuten, während sie aufstieß. Ich saß mit ihr auf dem Balkon, weil es draußen kühl war und weil die Luft sauber war. Ich rief Anna Lisa an.

Es klingelte sieben Mal, dann nahm sie ab. »Ist alles okay?«

Ich nickte, auch wenn sie mich nicht sehen konnte. »Ich dachte, du würdest vielleicht wissen wollen, wie es ihr geht.«

Sie schwieg einen Moment und hustete. »Klar.«

Das Baby hielt sich an meinem T-Shirt fest, die winzigen Finger umklammerten den Stoff. Ich erzählte ihrer Mutter von dem Fieber und wie Ben und ich mit ihr gespielt und einen langen Spaziergang gemacht hatten. Ich erzählte Anna Lisa, wie sie das Bad im Waschbecken genossen hatte. Ich erzählte ihr von den neuen Klamotten.

»Vermisst sie mich?«

»Absolut.«

»Warum, verdammt, bist du mit ihm zusammen?«

»Ich ruf dich nächste Woche an.«

Ich legte auf und starrte in den Nachthimmel, der dunkel und schwer und still war.

Am Morgen war das Baby immer noch unruhig, es wand sich ständig auf meinem Arm und schwitzte. Sie schlief kaum. Ich schlief kaum. Mein Freund wurde sauer, weil sie ständig dieses Geräusch machte, ein hohes Wimmern, sie hörte einfach nicht damit auf, und es ging ihm auf die Nerven. Ich lag neben ihm und wartete darauf, dass er ausrastete. So war er. Und er tat es. Mein Körper erschlaffte, und ich hoffte, er würde mich schlagen, bis meine Knochen endlich weich wurden.

Als er fertig war, sagte er: »Etwas stimmt nicht mit dir.«

Später rief Ben an, während die Kleine inbrünstig vor sich hin jammerte wie ein altes Klageweib. Ich bewunderte sie dafür. »Ich will dein Gesicht sehen«, sagte er.

Ich lächelte. »Ich will dein Gesicht auch sehen.«

»Dieses Kind hat eine verdammt große Klappe.«

Ich schaukelte das Baby auf meiner Hüfte. »Ja, das stimmt.«

Im Schlafzimmer lag mein Freund, nur mit einer Jeans bekleidet, auf dem Bauch quer über dem Bett. Ich fragte, ob er vorhabe, zur Arbeit zu gehen, und er grunzte etwas Unverständliches. Bei Ben angekommen musste ich mich dazu zwingen, an das Haus als sein Haus zu denken. Er wartete wieder in der Einfahrt auf uns, nahm das Baby und trottete langsam mit ihm zum Haus. Ich lehnte mich zurück, während ich ihn beobachtete. Auf der Veranda blieb er stehen und winkte. Ich nickte und schloss die Augen.

Vor sieben Monaten waren wir auf dem Parkplatz vor einem Lebensmittelgeschäft – einer dieser Läden, in dem alles organisch und handgepflückt und überteuert ist. Zum ersten Mal in unserer Ehe konnten wir es uns leisten, einzukaufen, wo immer wir wollten. Zu der Zeit kauften wir massenweise Oliven, weil es in diesem schicken Laden eine Olivenbar gab. Die Absurdität war unwiderstehlich. Wir machten massenweise Tapenade. Wir waren erwachsen. Wir hatten einen Jungen, der den Namen seines Vaters trug. Er war vierzehn Monate alt und immer noch dabei, sich daran zu gewöhnen, dass seine Beine ihn trugen, wenn seine pummeligen Schenkel sich bei jedem seiner ungelenken Schritte umeinanderwälzten. Beim Laufen hielt er die Hände immer nach vorn ausgestreckt. Wir nannten ihn BZ oder Babyzombie, und manchmal, etliche Male, bearbeiteten wir sein Haar mit Gel, so dass es vom Kopf abstand. Wir machten hunderttausend Fotos, völlig übertrieben, wie es Eltern von Einzelkindern eben machen, nahmen auf, wie er seine Finger krümmte, wenn er bei uns war, und wie seine Nase sich in Fältchen legte, bevor er lachte, und seine Wimpern, die so lang und vollkommen waren, jede einzelne eine vollkommene Verlängerung seiner Schönheit. Unsere Eltern sagten, der Spitzname Zombie sei geschmacklos. Es war lustig.

