Meine Schwester hatte beschlossen, dass wir ihren Noch-Ehemann in Reno besuchen mussten. Als sie mir das mitteilte, bekam ich schlechte Laune. Ich sagte: »Was hat das mit mir zu tun?«
Carolina hatte mit neunzehn geheiratet. Darryl, ihr Mann, war ein Jahrzehnt älter, hatte aber prächtiges Haar, und sie fand, das bedeute irgendwas. Das erste Jahr lebten sie bei uns. Meine Mom nannte es Fuß fassen, aber die meiste Zeit verbrachten sie im Bett, weshalb ich dachte, Fuß fassen sei ein anderes Wort für Sex. Als sie schließlich auszogen, wohnten Carolina und Darryl in einem heruntergekommenen Apartment mit erbsengrünen Tapeten und einem Balkon, dessen Geländer so wackelig war wie ein fauler Zahn. Ich besuchte sie oft nach meinem Unterricht am örtlichen College. Carolina war meistens noch nicht von ihrem Aushilfsjob zurück, also wartete ich auf sie und sah fern und trank warmes Bier, während Darryl, der offenbar Schwierigkeiten hatte, Arbeit zu finden, mich anglotzte und mir sagte, was für ein hübsches Mädchen ich sei. Als ich meiner Schwester davon erzählte, lachte sie und schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Es gibt nicht viel, wozu Männer gut sind, aber er wird dich nicht anrühren, das verspreche ich dir.« Sie behielt recht.
Darryl beschloss, nach Nevada zu ziehen, bessere Aussichten, behauptete er, und sagte zu Carolina, sie als seine Frau müsse mit ihm gehen. Als Mann meiner Schwester hatte er es nicht nötig zu arbeiten, aber das hinderte ihn nicht daran, altmodische Ansichten über die komischsten Dinge zu haben. Carolina mag es nicht, wenn man ihr sagt, was sie zu tun hat, und sie wollte mich nicht alleinlassen. Ich wollte nicht nach Nevada, also blieb sie hier, und die beiden blieben verheiratet, lebten aber völlig getrennt.
Ich schlief, und der Arm meines Freundes Spencer lag schwer und warm auf meiner Brust, als Carolina klopfte. Meine Beziehung zu Spencer ließ aus vielerlei Gründen sehr viel zu wünschen übrig, nicht zuletzt deshalb, weil er sich nur in Filmzitaten unterhielt, aus Überzeugung, das mache ihn als Cineasten glaubwürdiger. Er rüttelte mich, aber ich stöhnte nur und drehte mich weg. Als wir nicht reagierten, schloss Carolina die Tür auf, platzte in unser Schlafzimmer und kroch zu mir unter die Decke. Ihre Haut war feucht und eigenartig kühl, als hätte sie im Winter gejoggt. Sie roch nach Haarspray und Parfüm.
Carolina gab mir einen Kuss in den Nacken. »Wir müssen los, Savvie«, flüsterte sie.
»Ich will aber nicht.«
Spencer legte sich ein Kissen aufs Gesicht und murmelte unverständliches Zeug.
»Zwing mich nicht, alleine wegzugehen«, sagte Carolina mit brüchiger Stimme. »Zwing mich nicht, hierzubleiben, nicht noch mal.«
Eine Stunde später fuhren wir auf der Autobahn Richtung Osten. Ich machte mich klein und quetschte mich an die Tür, die Wange gegen die Scheibe gepresst. Als wir die kalifornische Grenze überquerten, setzte ich mich auf und sagte: »Ich hasse dich wirklich«, doch den Arm meiner Schwester ließ ich nicht los.
* * *
Das Blue Desert Inn sah verwaist aus, heruntergekommen. Schimmelmuster überzogen die Gipswände in Dunkelgrün und Schwarz. Das Neonschild ZI MER F EI gab knackende Geräusche von sich, während es sich abrackerte, weiterhin zu leuchten. Nur ein paar Autos standen auf dem Parkplatz.
»Ich habe immer erwartet, dass dein Mann an einem Ort genau wie diesem enden würde«, sagte ich, als wir auf den Parkplatz einbogen. »Wenn du hier mit ihm schläfst, werde ich maßlos enttäuscht sein.«
Darryl öffnete die Tür in weiten Boxershorts und einem T-Shirt unserer Highschool. Die Haare fielen ihm in die Augen und seine Lippen waren aufgerissen.
Er kratzte sich am Kinn. »Ich habe immer gewusst, dass du zu mir zurückkommst.«
Carolina strich mit ihrem Daumen über seine Stoppeln. »Sei brav.«
Sie drängte sich an ihm vorbei, und ich folgte ihr, aber langsam. Sein Zimmer war klein, aber sauberer, als ich erwartet hatte. Das riesengroße Bett in der Mitte hing durch. Neben dem Bett befanden sich ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Dem Bett gegenüber war eine Eichenkommode, auf der lauter benutzte Styroporkaffeebecher standen, einer davon mit Lippenstiftfleck.
Ich deutete auf den großen Röhrenfernseher. »Ich wusste gar nicht, dass die noch hergestellt werden.«
Darryl zog die Oberlippe hoch. Mit einem Kopfnicken zeigte er auf die Tür, die zum angrenzenden Raum führte. »Du solltest mal rausfinden, ob das Zimmer nebenan frei ist.« Er klopfte auf das Bett und warf sich auf die Matratze, die leise unter ihm ächzte. »Ich und deine Schwester haben zu tun.«
Am Empfang lehnte ein älterer Mann mit dickem Bauch und einem vollen roten Haarschopf am Tresen, klopfte auf einen Plan des Hotels und erklärte die Vorzüge jedes freien Zimmers. Ich zeigte auf das Zimmer neben Darryls.
