Wasser, sein ganzes Gewicht

Wasser und Wasserschäden folgten Bianca. Jedes Mal, wenn sie nach oben blickte. Egal, von wo aus sie nach oben blickte. Wasserflecken, die sich in dunkler werdenden Windungen an den Rigips- oder Glasfaserplatten entlangzogen und die Wände mit Fäulnis und Schimmel füllten. Dicke Wassertropfen fielen auf ihren Unterarm, ihren Hals, ihre Stirn, ihre Unterlippe.

Im Fitnessstudio war über den Hanteln eine der Glasfaserplatten schließlich zerbrochen. Die matschige Pampe lag in einem säuberlichen Haufen auf dem Boden. Unter dem Hohlraum stand eine Leiter, ein offener Werkzeugkasten. Kein Hausmeister in Sicht. Sie ging aufs Laufband, fing an zu rennen. Biancas Muskeln streckten sich, und sie fiel in einen entspannten Trab. Ein Wassertropfen im Nacken, dann noch einer. Sie blickte hoch, hielt ihr Tempo. An der Decke breitete sich langsam ein neuer Fleck aus. Sie rannte weiter.

Später, bei der Arbeit, saß Bianca an ihrem Schreibtisch und nahm ein zweckmäßiges Mittagessen zu sich, Putensandwich mit Senf, Salatblatt und Tomate. Über ihr waren die Deckenplatten längst zu etwas Dunklem, Unkenntlichen verfault. Der moderige Geruch hing noch Stunden, nachdem sie ihr kleines Büro abends verlassen hatte, in ihren Kleidern. Glücklicherweise war Bianca sehr gut in ihrem Job. Sie arbeitete effizient. Sie arbeitete schnell. Sie sah hübsch aus, der nasse, wie gelackte Look stand ihr gut. Nachdem sie ihr Sandwich aufgegessen hatte, wischte sie sich die Krümel von den Händen und wandte sich wieder ihrem Computerbildschirm zu. Sie tippte und tippte und tippte, mit flinken Fingern. Sie ignorierte das Foto ihres Exmannes, das in einer Ecke auf dem Schreibtisch stand. Sie hätte es schon vor Monaten wegräumen sollen, aber sie wollte nicht sang- und klanglos auf seinen Beistand verzichten.

Ihre Hochzeitsreise verbrachten sie in der Wüste Sahara, um etwas Gutes zu tun, sagte Bianca, als Dean, ihr mittlerweile Exmann, wissen wollte, warum sie bis ans Ende der Welt reisen sollten. In jedem Dorf wurden sie von tanzenden Kindern willkommen geheißen, die ihre Hände öffneten, wenn plötzlich Regen fiel. Dunkle Menschen mit strahlend weißen Zähnen bildeten enge Kreise um Bianca. Sie bemalten ihr Gesicht, hoben sie auf ihre Schultern. Sie sagten, sie sei eine Gottheit. Als sie wegfuhr, ertönte schrilles Klagegeschrei. Damals verschwand der Regen, und für Dean und Bianca begann das Leben als Ehepaar.

Auf der Heimfahrt öffnete Bianca das Verdeck und blickte in die untergehende Sonne. Noch lange, nachdem sie auf ihren eigenen Stellplatz eingebogen war, saß sie im Auto und blickte hoch zu den zornigen Regenwolken, die sich aufbauten, ihr folgten. Zum Abendessen aß sie Pasta mit etwas Butter und Käse und trank drei Glas Rotwein. Über ihr ächzte die Zimmerdecke, aufgeschwemmt durch das Gewicht des Wassers. Manchmal lag sie nachts auf ihrer Couch und hielt den Blick starr nach oben gerichtet, studierte die Verkettungen der Wasserflecken, die neuen Ausformungen, die ihre Decke annahm, die wellenförmigen Biegungen der Rigipsplatten, wenn ihre Nachbarn von oben von einem Zimmer ins andere gingen. Wenn sie müde wurde, legte sie sich in ihr leeres Bett, lag auf der Seite, ertastete die kleine Mulde an der Stelle, wo ihr Exmann einst geschlafen hatte. »Das ist mein Leben«, sagte sie zu dem leeren Zimmer. »Ich bin dankbar.« Dann versuchte sie sich die Kunst des Glaubens anzueignen.