Ben und ich flirteten herum, während wir unsere Einkäufe im Kofferraum verstauten. Da waren eine Flasche Wein, irgendein organischer Merlot Soundso, und die Verheißung, was wir tun würden, nachdem wir diesen Wein getrunken hätten. Ich sagte, wir bräuchten nicht zu warten, und er sagte etwas wie, wir sollten dem Baby auf der Rückfahrt die Augen verbinden, und wir lachten und beugten uns über dem Einkaufswagen zueinander und küssten uns, feucht und salopp. Ben junior fing an, den Griff des Einkaufswagens abzuknutschen, und rief: Da da da da da. Er wollte raus, also hob ich ihn hoch und spürte genussvoll das Gewicht seines Körpers zwischen Daumen und Zeigefingern. Ich küsste ihn auf beide Wangen und die Stirn, und sein Vater rieb seinen Rücken, und dann stellte ich unseren Jungen auf den Boden. Ich nahm seine Hand und legte sie an meine Jeans und sagte ihm, er solle sich daran festhalten, sonst müsse er im Einkaufswagen bleiben. Er nickte und grinste, und seine Grübchen waren tief und süß, als er mein Bein umfasste. Ich sah zu ihm und zu dem Mann, der mir geholfen hatte, ihn zu erschaffen, während wir uns mitten in einem perfekten Leben befanden. Das Feuer dieser Freude hätte uns alle verbrennen können.

Ein junger Typ mit so einem beschissenen kleinen Hund kam vorbei. Ben junior liebte Hunde, er nannte sie Dudi. Wir hatten keine Ahnung, woher das kam, aber es war sein Wort, und so wurde es zu unserem Wort. Dudi Dudi Dudi. Er rief: »Dudi« und ließ mich los, und als er mich losließ, als ich seinen Griff nicht mehr spürte, war ich ganz kalt und leer. Nichts hielt mich am Boden. Ben junior fing an zu rennen, und Ben und ich hechteten hinter ihm her, aber seine kleinen, pummeligen Beine bewegten sich echt schnell, wenn sie wollten, und wir waren immer noch glücklich, deshalb verstanden wir noch nicht recht, dass die Sache wirklich dringend war. Unser Sohn rannte dem Dudi hinterher, mit nach vorn gestreckten Armen, als hätte er vor, diesen Hund in einen Untoten zu verwandeln. Eine vierundachtzigjährige Frau, Helen McGuigan, raste über den Parkplatz. Hinter der Kühlerhaube ihres Autos aus dem Jahr 1974, einem richtigen Panzer, konnte sie meinen kleinen Jungen nicht sehen. Ben und ich schrien. Ben junior hielt an und drehte sich zu uns um, und der Klang unserer Stimmen erschreckte ihn so sehr, dass er weinte. Das Letzte, was mein Kind tat, war weinen, weil er Angst hatte. Er streckte die Arme in die Höhe, wie er es immer tat, wenn er wollte, dass man ihn hochhob. Die Haut zwischen meinen Daumen und Zeigefingern pulsierte heftig. Als das Auto ihn überfuhr, sah ich nicht weg. Ich sah, was mit dem Körper meines Jungen passierte. Ich sah alles, alles von ihm, überall.

Ich gestatte mir nicht mehr, mich in der Nähe von Hunden aufzuhalten. Ich könnte sie alle umbringen, jedes einzelne dieser dreckigen Tiere mit ihren wedelnden Schwänzen und langen, heraushängenden Zungen. Ich ertrage ihren Gestank nicht.