»Was ist mit dem?«
Der Mann kratzte sich am Bauch und ließ dann seine Fingerknöchel knacken. »Das da ist ein sehr schönes Zimmer. Durch die Badezimmerdecke tropft es etwas, aber wenn Sie unter der Dusche stehen, werden Sie ja sowieso nass.«
Ich schluckte. »Ich nehm’s.«
Er musterte mich von oben bis unten. »Brauchen Sie zwei Schlüssel, oder brauchen Sie Gesellschaft?«
Ich schob drei Zwanziger über den Tresen. »Weder noch.«
»Wie Sie meinen«, sagte er. »Wie Sie meinen.«
Die feuchtkalte Luft in meinem Zimmer war zum Schneiden. Das Bett hing auf vertraute Weise durch, als wäre derselbe Mensch von Zimmer zu Zimmer gegangen, um überall sein gewichtiges Andenken zu hinterlassen. Nach einer sorgfältigen Besichtigung drückte ich mein Ohr an die Tür, die mich von Darryls Zimmer trennte. Carolina und ihr Mann blieben überraschend still. Ich schloss die Augen. Mein Atem verlangsamte sich. Ich weiß nicht, wie lang ich dort stand, aber dann schreckte mich ein lautes Klopfen auf.
»Ich weiß, dass du lauschst, Savvie.«
Ich riss die Tür auf und starrte meine Schwester, die mit in die Hüften gestemmten Händen auf der Schwelle stand, wütend an. Darryl lag auf dem Bett, immer noch angezogen, die Fußgelenke überkreuzt. Er nickte und grinste breit.
»Siehst gut aus, Schwesterchen.«
Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, hielt mir Carolina den Mund zu. »Darryl lädt uns zum Essen ein, sogar in ein Kasino.«
Ich begutachtete mein Outfit – verwaschene Jeans mit einem ausgefransten Loch, wo einmal das linke Knie gewesen war, und ein weißes ärmelloses Shirt. »Ich zieh mich nicht um.«
Das Paradise Deluxe war in jeder Beziehung laut – die Teppiche boten eine unselige Explosion von Rot und Orange und Grün und Purpur, und aus den Deckenlautsprechern drang ohrenbetäubender Classic Rock. Überall standen grell blinkende Spielautomaten, von denen jeder einzelne eine Folge schriller Geräusche von sich gab, die keiner erkennbaren Melodie ähnelten, und an den meisten Automaten standen Betrunkene, die unter Schreien und Kreischen immer wieder den SPIN-REEL-Knopf drückten. Als wir das Kasino im Gänsemarsch durchquerten – Darryl, Carolina, ich –, grüßte Darryl alle paar Schritte jemanden mit einem Kopfnicken, als gehöre ihm der Laden. Das Restaurant war dunkel und leer. Unser Kellner, ein baumlanger, magerer Junge mit fettigem Haar, das ihm ins Gesicht fiel, reichte uns die in schmutziges Plastik eingeschweißten Speisekarten und ignorierte uns die nächsten zwanzig Minuten.
Darryl lehnte sich zurück, streckte die Arme aus und legte einen fest um Carolinas Schultern. »Wir sind im Schlaraffenland«, sagte er. »Hier gibt’s das beste Steak von ganz Reno – das Fleisch ist so zart und saftig, dass das Messer wie durch Butter gleitet.«
Ich tat, als würde ich die Karte und ihr Angebot an billigem Fleisch und frittiertem Essen studieren.
Darryl stieß mich unter dem Tisch mit dem Fuß an.
Ich legte die Karte weg. »Muss das sein?«
Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Die Bande ist wieder vereint. Das muss gefeiert werden.«
Während wir warteten, rieb Carolina selbstvergessen ihre Hand an Darryls Oberschenkel. Er zog seltsame Grimassen und fing an zu rauchen. Die Asche seiner Zigarette klopfte er auf dem Tisch ab.
»Ich glaub nicht, dass das erlaubt ist«, sagte ich.
Darryl zuckte die Achseln. »Ich habe hier was zu melden. Da wird niemand was sagen.«
Ich starrte auf den kleinen Aschehaufen, den er produziert hatte. »Wir essen an diesem Tisch.«
Eine perfekt geformte Rauchwolke kam aus seinem Mund.
Carolina berührte mich leicht am Ellbogen und sah zu ihm hinüber. »Lass sie in Ruhe«, sagte sie.
Darryl und meine Schwester heirateten beim Friedensrichter. Ich stand neben ihr, in meinem besten Kleid – gelb, ärmellos, Empiretaille – und pinkfarbenen Converse High Tops. Sein Bruder Dennis war sein Trauzeuge. Dennis machte sich nicht einmal die Mühe, eine richtige Hose anzuziehen, und stand in Khakishorts neben dem Brautpaar. Während der Friedensrichter seinen Sermon über Lieben und Gehorchen herunterleierte, starrte ich Dennis’ blasse Knie an und wie deutlich sie hervortraten. Unsere Eltern und Geschwister standen fein säuberlich aufgereiht neben Darryls Mutter, die geräuschvoll Kaugummi kaute. Sie braucht immer eine Zigarette im Mund. Nach zehn Minuten ohne tut ihr alles richtig weh.