Dean konnte mit der wässrigen Fäule, die Bianca folgte, nicht umgehen. Es war zu viel, das tropfende Wasser, der Moder überall. Als sie in ihrer letzten Nacht miteinander schliefen und er auf dem Rücken lag, mit ihrem Hintern in den Händen, und es genoss, wie ihr Körper sich an seinen schmiegte, als sie sich hin und her wiegte und leise stöhnte, als er das endgültig letzte Ich-liebe-dich sagte, da öffnete er plötzlich die Augen und konnte seinen Blick nur auf das richten, was hinter seiner geliebten Frau war, hinter ihrem flachen Bauch und den sanft anschwellenden Brüsten und dem schimmernden schwarzen Haar, das ihr Gesicht umrahmte – auf die sich zersetzende Dunkelheit über ihnen. Sein Schwanz wurde augenblicklich schlaff. Er spürte, wie alle Kraft, die er je besessen hatte, aus seinen Poren sickerte. Bianca stöhnte lauter, hörte auf, sich zu bewegen, legte ihre Hände auf seine Brust. »Was ist los?«, fragte sie. Sie küsste sein Kinn, nagte mit den Zähnen an seiner Unterlippe, kitzelte ihn am Hals. Er schob sie weg. Obgleich er keine Kraft mehr hatte, war er nicht zärtlich. Sie fiel aus dem Bett auf den feuchten Boden. Am nächsten Morgen war Dean weg. Er nahm nichts mit außer den Schimmelsporen, die in seiner Lunge wuchsen. Wäre sie anfällig für Gefühlsduselei, würde Bianca zugeben, dass er auch ihr Herz mitnahm.

Bianca war gerade einmal drei Tage alt, als ihrer Mutter ein kleiner Wasserfleck in der Ecke des Kinderzimmers auffiel, genau über der Wiege. Sie dachte nicht weiter darüber nach. Sie hielt ihr wunderhübsches Baby mit dem üppigen schwarzen Haarschopf und den hellen blauen Augen im Arm, schuckelte es hin und her und sang einfältige Lieder. Sie küsste die weiche Stelle auf Biancas Kopf und sog den lieblichen Duft ein. Je älter Bianca wurde, desto größer wurde der Fleck, bis er die gesamte Decke als Wandgemälde aus schwarzem Schimmel vereinnahmt hatte. Eine Firma wurde gerufen. Ihre Eltern erklärten, dass irgendetwas undicht sei, dass irgendwo etwas sei, von dem man nichts wisse. Eine anstrengende Suche nach der Quelle des Schadens wurde veranstaltet. Man fand nichts. Die Decke wurde ersetzt.

Bianca wuchs weiter, und es bildeten sich neue Flecken, die in der tiefsten Nacht in großen Bögen über die Kinderzimmerdecke wanderten. Nachdem sie die Decke zum dritten Mal ersetzt hatten, gaben ihre Eltern auf. Es hieß: ihre Tochter oder ihre Gesundheit, ihre Ehe. Sie brachten Bianca zu dem Waisenhaus am Stadtrand, ließen sie mit einem in ihrem Pullover versteckten Zettel auf den Betonstufen zurück. Nachdem sie weg waren, weinte Bianca vier Tage lang; keiner konnte sie trösten. Das einzige Foto, das Bianca von ihrer Kindheit besitzt, wurde von den Nonnen aufgenommen, an ihrem zweiten Tag im Waisenhaus. Auf dem Bild ist sie drei Jahre alt. Schwester Mary Angelica hält sie. Biancas pummelige Arme sind steif abgewinkelt, ihre winzigen Finger zu Fäusten geballt. Ihre Wangen sind rot vor Zorn, tränennass. Ihre Augen und ihr Mund sind rot und weit aufgerissen.