Ben und ich gingen nicht zur Beerdigung. Nach der Trauerfeier, nachdem wir die unwirkliche Kleinheit dieses Sarges gesehen hatten, war uns nichts geblieben. Unsere Familien verstanden das nicht. Während der Beerdigung saßen wir in Bens Kinderzimmer auf dem Boden und warteten darauf, dass er nach Hause kommt. Dort sitzen wir noch immer.

Ben rief meinen Namen. Er stand auf der Veranda, ein gut aussehender Mann mit unordentlichen Locken, das Baby vor die Brust geschnallt. Ich schluckte, als ich aus dem Auto stieg. In der Ecke des Vorgartens sah ich eine rote Plastikfledermaus. Säure verbrannte meine Kehle, und bevor ich es verhindern konnte, übergab ich mich an der Hecke. Früher hatten wir sie gemeinsam gestutzt. An Samstagen wachten wir auf und sagten: »Heute machen wir was im Garten.« Wir hatten gekichert, weil wir an unsere Väter denken mussten, wie sie in Sandalen und kniehohen Socken Gartenarbeit machen und den Rasen harken und rechen. Ben kam schnell zu mir und massierte meinen Rücken. Er sagte sanfte, beruhigende Dinge. Er führte mich ins Haus und gab mir Wasser. Ich trank, aber meine Lippen blieben wie ausgedörrt.

Als ich mich über das Spülbecken beugte, rutschte mein T-Shirt hoch. Mein Kopf hämmerte, deshalb vergaß ich, es herunterzuziehen.

Mein Mann rollte es weiter hoch, sog zischend Luft ein. Mir wurde schwer ums Herz. Ich hatte nicht die Kraft, so zu tun, als könnte er nicht sehen, was dort war. »Verdammt noch mal, was ist das? Ehrlich, Liebes, was, zum Teufel, ist das?« Er zog mir das T-Shirt über die Schultern und drehte mich langsam um. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er fand eine entzündete, ausgefranste Wunde, die sich über meinen Brustkorb zog, dunkelrot, fast schwarz an den Rändern. Etwas in mir zog sich zusammen. »Jetzt reicht’s«, sagte Ben. »Es reicht jetzt wirklich, Natasha.« Er schnallte das Baby von seiner Brust los und reichte es mir. »Bleib hier.«

»Tu das nicht«, sagte ich und packte seinen Arm.

Er schüttelte den Kopf und rannte aus dem Haus. Er trat gegen die Autotür, bevor er sie öffnete, trat so lange gegen sie, bis sie eine Beule hatte. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Sein Finger zeigte auf mich. »Wag es bloß nicht, von hier wegzugehen.«

Ich sah ihm nach, als er losraste. Ich nahm das Baby mit in unser Schlafzimmer und lag auf der Seite, ich hielt das kleine Mädchen an meiner Brust und sog ihren warmen, milchgetränkten Atem ein. Sie hörte nach einer Weile auf zu quengeln, und wir schliefen ein. Als ich aufwachte, saß Ben im Lesesessel am Fußende des Bettes. Ich setzte mich langsam auf und zog die Knie an die Brust. Er hatte eine Verletzung am Kinn, und die Knöchel an seiner Hand waren roh und rot wie Fleisch.

»Genug«, sagte er. »Du hast dich lang genug selbst verletzt. Du kommst jetzt nach Hause.«