Nachdem sie ihr Gelöbnis abgelegt hatten, betraten wir die belebte Vorhalle, in der die Leute vor dem Gericht für Verkehrsstrafsachen warteten, ihren Führerschein verlängern wollten oder sonst wie auf der Suche nach Gerechtigkeit waren. Wir hatten uns drei Jahre zuvor in diesem Amtsgebäude aufgehalten, auf der Suche nach was auch immer, aber an diesem Tag redeten wir nicht darüber. Wir taten, als hätten wir allen Grund zum Feiern. Dennis zog zwei warme Bierdosen aus seinem Rucksack. Er und Darryl tranken sie an Ort und Stelle. Carolina lachte. Ein Polizist, dessen Bauch über die Hose quoll, beobachtete sie mit schweren Augenlidern und blickte dann auf seine Schuhe. Alle trotteten langsam in Richtung Parkplatz, nur Carolina und ich blieben zurück.
Sie presste ihre Stirn gegen meine.
Etwas Nasses und Schweres steckte in meiner Kehle fest. »Warum er?«
»Für einen richtig guten Mann wäre ich nicht gut genug, und Darryl ist wirklich kein schlechter Mann.«
Ich wusste genau, was sie meinte.
Darryl arbeitete nachts als Manager eines kleinen Flugplatzes am Rand von Reno, die Art Flugplatz, die gern von Spielern und anderen Übeltätern mit Unmengen Bargeld genutzt wurde, weil sie auf ihren Reisen Diskretion zu schätzen wussten. Wie er an diesen Job gekommen war, blieb ein Rätsel. Er kannte sich nicht besonders gut aus mit der Fliegerei oder Arbeit an sich. Er lud uns ein mitzukommen, so als fürchte er, dass Carolina, wenn er sie aus den Augen ließe, verschwinden könnte. Ein Freund von ihm, Cooper, würde Bier und ein bisschen Gras mitbringen. Während der Fahrt zum Flugplatz saß ich auf dem Rücksitz und betrachtete die Sommersprossen auf seinem Nacken, die sich in einem ausladenden V vom Haaransatz zur Wirbelsäule zogen. Als Carolina sich an ihn schmiegte, als wären sie nie getrennt gewesen, sah ich weg.
»Hast du eigentlich nichts zu tun?«
Er drehte sich um und grinste mich an. »Nicht so viel, weil ja jetzt ihr zwei Ladys da seid, um mir zu helfen.«
»Du könntest mich einfach zum Motel zurückbringen.«
Carolina drehte sich um. »Wenn du zurückwillst, will ich auch zurück«, sagte sie scharf. »Du kennst unsere Abmachung.«
»Seid ihr zwei immer noch so eng wie diese komischen Zwillinge, wie heißen sie noch, wie die Katzen?«
Ich steckte den Finger in ein Loch an der Rückseite des Fahrersitzes. »Siamesische?«
Darryl schlug aufs Lenkrad und hupte. »Siamesische, genau, das ist es.«
Ich nickte, und Carolina drehte sich wieder nach vorn. »Ja, so was in der Art sind wir.«
Wir waren einmal jung.
Wohin Carolina auch ging, ich folgte ihr. Wir waren nur ein Jahr auseinander, ein unerheblicher Abstand. Nach meiner Geburt zogen unsere Eltern weg aus Los Angeles. Mit zwei Töchtern fanden sie es angebrachter, irgendwo zu leben, wo es ruhiger und sicherer war. Wir landeten in der Nähe von Carmel in einem Bauprojekt aus Einfamilienhäusern im spanischen Stil, umgeben von hohen Eichen.
Ich war zehn und Carolina elf. Wir waren auf dem kleinen Parkplatz, der an den Park in der Nähe unseres Grundstücks grenzte. Dort stand ein Lieferwagen mit einem seitlich aufgemalten Nachthimmel – leuchtende Blautöne gespickt mit perfekten weißen Lichtpunkten, wunderschön. Ich wollte die hellen Sterne berühren, die sich von der Vorderseite des Wagens bis zum Heck zogen. Carolinas Freundin Jessie Schachter gesellte sich zu uns, und die beiden unterhielten sich. Das Auto war warm unter meiner Handfläche, so warm. Ich hatte immer geglaubt, Sterne seien kalt. Die Sterne gerieten auf einmal in Bewegung, und die Tür wurde mit einem Ruck geöffnet. Ein Mann, älter als mein Vater, hockte geduckt in der Öffnung und starrte mich an, mit einem seltsamen Lächeln auf seinen dünnen Lippen.
Er packte mich an den Trägern meiner Latzhose und zog mich in den Lieferwagen. Ich versuchte zu schreien, aber er hielt mir den Mund zu. Seine Hand war schweißig, schmeckte nach Motoröl. Carolina hörte, wie ich mich abmühte, Luft zu schnappen. Statt wegzurennen, rannte sie direkt auf den Lieferwagen zu und stürzte sich mit ihrem kleinen Körper hinein, neben uns. Ihr Gesicht war vor lauter Konzentration völlig verzerrt. Der Mann hieß Mr. Peter. Er schloss rasch die Tür und fesselte uns an Handgelenken und Knöcheln.
»Keinen Mucks«, sagte er, »oder ich töte eure Eltern und alle eure Freundinnen.« Seine Finger unterstrichen jedes Wort.
Mr. Peter setzte uns sechs Wochen später an einem Krankenhaus in der Nähe von zu Hause ab. Wir standen am Eingang der Notaufnahme und sahen ihn wegfahren, sahen die leuchtenden Sterne seines Wagens verschwinden. Ich umklammerte Carolinas Hand, als wir zu einem Schalter mit einem Schild gingen, auf dem ANMELDUNG stand. Wir waren kaum groß genug, um über die Theke des Schalters blicken zu können. Ich schwieg, sollte noch lange schweigen. Carolina sagte der Dame leise unsere Namen. Sie wusste, wer wir waren, zeigte uns sogar einen Flyer mit unseren Fotos und unseren Namen und der Farbe unserer Augen und Haare, was wir getragen hatten, als man uns das letzte Mal gesehen hatte. Mir wurde schwindlig, ich schwankte und erbrach mich über die Theke. Carolina zog mich an sich. »Wir brauchen ärztliche Hilfe«, sagte sie.