Bianca stimmte einem Date mit Dean, der in der Kanzlei ein paar Stockwerke unter ihrem Büro arbeitete, erst zu, als er damit anfing, ihr jeden Morgen handgeschriebene Zettel auf den Schreibtisch zu legen. Er schrieb ihr allerliebste, drollige Nachrichten. Er hatte eine wunderschöne Handschrift. Er sagte ihr, was er alles an ihr liebte, und er benutzte dieses Wort – Liebe – völlig unbefangen. Als sie seinen Avancen schließlich nachgab, schlug sie ein Café vor, in dem man draußen sitzen konnte. Während sie aßen und einander anlächelten, kreisten dunkle Wolken über ihrem Tisch. Sie spürte Regentropfen auf ihren Schultern. Ganz in ihrer Nähe schien die Sonne. »Das ist das Irrste, was ich je gesehen habe«, sagte Dean.

Gegen Ende des Essens berührten sich ihre Füße. Er strich mit den Fingern über die zarten Knöchel ihrer Hand und lächelte, ohne ein einziges Mal den Blick abzuwenden. Er fragte, ob sie für einen Absacker noch zu ihr gehen könnten. Bianca wurde blass, und er entschuldigte sich stotternd für seine Aufdringlichkeit. »Nein«, sagte Bianca. »Das ist es nicht. In meiner Wohnung herrscht Chaos.« Als er sie heimfuhr, kamen sie an einem Park vorbei. Sie drückte seine Schulter. »Fahr rechts ran.« Er grinste und fand eine Parklücke. Sie zog die Schuhe aus und rannte über die weite Grasfläche zum Karussell.

Zum Waisenhaus hatte ein Spielplatz gehört. Dort spielte sie oft, allein. Die anderen Kinder fürchteten sich vor ihr, genau wie die meisten Nonnen, die vergeblich versuchten, sie zu lieben, weil auch sie schließlich ein Kind Gottes war. Priester von weit her wurden herbeigeholt, um sie zu untersuchen, sie mit Weihwasser zu besprengen. Sie sagten alle dasselbe. Was auch immer sie heimsuchte, es war das Werk des Teufels und seiner Dämonen. Was auch immer von ihr Besitz ergriffen hatte, es war mächtiger als ihr Gott. Man hielt Predigten über sie, über dieses Kind, das verfolgt wurde von Wasser und Fäulnis. Und doch schaffte es Bianca, ein fröhliches Kind zu sein. Sie hielt sich am Metallgeländer des Karussells fest und rannte, so schnell sie konnte. Sie rannte, bis der Boden sich mit ihr bewegte und der Wind die Wolken zu peitschen begann. Wenn die Regentropfen fielen, sprang sie auf das Karussell auf und arbeitete sich bis zur Mitte vor. Genau dort ließ sie sich nieder, riss die Arme hoch und bot das Gesicht dem nassen Himmel dar.

»Ich bin schon jahrelang nicht mehr Karussell gefahren«, sagte Bianca, während sie langsam um das Spielgerät herumlief und immer wieder das Geländer berührte. Vorsichtig kletterte sie auf die Scheibe und ging zur Mitte. Dean begann, sie im Kreis herumzudrehen, immer weiter im Kreis. Sie schloss die Augen, reckte die Arme hoch in den kühlen Abendwind. Als ihm die Arme wehtaten, hörte Dean mit dem Drehen auf und kletterte auf die Plattform aus Metall, die sich immer noch leicht drehte. Er kniete sich zwischen Biancas Schenkel, und sie begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Als sie beide nackt waren, legte Bianca sich hin. Sie genoss das Gefühl der Metallrillen an ihrer Haut. Dean küsste ihre Stirn und ihre Augenlider und ihre Lippen. Er schmeckte nach Wein und Salz, und er schmeckte sauber. Er bestaunte die Feuchtigkeit ihrer Haut und leckte Wassertropfen aus der Mulde an ihrem Hals. Dann war er in ihr, und er war der Erste, und seine Lippen lagen heiß an ihrem Ohr und wiederholten flüsternd die reizendsten Dinge, die er in seinen Briefen geschrieben hatte. Er sagte zum ersten Mal Ich liebe dich. Sie sagte es auch. Ein warmer Regen fiel auf ihre nackten Körper. Dean hielt Biancas Gesicht zwischen seinen Händen und strich zart die langen Strähnen zur Seite. Als sie in seine Augen blickte und ihr Körper sich ihm vollkommen öffnete, hoffte sie.