Ich drückte die Stirn an meine Knie. Meine Brust war leer. Es war schön, dass jemand mir sagte, was ich tun sollte. Ben stand auf und nahm das Baby, das immer noch schlief. Er verschwand mit ihr und war allein, als er zurückkam. Er stellte ein Babyfon auf den Beistelltisch und legte sich neben mich ins Bett. Es ist schwer, in einem Haus zu atmen, in dem keine Luft ist, aber ich versuchte es. Ich streckte mich neben ihm aus, und als er anfing, mich auszuziehen, wehrte ich mich nicht. Mein Verlangen nach ihm war ungebrochen. Meine Zunge konnte den Geschmack seiner Haut, seines Mundes nicht vergessen. Fahles Abendlicht füllte das Zimmer, hell genug, dass wir uns deutlich sehen konnten. Er küsste die Wunden an meinem Schlüsselbein, um den Nabel, die dunkelroten Flecken an meinen Oberarmen, meinen Oberschenkeln, am unteren Rücken. Seit Langem hatte mich kein Mann mehr zärtlich berührt – welch ein Luxus. Ich hatte es fast vergessen. Er hielt mein Gesicht in den Händen, als er mich küsste, und dann fiel ich in ihn hinein, und ich fiel in uns hinein, seine Zunge war in meinem Mund, sein Mund war auf meinen Brüsten, seine Finger zwischen meinen Schenkeln. Er füllte mich auf eine Weise aus, die mich wissen ließ, dass er mich zurücknahm. Ich öffnete mich, um ihn einzulassen. Ich küsste seine roten rohen Fleischknöchel und sein Kinn und schlang die Arme um ihn. Ich sagte: »Halt mich am Boden.«

Es war spät, Weinen im anderen Zimmer. Ich lag auf dem Rücken, Bens Körper halb auf mir, im Schlaf. Ich legte eine Hand auf meine Brust und machte leichte kreisende Bewegungen, als könnte das mein Herz an seinen richtigen Platz zurückbringen. Wieder das Weinen aus dem anderen Zimmer. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich das getan hatte. Mein Mund war trocken und voller Gram, meine Lippen immer noch wie ausgedörrt, meine Augen trocken. Alles war trocken. Ich fuhr mit der Hand durch Bens Haar. Das Weinen wurde lauter, deshalb küsste ich meinen Mann auf den Kopf und schlüpfte aus dem Bett, während ich mich an die Geographie des Zimmers zu erinnern versuchte, in dem ich monatelang nicht geschlafen hatte. Meine Brüste taten weh, sie waren geschwollen von süßer verdorbener Frucht. Bens Hemd lag auf dem Boden, und ich zog es über, dann tastete ich mich an der Wand entlang zum Kinderzimmer. Als ich das Licht einschaltete, drehte sich das Baby auf die Seite und blinzelte. Das Zimmer roch immer noch nach meinem Sohn. Er war dort, auch wenn er nicht dort war. Ich konnte ihn in meinen Fingern spüren. Ich nahm das Baby hoch und wiegte sie im Arm, und als ich das Gewicht ihres Körpers spürte, riss es mir fast das Herz aus dem Leib. Wir gingen nach draußen, um frische Luft zu schnappen, und saßen auf der Veranda, die Ben und ich selbst gebaut hatten, aus Backsteinen, für noch mehr Arbeit im Garten. Ich rief Anna Lisa an. Nach sieben Mal Klingeln nahm sie ab.

»Ich verlasse ihn«, sagte ich. »Das solltest du wissen.«

»Ich habe das Baby dir übergeben.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Mir darf man kein Kind anvertrauen. Und es ist nicht legal.«

»Ich weiß, was mit deinem Sohn passiert ist, hab’s in den Nachrichten gesehen«, sagte Anna Lisa. »Es war nicht deine Schuld.«

»Das ist nicht die Antwort auf das, was wir beide am Laufen haben.«

»Ich kenne sonst niemanden, der mir helfen kann.«

»Wir können nicht hierbleiben. Vor allem nicht mit ihr. Wir gehen weg.«

»Sag mir nicht, wohin ihr geht«, sagte Anna Lisa. Sie legte auf.

Das Baby bewegte sich auf meinem Arm. Ich berührte ihre kleinen Lippen mit dem Finger. »Was mache ich mit dir?«, fragte ich. Sie krähte und griff nach meinem Finger, ließ ihn nicht los, und so saßen wir eine lange Weile da, und ihr Griff wurde immer fester und fester. Ich dachte, sie könnte mich vielleicht auch zerbrechen. Feuchte Ringe breiteten sich auf Bens Hemd aus. Egal, was ich tat, meine Milch wollte nicht versiegen. Mein Körper brauchte etwas, was er nähren konnte. Als ich hineinging, hielt Ben sein Telefon und die Autoschlüssel in der Hand. Ihm standen die Haare zu Berge. Er sah so jung aus wie an dem Tag, als wir uns kennenlernten. Wir waren damals beide Collegestudenten im ersten Jahr, und er fuhr mit einem Quad hinter mir her, weil er die pinke Strähne in meinem Haar mochte. Er sagte, er habe immer gewusst, dass er sich in eine Frau mit einem dreisilbigen Namen verlieben würde. Ich war mir nicht sicher, welchen Ben ich vor mir hatte, und dann kam er zu mir und drückte die Nase in mein Haar und sagte, dass ich riechen würde wie die Nachtluft.