Später rannten unsere Eltern in die Notaufnahme und riefen wie wild nach uns. Sie versuchten, uns zu umarmen, aber wir wehrten uns. Sie sagten, wir sähen so dünn aus. Sie saßen zwischen unseren Krankenhausbetten, damit sie nahe bei uns beiden waren. Sie fragten Carolina, warum sie in den Lieferwagen gesprungen sei, statt Hilfe zu holen. Sie sagte: »Ich konnte meine Schwester nicht alleinlassen.«
Nach der Entlassung wurden wir von Polizisten in einen Raum mit kleinen Tischen und kleinen Stühlen geführt, mit Ausmalbüchern und Stiften, als bräuchten wir Sachen für Kinder.
Als ich wieder in die Schule ging, waren drei Monate vergangen. In der ersten Stunde saß ich da und wartete, bis Mrs. Sewell die Anwesenheitsliste abhakte. Als sie fertig war, ging ich aus dem Klassenzimmer, und sie rief hinter mir her. Ich ging in Carolinas Klassenzimmer, ich saß auf dem Boden neben ihrem Pult und lehnte den Kopf an ihr Bein. Ihre Lehrerin hielt einen Moment inne und redete dann weiter. Egal, was man sagte oder tat, ich ging immer in Carolinas Klasse. Die Lehrer wussten nicht, was sie machen sollten, bis die Schule mich schließlich eine Klasse überspringen ließ. Meine Schwester war der einzige Ort, der für mich Sinn ergab.
Auf dem Flugplatz folgten wir Darryl hinein in den kleinen Terminal. Ein langes Fenster ging zum Rollfeld hinaus. Er zeigte uns einen kleinen Wartebereich – drei u-förmig angeordnete Bänke. »Das ist die VIP-Lounge«, sagte er lachend. Er zeigte uns ein Büro, vollgestopft mit staubigem Papier, orangeroten Absperrkegeln, Kopfhörern und einem Haufen Zeug, aus dem ich nicht schlau wurde. Carolina und ich saßen in dem Wartebereich, während Darryl irgendetwas erledigte. Ein paar Minuten später sagte er: »Geht mal ans Fenster. Ich zeig euch was.« Wir standen herum, und ich beugte mich vor. Plötzlich gingen auf dem ganzen Flugfeld lange Reihen blauer Lichter an. Es verschlug mir den Atem. Es fühlte sich gut an, von so viel unerwarteter Schönheit umgeben zu sein.
Darryl schlich sich an und umarmte uns von hinten. »Ist das nicht ein herrlicher Anblick, meine Damen?«
Etwas später hielt ein Schwerlastwagen vor dem Fenster.
Darryl fing an, auf und ab zu springen und die Arme zu schwenken. »Da ist mein Freund Cooper. Jetzt müssen wir feiern.« Er rannte hinaus, um ihn zu begrüßen. Sie umarmten sich und schlugen sich gegenseitig heftig auf den Rücken, wie es Männer tun, wenn sie zeigen wollen, dass sie sich mögen. Sie sprangen auf die Motorhaube und tranken Bier.
Ich drehte mich zu meiner Schwester um. »Was zum Teufel machen wir hier, Carolina?«
Sie verfolgte Darryls lebhafte Silhouette hinter dem Glas. »Ich weiß, wer er ist. Ich weiß genau, wer er ist. Ich muss mit jemandem zusammen sein, den ich hundertprozentig verstehe.« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Carolina log, aber sie würde mir die Wahrheit nicht sagen, bis sie dazu bereit war.
Sie rannte zum Laster, und die Jungs rückten voneinander ab, sodass sie zwischen ihnen sitzen konnte. Ich sah ihr dabei zu, als sie ein Bier aufmachte und ihr der Schaum ins Gesicht spritzte. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Ich beneidete sie. Ich verstand nicht das Geringste, was Spencer betraf, nicht einmal nach fast zwei Jahren. Ich wollte wissen, wie er darüber dachte. Er nahm nach dem ersten Läuten ab.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte ich. »Ich muss mit jemandem zusammen sein, den ich verstehe.«
Spencer räusperte sich. »Passen Sie gut auf, was ich sage, denn ich wähle meine Worte sehr sorgfältig, und ich wiederhole mich nie. Ich habe Ihnen meinen Namen genannt, so viel zum Wer.«
Ich konnte seine Beschränktheit keinen Augenblick länger ertragen. »Weißt du was, Spencer? Auf Wiedersehen.«
Ich legte auf, bevor ich mir die nächste Dummheit von ihm anhören musste.
Ich ging zu meiner Schwester und Darryl und seinem Freund auf die Rollbahn hinaus. Carolina lächelte und warf mir ein Bier zu. »Wie geht’s dem Video-Verkäufer?«
»Wir sind nicht mehr zusammen.«
Carolina warf ihre Arme über den Kopf und schrie. Dann krabbelte sie die Windschutzscheibe hoch und stellte sich auf das Führerhaus und rief, ich solle zu ihr kommen. Cooper griff in die Kabine und drehte das Radio lauter. Wir tranken und tanzten auf dem Führerhaus, während die Jungs unter uns einen Joint rauchten. Es wurde dunkler, aber wir tanzten weiter. Schließlich wurden wir müde und kletterten hinunter in das Bett in der Kabine. Die Nacht war noch warm, und wir sahen zu den Sternen hoch. Ich wollte weinen.
Carolina drehte sich zu mir. »Weine nicht«, sagte sie.
»Wir fahren nicht nach Hause, oder?«
Sie nahm mein Gesicht in beide Hände.
Ich wachte auf und blinzelte. Meine Augen waren trocken, und mein Mund war trocken. Mein Gesicht war trocken, die Haut spannte. Die Wüste war in meinem ganzen Körper. Ich setzte mich langsam auf und sah mich um. Ich war wieder in meinem Zimmer im Motel – der nasskalte Geruch war unerträglich. Ich legte eine Hand an den Brustkorb. Ich war noch angezogen. Die Tür zu Darryls Zimmer stand offen, und Darryl schlief, auf dem Bauch, und einer seiner langen Arme hing über den Bettrand. Carolina saß angelehnt an das Kopfteil im Bett und löste mit der Brille auf der Nasenspitze ein Kreuzworträtsel.
»Du hast nicht lange geschlafen.«
»Wie lange sind wir schon hier?«
Sie warf dem Wecker auf dem Nachttisch einen Blick zu. »Ein paar Stunden.« Sie legte ihr Kreuzworträtsel zur Seite und führte mich in mein Zimmer zurück. Sie half mir aus meiner Jeans und zog mir ein sauberes T-Shirt über den Kopf. Sie wusch mein Gesicht mit einem kühlen Waschlappen und legte sich neben mich ins Bett.
Ich drehte mich um und sah sie an. »Du solltest schlafen.«
Sie nickte, und ich zog die Decke hoch und steckte sie um uns fest. »Du passt auf«, flüsterte sie.
Meine Brust wurde fest. »Pst«, sagte ich. »Pst.«
Ich starrte die Decke an, die vom Alter vergilbt und voller Wasserflecken war. Carolina schnarchte leise. Als mir langweilig wurde, schaltete ich den Fernseher an und sah eine Doku über Seekühe vor der Küste von Florida, erfuhr, dass sie durchschnittlich zwei Meter siebzig lang sind und ihr Tod meist auf den Kontakt mit Menschen zurückzuführen ist. Als der Naturforscher das sagte, legte der Interviewer eine kleine Pause ein. »Der Mensch steht immer im Weg«, sagte er dann gewichtig.
Wir waren einmal jung, und dann waren wir es nicht mehr.
Mr. Peter fuhr eine lange Zeit. Wir waren so klein und hatten so viel Angst. Das reichte, damit wir uns still verhielten. Als das Auto zum Stehen kam, waren wir an einem Ort, den wir nicht kannten. Mr. Peter sagte nicht sehr viel, seine Hände hielten uns am Hals im Klammergriff, als er uns vom Lieferwagen in ein Haus führte. Er brachte uns in ein Zimmer mit zwei Einzelbetten. Die Tapete war übersät mit kleinen Bären mit blauen Fliegen um den Hals und hatte eine hellblaue Umrandung. Es gab keine Fenster. Es gab nichts in diesem Zimmer, außer den Betten und den Wänden, unseren Körpern und unserer Angst. Er verließ uns kurz, schloss die Tür ab. Carolina und ich saßen auf der Kante des Bettes, das am weitesten von der Tür entfernt war. Wir sagten nichts, unsere dünnen Beine berührten sich, zitterten. Als Mr. Peter zurückkam, warf er mir ein Seil zu.
»Fessle sie«, sagte er. Ich zögerte, und er kniff mich brutal in die Schulter. »Lass mich nicht warten.«
»Entschuldigung«, flüsterte ich, als ich das Seil um Carolinas Handgelenke legte, locker.
Mr. Peter stieß mich mit dem Fuß an. »Fester.«
Carolina fing an, draufloszuplappern, und ihre Stimme wurde immer schriller, als ich das Seil zusammenzog. Ihre Lippen waren nass von Tränen und Spucke. »Nehmen Sie mich«, bettelte sie. »Nehmen Sie bitte mich.« Er sagte nein. Als ich fertig war, zog er am Seil. Er war zufrieden und zog mich an meinem T-Shirt zu sich. Carolina stand da und hielt meine Hände. Ihre Fingerspitzen waren hellrot, die Knöchel weiß. Als Mr. Peter mich aus dem Zimmer zerrte, packte sie mich noch fester, bis er sie schließlich wegstieß. Ich starrte und starrte, als die Tür sich schloss. Meine Schwester drehte durch. Sie kreischte und warf sich immer wieder gegen die Tür.
Mr. Peter brachte mich in ein anderes Zimmer mit einem Bett, das so groß war wie das meiner Eltern. Es gab eine Kommode mit nichts darauf, keine Fotos, nichts, und Carolina schrie immer noch und warf sich gegen die Tür, ein Geräusch aus weiter Ferne.
»Wir können Freunde sein oder Feinde«, sagte Mr. Peter.
Das verstand ich nicht und verstand es doch; durch die Art, wie er mich ansah und sich immer wieder die Lippen leckte.
»Werden Sie meiner Schwester wehtun?«
Er lächelte. »Nicht, wenn wir Freunde sind.«
Er zog mich an sich, rieb seinen Daumen über meinen Mund. Ich wollte wegschauen. Seine Augen waren nicht normal, sie sahen nicht aus wie Augen. Ich schaute nicht weg. Er stieß mir gewaltsam seinen Daumen in den Mund. Ich dachte daran zuzubeißen. Ich dachte daran zu schreien, ich dachte an meine Schwester, allein in einem weit entfernten Zimmer, mit gefesselten Händen, und was er ihr antun würde, ihr, mir, uns. Ich verstand nicht, warum sein Daumen in meinem Mund war. Mein Kinn zitterte. Ich biss nicht zu.
Mr. Peter zog eine Augenbraue hoch. »Freunde«, sagte er. Er zog mich an sich. Mein Körper löste sich auf.