»Ich dachte schon, du wärst verschwunden.«

»Du hast doch gesagt, das dürfe ich nicht.«

Sein Gesicht wurde breit, wie immer, wenn er auf seine typische Weise lächelt.

»In diesem Haus können wir nicht mehr leben.«

Ben nickte.

»Wir können nicht mehr in dieser Stadt leben, nicht mal in der Nähe.«

»Ich weiß.«

Ich sah auf das Baby hinunter. »Sie kommt mit uns mit. Fürs Erste. Bis ihre Mom sie wieder nehmen kann. Ein Baby kann nichts reparieren. Ich bin nicht so verrückt, wie sie alle glauben. Ich weiß, wer dieses Baby ist und wer nicht.«

»Du kannst seinen Namen ruhig aussprechen.« Bens Blick suchte meinen. Unser Sohn hatte seine Augen. Es hat eine Zeit gegeben, da fragte ich mich, ob ich es in meinem restlichen Leben je wieder aushalten könnte, meinen Mann anzusehen. »Sag seinen Namen«, sagte Ben.

Ich bot meine Handflächen offen dar und schüttelte den Kopf.

Als Ben junior geboren wurde, waren wir sieben Jahre verheiratet. Wir waren beide Einzelkinder. Wir waren immer noch jung, aber unsere Eltern hatten sich schon damit abgefunden, keine Enkelkinder zu bekommen, als dieser leuchtende, wunderschöne Junge bei uns Einzug hielt. Nach dem Unfall rief ich meine Mutter an, um ihr mitzuteilen, was passiert war. Ich sagte es ihr auf der Veranda, weil ich nicht im Haus sein konnte, es gab dort keine Luft. Ben saß neben mir. Wir hielten das Telefon zwischen unseren Wangen. Meine Mutter stöhnte, als ich ihr erklärte, dass mein Sohn nur noch ein blutiger Strich auf dem heißen Asphalt des Parkplatzes war, dass es ihn aus den Schuhen gerissen hatte, dass er irgendwo lag, allein und kalt.

Am Tag, als er starb, versuchte ich, die ganze Zeit bei ihm in der Leichenhalle zu bleiben, aber das verstieß gegen die Vorschriften. Ein Fremder mit kalten Händen sagte immer wieder: Es tut uns so leid, aber Sie müssen jetzt gehen. Schließlich begleiteten uns zwei Polizisten zum Parkplatz. Ich machte eine heftige, unschöne Szene. Darauf bin ich stolz. Einer der Polizisten sagte: »Wir wollen Sie nicht in Gewahrsam nehmen müssen«, und ich schrie: »Sie wollen mich wohl verarschen!« Die Leute, die in die Wache hinein- und aus ihr herausgingen, glotzten, zeigten mit den Fingern und schüttelten den Kopf. Der Polizist packte meinen Ellbogen und zog mich so nahe an sich heran, dass ich den Kaffee in seinem Atem riechen konnte. Er beugte sich noch weiter vor und sagte: »Ich habe selber vier, aber Sie müssen jetzt gehen«, und ich schrie weiter: »Sie wollen mich wohl verarschen!« Meine Kehle war rau. Ich war ganz und gar rau. Alles scherte mich einen Dreck. Ich würde mein Kind nicht allein lassen. Ben erwachte plötzlich aus seiner Trance und zog mich weg. Ich wehrte mich heftig. Als er mich schließlich ins Auto setzen konnte, stand er an meiner Tür. Mit erhobenem Finger sagte er: »Bleib sitzen, Baby«, und rannte dann zu seiner Seite des Wagens. Schweiß tropfte von seinem Gesicht und seinem Hals. Feuchte Schweißbogen zeigten sich um meinen Hals und unter meinen Achseln. Wir waren verkommen und verdreckt vor Trauer. Er drehte sich um und sah mich an. »Du bist stärker, als ich dachte.« Ich drückte die Hand gegen das Autofenster, als wir losfuhren. Ich sagte: »Du hast keine Ahnung.« Später fuhren wir zur Polizeiwache zurück, stellten das Auto ein paar Blocks davon entfernt ab und saßen dann schweigend in der Nähe des Fensters hinter der Leichenhalle, bis Ben juniors Leiche morgens für uns freigegeben werden konnte.