Später brachte er mich wieder in das andere Zimmer. Carolina lag zusammengekrümmt an der hinteren Wand. Als sie uns sah, raste sie auf ihn zu, rauschte in seine Knie.
Er lachte und stieß sie weg. »Mach keinen Ärger. Ich und deine Schwester sind gerade dabei, gute Freunde zu werden.«
»Na klar«, sagte Carolina und warf sich ihm wieder entgegen.
Er schmetterte sie ab und warf eine Schachtel mit Fruchtbonbons auf den Boden und ließ uns allein. Als wir ihn weggehen hörten, sagte mir Carolina, ich solle sie losmachen. Ich stand in der Ecke, wollte uns mit den Wänden umhüllen.
Meine Schwester beobachtete mich lange. »Was hat er gemacht?«
Ich blickte auf meine Schuhe.
»O nein«, sagte sie leise, so leise.
Unsere Tage liefen immer gleich ab – erst trieben wir uns in Reno herum, und abends gingen wir mit Darryl auf den Flugplatz. Manchmal ließ er uns mit Apparaten spielen, die wir eigentlich gar nicht anfassen durften. Wenn Flugzeuge landeten, standen wir am Rand des Rollfelds und streckten die Arme in die Luft, als wollten wir nach den Flügeln greifen. Wenn die Flugzeuge ausrollten, rannten wir hinter ihnen her, als könnten wir sie einfangen.
Spencer meldete sich nie mehr und unternahm nichts Großartiges, um mich zurückzugewinnen. Es war mir egal. Unsere Eltern waren lange daran gewöhnt, dass Carolina und ich immer der anderen folgten. Sobald sie wussten, dass wir in Sicherheit waren, schickten sie uns alle paar Tage eine SMS, um uns daran zu erinnern, dass sie uns liebten und dass wir anrufen sollten, wenn wir irgendetwas brauchten. Sie verstanden uns nicht. Sie kannten die Mädchen nicht, die von Mr. Peter nach Hause zurückkehrten.
Eines Morgens konnte ich nicht schlafen und entdeckte Darryl im Bett, wie er auf die schlafende Carolina aufpasste. Ich legte mich neben sie, und er sah mich über die schmale Gestalt meiner Schwester hinweg an.
Es war, als wüsste er genau, was ich dachte. »Ich bin nicht mehr so wie damals«, sagte er. »Ich bin jetzt erwachsen, und ich will treu sein.« Er küsste meine Schwester auf die Schulter. Ich nickte und schloss die Augen.
Jeden Tag kam Mr. Peter und ließ mich meine Schwester fesseln. Er brachte mich in das andere Zimmer. Er nahm sich von meinem Körper, was er wollte. Carolina wurde wahnsinnig, weil sie jedes Mal zu mir durchzudringen versuchte, jedes Mal aus mir herausbekommen wollte, was passiert war. Ich konnte nicht.
Für sie war es schlimmer, bis Mr. Peter sie zwang, mich zu fesseln. Ich schrie, bis meine Kehle wund war. Ich spuckte ihm Blut auf die Füße. »Wir sind doch Freunde geworden«, sagte ich. »Sie haben es versprochen.«
Er lachte. »Deine Schwester wird auch bald meine Freundin sein, Kleines.«
Während sie weg war, warf ich mich gegen die Tür, verletzte meinen Körper vor lauter Wut, rief ihren Namen. Ich wusste zu viel. Als er sie zurückbrachte, humpelte sie zu mir und machte mich los. Wir saßen auf dem Boden. Sie sagte: »So ist es besser, gerechter«, aber sie weinte und ich weinte, und wir hatten keine Ahnung, wie wir damit aufhören sollten.
Danach holte uns Mr. Peter jeden Tag, manchmal sogar öfter als einmal am Tag. Manchmal waren andere Männer da. Manchmal lagen wir nebeneinander auf seinem großen Bett und sahen uns an, und wir wendeten den Blick kein einziges Mal ab, egal, was sie uns antaten. Wir bewegten die Lippen und sagten Dinge, die nur wir hören konnten. In einem kleinen Bad mit einer meergrünen Wanne ließ er uns Wasser ein, und wir saßen uns gegenüber, mit an die Brust gezogenen Knien. Er wollte uns nicht einmal allein lassen, damit wir uns saubermachen konnten. Durch ihn schrumpfte unsere gesamte Welt auf die fensterlosen Zimmer in seinem Haus zusammen, wo er immer gegenwärtig war.
Der Geruch des Blue Desert Inn machte mich wahnsinnig. Die Luft war muffig und furchtbar stickig. Sie lastete auf meiner Haut und meinen Kleidern und meinen Zähnen. Eines Morgens sah ich eine Kakerlake, die gemächlich über den Fernseher kroch, und flippte aus. Ich stürmte in Darryls Zimmer und fand meine Schwester zusammengerollt in seinen Armen. Er strich ihr übers Haar. Ich sah weg, mein Gesicht wurde heiß. So viel Intimität zwischen ihnen hatte ich nicht für möglich gehalten.
»Ich bleibe keinen Tag länger hier.«
Carolina setzte sich auf. »Ich will nicht nach Hause.« Ihr scharfer Tonfall sorgte dafür, dass sich mein Herz zusammenzog.
Ich war bereit, mit ihr zu streiten, aber sie sah so müde aus. »Wir können irgendwo hinfahren, wo es schöner ist.« Mit ein paar abfälligen Handbewegungen erfasste ich das ganze Zimmer. »So werden wir jedenfalls nicht leben.«
Sie berührte Darryls Brust mit dem Zeigefinger. »Was ist mit ihm?«
»Spielt ihr zwei nicht schon Vater-Mutter-Kind?«
Carolina grinste. Darryl streckte den Daumen hoch.
Als wir vom Parkplatz des Blue Desert Inn fuhren, stand auf dem Schild: ZI MER F.
Die Polizei fasste Mr. Peter, als wir fünfzehn und sechzehn Jahre alt waren. Sein Name war Peter James Iversen. Seine Frau und zwei Söhne wohnten in dem Haus vor dem Haus, in dem er uns gefangen hielt. Die Behörden fanden Videos. Wir hatten keine Ahnung. Zwei Polizisten kamen zu uns. Carolina und ich saßen auf der Couch. Die Polizisten redeten. Wir machten keinen Mucks. Sie erzählten uns von den Videos; sie hatten sie gesehen. Ich beugte mich vor, die Stirn berührte meine Knie. Carolina legte mir die Hand auf den Rücken. Unsere Eltern standen an der Seite, sie schüttelten langsam den Kopf. Als ich mich wieder aufsetzte, konnte ich nichts hören. Die Polizisten redeten weiter, aber ich dachte nur Irgendwelche Leute haben Videos gesehen. Ich stand auf und ging aus dem Zimmer. Ich ging aus dem Haus. Carolina kam mir hinterher. Am Ende der Einfahrt blieb ich stehen. Wir beobachteten den Verkehr.
»Echt zum Kotzen«, sagte sie.
Ein Kabrio raste vorbei. Auf dem Beifahrersitz war eine Frau, und ihr rotes Haar flatterte vor ihrem Gesicht in der Luft. Sie lächelte mit einem Mund voll weißer Zähne.
»Dieser Dreckskerl«, sagte ich.
Wir gingen ins Haus zurück und sagten, wir wollten die Videos sehen. Zuerst weigerten sich die Polizisten und unsere Eltern, aber schließlich bekamen wir, was wir wollten. Ein paar Tage später saßen wir nebeneinander in einem kleinen, fensterlosen Raum mit einem Fernseher und einem Videorekorder auf einem Rollwagen. Besorgte Erwachsene wichen uns nicht von der Seite – ein Polizist, eine Art Sozialarbeiterin, eine Anwältin.
»Unsere Eltern dürfen das nie sehen«, sagte Carolina. »Niemals.«
Der Polizist nickte.
Stundenlang sahen wir Schwarz-weiß-Videos von den Mädchen, die wir einmal gewesen waren, und von dem, wozu wir gemacht wurden. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, damit ihm kein Laut entwich. Nach einer besonders verstörenden Szene sagte der Polizist: »Ich glaube, das reicht jetzt.« Carolina sagte: »Dort zu sein war schlimmer.« Als wir fertig waren, fragte ich, ob man die Videos vernichten könnte. Das war das Einzige, was wir wollten. Niemand sah uns in die Augen. Beweismittel, sagten sie. Als wir die Polizeiwache verließen, drohten meine Beine nachzugeben. Carolina ließ nicht zu, dass ich hinfiel.
Der Prozess ging schnell. Es gab zu viele Beweismittel. Mr. Peter bekam lebenslang. Es gab noch einen Zivilprozess, weil er Geld hatte, und unsere Eltern sagten, dass sein Geld uns gehören sollte. Wir sagten beide aus. Ich zuerst. Ich versuchte, nicht zu ihm hinzusehen. Er saß neben seinem Anwalt, beide in blauen Anzügen und mit akkurat geschnittenen Haaren. Die Worte verfaulten auf meiner Zunge. Carolina trat für ihre Zeugenaussage vor. Wir erzählten dort so viel von der Geschichte, wie wir je erzählen würden. Als sie fertig war, sah sie mich an, mit besorgten, glühenden Augen. Sie sah auf ihre Hände, war fahrig. Im Gerichtssaal war es still, bis auf ein gelegentliches Papierrascheln oder wenn sich ein Körper auf der Tribüne nach rechts oder links lehnte. Der Richter entließ Carolina, aber sie rührte sich nicht. Sie schüttelte den Kopf und umklammerte das Geländer vor ihr. Ihre Unterlippe zitterte, und ich blieb stehen. Der Richter beugte sich zu meiner Schwester vor, sah zu ihr hinunter, dann hustete er und ließ den Saal räumen. Ich ging zu ihr. Ich roch etwas Scharfes, ihre Angst, und noch etwas. Ich sah hinunter, sah ein nasses Muster auf ihrem Rock, an ihrem Oberschenkel entlang. Sie hatte sich eingenässt. Sie zitterte am ganzen Körper.
Ich nahm ihre Hand, drückte sie. »Kein Problem. Das kriegen wir wieder hin.«
»Kommt mit«, sagte der Richter. Wir erstarrten. Ich stand vor meiner Schwester, und sie vergrub ihr Gesicht in meinem Rücken, und ihre zitternden Arme umschlangen meine Taille. Ich sorgte dafür, dass sie nicht fiel. Das Gesicht des Richters wurde rot. »Nicht so«, stotterte er. »Im Richterzimmer gibt es eine Toilette.«
Wir folgten ihm argwöhnisch. In der Toilette rührte sich Carolina nicht, sagte nichts. Ich half ihr, Rock und Unterwäsche auszuziehen. Ich wusch sie, so gut es ging, mit Flüssigseife und Papierhandtüchern.
Etwas später klopfte es, und unsere Mutter flüsterte: »Kinder, ich habe frische Sachen dabei.«
Ich öffnete die Tür, nur einen Spalt. Meine Mutter stand da, im Sonntagskleid, mit einer Perlenkette um den Hals. Ich streckte die Hand nach der Plastiktüte aus, und als sie sie mir gab, ergriff sie sanft mein Handgelenk.