Statt etwas Freundliches zu sagen, statt nichts zu sagen, als ich ihr den Tod meines Sohnes mitteilte, sagte meine Mutter: »Wie konntest du das zulassen?« Ich fing an zu zittern und sie anzuschreien, aber es waren sinnlose Worte, duwinieschonsfreidunie, verrückte Wutworte. Ben nahm das Telefon. Er sagte: »Wie kannst du es wagen?« In dieser Nacht schliefen wir in der Garage und auch in der nächsten und übernächsten Nacht. Der Kühlschrank, in dem wir Wildfleisch und Bier aufbewahrten, summte laut. Die ganze Nacht lauschten wir diesem Summen, taten, als würden wir schlafen, taten, als wäre es möglich zu schlafen. Es war heiß dort drinnen, es roch nach Motoröl und Schmutz und gemähtem Gras. Ben nahm mich in die Arme und ließ mich nicht los.

Wir zogen in ein Zelt im Garten, bis die Nachbarn sich beschwerten. Wir kochten Essen aus Dosen auf einem Campingkocher und tranken Wein und rauchten, und dabei saßen wir in Liegestühlen, bis wir zu müde waren, um wach zu bleiben. Ben sagte: »Rede mit mir«, und ich versuchte es, aber es kam nur trockene Luft aus meinem Mund. Ich nahm Urlaub, aber Ben ging weiter ins Büro, er sagte, er brauche irgendeine Sache, die Sinn ergab. Wenn er weg war, saß ich auf dem Parkplatz des schicken Ladens, in dem wir acht verschiedene Olivensorten gekauft hatten. Manchmal erkannte mich ein Angestellter, brachte mir Kaffee und sagte: Es tut uns so leid. Ich hörte diesen Satz so oft, dass er mir allmählich wie ein einziges Wort vorkam: Tutunssoleid unssoleid soleid soleid soleid.

Ich verlor das ganze Schwangerschaftsgewicht, das hartnäckig geblieben war, und noch mehr. Ben wurde zornig, wenn ich sagte, ich könne nichts essen, er sagte, ich hätte nicht das Recht, mich selbst zugrunde zu richten. Eines Abends machte er mir meine Lieblingspasta. Als ich mich weigerte zu essen, setzte er sich rittlings auf mich und fütterte mich mit Gewalt. Ich konnte das Essen nicht bei mir behalten. Er wurde so sauer, dass er die wunderschöne Tonschale, in der er seine wunderbare Pasta serviert hatte, auf den Küchenboden schmiss. Er richtete ein fürchterliches Chaos an. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und ich wollte spüren, dass seine Knöchel meinen Kieferknochen trafen. Ich warf mich auf ihn. Ich sagte: »Schlag mich«, aber er tat es nicht. Ich schlug ihn immer wieder, und er hielt meine Hände nicht fest. Ich sagte: »Schlag mich, oder ich gehe weg.« Er weigerte sich, also ging ich weg. Ich schlief in meinem Auto bei den Bahngleisen, dort, wo wir mit Ben junior spazieren gegangen waren, wenn er nicht schlafen konnte. Mein Mann fand mich und sagte, ich solle nach Hause kommen. Ich ging nicht nach Hause.

In einer Bar fand ich einen Mann, der mich schlagen wollte. Es war nicht schwer. Ein Blick genügte, und ich konnte seine Wut wittern. Ich trank Bourbon und hatte nicht viel an, ließ viel nackte Brust und Beine sehen. Er saß neben mir und bestellte mir einen Drink, obwohl ich von dem, der vor mir stand, noch nichtmal die Hälfte getrunken hatte. Er tippte auf meine Ringe und sagte: »Wo ist dein Mann?« Ich schob das Glas mit dem Rest meines Drinks und das zweite Glas, das er mir bestellt hatte, mit einem Ruck zurück. »Das kann dir egal sein«, sagte ich. Er redete, und wir tranken stundenlang, und als er sagte: »Wir sollten uns auf den Rückweg machen«, ließ ich es zu, dass er mich abschleppte. Er schob mich gegen die Wand und bedeckte meinen Mund mit seinem, als wollte er mein Gesicht verschlingen. Er holte Luft und sagte: »Wie gefällt dir das, Baby?« Ich packte ihn am Gürtel. Er versuchte wieder, mich zu küssen, und ich drehte mich weg. Ich sagte: »Ich will, dass du mir wehtust«, und das tat er, immer und immer wieder. Ich schlief nicht mehr zu Hause. Jedes Mal, wenn dieser Mann seine Fäuste in meinen Körper trieb, konnte ich ein wenig atmen. Ich benutzte eine Wunde, um eine andere zu verdecken. Ich wurde eine brennend zarte Wunde, als er mich zerbrach mit Haut und Haar und Muskeln und Knochen und Blut, bis ich nichts mehr fühlte, außer der Art, wie er meinen Körper benutzte, ein paar vollkommene Augenblicke jeden Tag, Augenblicke, die ich so lange zwischen den Fingern rieb, bis sie sich auflösten.

Ben packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Sag seinen Namen.«

»Fester«, sagte ich.

Das Baby kicherte. Sie griff nach seinem Hemd und nach meinem T-Shirt, als wollte sie uns zueinander ziehen. Ben beruhigte sich und sah auf sie hinunter. Er ließ mich los.

»Bitte.«

Ich umklammerte seinen Nacken und stand auf Zehenspitzen. Ich schloss die Augen und sah jeden Buchstaben, den Umriss des Namens unseres Kindes. Ich versuchte, mich in meinen Verletzungen zu verlieren. Ich stellte das Baby in den Laufstall und ging ins Kinderzimmer. Ben folgte mir auf dem Fuße. Ich stand neben der Wiege, hielt mich an ihr fest. Der Lieblingsteddy unseres Kindes saß noch in einer Ecke. Der Ärmel eines kleinen T-Shirts sah unter dem Kopfkissen heraus. Und dann konnte ich nicht mehr stehen. Ich fiel auf die Knie und rang nach Luft.

»Schlag mich«, sagte ich. Ich bettelte. Ich nahm seine Hand und ballte sie zur Faust und hielt seine Faust an mein Brustbein. Ich sagte: »Bitte, wenn du mich liebst, schlag mich.« Meine Stimme war so mies und ausgehungert. Wenn Ben die zerbrochenen Stellen in mir noch ein wenig mehr zerbrechen würde, wenn er alles zerbrechen würde, was unter der Haut von mir geblieben war, könnte ich schließlich ganz und gar zerbrechen.

Ben kniete sich neben mich, öffnete seine Hand. »Ich liebe dich wirklich.« Er legte die Arme um mich, während ich nach Luft schnappte. Er war so zärtlich, so schrecklich.

»Mein Gott, bitte tu es, Ben. Bitte.« Ein lauter Ton in meinen Ohren machte es mir schwer, mich auf irgendetwas außer dem bitteren Schmerz in meiner Brust zu konzentrieren.

Er zog seinen Arm zurück, und ich sah, dass sich seine Hand wieder zur Faust ballte, ich machte ein lautes Geräusch, aber dann entspannte er sich. »Nein«, sagte er. »Ich werde es nicht tun.«

Ich umklammerte den Rand der Wiege, schüttelte sie, schleuderte sie an die Wand, bis die Schrauben sich lockerten, bis auch die Wiege, in der unser Kind gelegen hatte, ganz und gar zerbrach. Die Buchstaben B-E-N an der Wand darüber fielen herunter. Meine Arme wurden müde, und ich ließ den zerbrochenen Seitenrand der Wiege los. Ich spürte Schweiß unten am Rücken. Ich dachte daran, mir alles in diesem Zimmer in den Mund zu stopfen, dachte, wenn ich es nur versuchte, hätte ich Platz dafür. Ben beugte sich vor und drückte die Stirn auf den Boden.

»Er fehlt mir so sehr, wie ich dich liebe. Ich liebe dich so sehr, wie er mir fehlt«, sagte ich. Ich sackte zusammen, fiel gegen ihn, und irgendwie schliefen wir so ein, indem wir, einer an den anderen gelehnt, ganz und gar zerbrachen.

Am nächsten Morgen schleppten wir alles aus dem Kinderzimmer und trugen es in den Garten, auf unsere Backsteinveranda mit den unebenen Seiten. Wir verbrannten alles, bis es nichts mehr war. Die Nachbarn zogen die Vorhänge auseinander und glotzten. Sie würden nicht mehr viel länger unsere Nachbarn sein. Ich streckte den Mittelfinger in die Luft. Wir standen da und sahen zu, wie alles zu einer schwarzen, harten Masse verschmolz – Spielsachen und Bettzeug und T-Shirts und sehr kleine Schuhe und Schnuller, alles. Als das Feuer am Ende heruntergebrannt war, war unsere Haut mit einer dünnen Rußschicht bedeckt. Es stank nach dem versengten Andenken an Dinge, die nicht verbrannt werden sollten. Das Baby schlief und schlief und schlief.

Stolpernd kehrten wir ins Haus zurück, und ich riss an Bens Kleidern, küsste ihn wild bis auf die Knochen meines Gesichts, bis auf das Weiß meiner Zähne und wollte etwas anderes fühlen, sogar als mein ganzer Körper ein einziger scharfer Schmerz war. Ben bog mich über den Esszimmertisch, seine Hand drückte gegen meinen Hinterkopf, als er in mich eindrang. Er atmete heiß in meinen Nacken. Was wir taten, wie wir uns anhörten, war ungezähmt.

Danach sagte ich: »Bitte bring mich von hier weg«, und Ben sagte: »Sag den Namen unseres Kindes.« Ich hielt sein Gesicht und wischte mit den Daumen den Ruß unter seinen Augen weg.

In ein paar Wochen würden wir den Schlüssel unseres Hauses einem Makler übergeben, der es irgendwann verkaufen und das Geld auf unser Konto überweisen würde. Wir würden Anna Lisa sagen, dass sie immer wissen würde, wo wir sind. Sie würde uns sagen, dass sie uns nicht nachkäme. Wir würden alles, was wir brauchten, in unser Auto packen. Wir würden die Kleine in den Kindersitz setzen und fröhlich ihrem Geplapper lauschen. Wir würden uns zu diesem Kind umdrehen, dessen Züge mit jedem Tag deutlicher hervortreten würde, und sagen: Das ist verrückt, es ist falsch, es ist richtig, es ist falsch. Wir würden nach Norden und Westen und Norden und Westen fahren, bis wir zu einem Ozean kämen mit felsigem Ufer und überall Grün und einem weiten, weiten Himmel über uns, zu dem wir das Baby hochhöben, und sie würde lachen.

Davor aber küsste ich Ben ganz zart, ganz zart. Seine Locken quollen zwischen meinen Fingern hervor. Wir schmeckten wie die letzte weiße Hitze eines Feuers ganz nah am Boden, wo die meisten Dinge brennen. Ich sagte Ben juniors Namen in seinen Mund und prägte mir diesen verkohlten Geschmack ein.