»Kann ich helfen?«
Ich schüttelte den Kopf und zog mich zurück. Ich schloss die Tür. Ich zog meine Schwester an. Ich wusch ihr Gesicht. Meine Stirn berührte ihre, und ich flüsterte ihr sanft die Worte ins Ohr, die ich ihr jedes Mal sage, wenn sie sich verschließt.
Auf der Rückfahrt saßen wir hinten im Auto. Unsere Eltern sahen geradeaus. Als wir in unsere Straße einbogen, räusperte sich unser Vater und versuchte, fröhlich zu klingen. »Wenigstens ist es jetzt vorbei.«
Ein hässliches Geräusch kam aus Carolinas Mund.
Mein Vater umklammerte das Lenkrad noch fester.
Das neue Hotel war viel schöner. Es gab Zimmerservice und täglich frische Wäsche und viele Extras. Darryl stolzierte in ihrem Zimmer herum, und ich saß mit Carolina auf meinem Bett, und wir studierten eine dicke Ledermappe mit dem detaillierten Angebot der Vorzüge des Hotels. Es hatte einen Pool, ein Jacuzzi und eine Sauna.
Als wir die Karte des Zimmerservice studierten, berührte ich Carolinas Arm. »Was genau ist eigentlich los? Keine faulen Ausreden mehr.«
»Ich bin einfach eines Tages mit dem Gedanken aufgewacht, dass wir diese Stadt nie verlassen haben, und wofür?«
»Sie haben Toast mit Zimt und Zucker.« Ich zeigte auf das farbige Bild einer dicken getoasteten Brotscheibe mit Puderzucker.
Carolina holte ihr Portemonnaie und zog einen Umschlag heraus. In der linken oberen Ecke stand JUSTIZ. Sie glättete den Brief.
»Nein«, sagte ich, aber es klang wie drei Wörter.
Ihre Hand zitterte, bis sie sie zu einer Faust ballte. Ich fing an zu lesen, dann nahm ich den Brief und sprang vom Bett, las wieder, drehte den Brief um.
»Flipp nicht aus«, sagte Carolina.
Ich schlug um mich, in die Luft. Ich legte den Brief auf den Nachttisch und fing an, meinen Kopf gegen die Wand zu knallen, bis ein dumpfes Pochen durch den Knochen meines Schädels feuerte.
Carolina war neben mir und packte mich an den Schultern. »Sieh mich an.«
Ich biss mir auf die Lippe.
Sie schüttelte mich heftig. »Sieh mich an.«
Schließlich hob ich das Kinn. Die besten und die schlimmsten Momente meines Lebens erlebte ich, während ich meiner Schwester in die Augen sah. »Du hast uns hierher geführt, weil es ein Versteck ist«, sagte ich. »Du hättest mir die Wahrheit sagen sollen.«
Carolina beugte sich vor und trocknete meine Tränen mit ihren Haaren. Sie saß neben mir, und ich sah, wie sie mit elf war, wie sie sich in den Schlund von etwas Schrecklichem gestürzt hatte, damit ich nicht allein blieb. »Das ist die Wahrheit – er kennt meine Adresse, und er hat diesen Brief geschrieben, und das heißt, er kann uns finden. Ich will nie mehr dorthin zurück«, flüsterte sie. »Ich will nicht, dass er uns je wieder findet.«
Das Gericht sprach uns eine Menge Geld zu, so viel Geld, dass wir nie mehr arbeiten oder irgendwelche Wünsche unerfüllt bleiben müssten. Lange weigerten wir uns, es auszugeben. Jeden Abend checkte ich im Internet meinen Kontostand und dachte So viel war mein Leben wert.
Meine Schwester und ich fuhren mit Darryl zur Arbeit. Wir saßen auf dem Rücksitz, und er fuhr.
»Ihr zwei seid schrecklich still«, sagte er, als wir den Flugplatz erreichten.
Ich erwiderte seinen Blick im Rückspiegel. Ich wollte etwas sagen, aber mir versagte die Stimme. Carolina gab ihm den Brief von Mr. Peter. Beim Lesen murmelte Darryl vor sich hin.
Als er ihn zu Ende gelesen hatte, drehte er sich zu uns um. »Ich sehe vielleicht nicht aus wie ein richtiger Kerl, aber dieser Kotzbrocken wird euch hier nicht wehtun, und er wird euch auch nicht finden.«
Er faltete den Brief sorgfältig zusammen und gab ihn Carolina zurück. Da wusste ich, warum sie zu ihm zurückgegangen war.
Während er arbeitete, lagen meine Schwester und ich auf dem Rollfeld zwischen zwei parallelen Linien blinkender blauer Lichter. Der Asphalt war noch warm, und der Boden trug uns. Unsere Körper leuchteten eigentlich auch.
Mr. Peter war auf Kaution frei, und Mr. Peter war ein anderer Mensch. Mr. Peter musste beweisen, dass er ein anderer Mensch war, und um das zu beweisen, benötigte Mr. Peter unsere Hilfe. Mr. Peter hatte zu Gott gefunden. Mr. Peter wünschte sich unsere Vergebung. Mr. Peter benötigte unsere Vergebung, damit er auf Kaution freikam. Mr. Peter taten die schrecklichen Dinge leid, die er uns angetan hatte. Mr. Peter konnte zwei hübschen kleinen Mädchen nicht widerstehen. Mr. Peter wollte uns unbedingt haben, er kam nicht dagegen an. Mr. Peter war jetzt ein alter Mann, er konnte keinem kleinen Mädchen mehr etwas antun. Mr. Peter bettelte uns um unsere Vergebung an.
Wir waren einmal jung.
Ich war zehn, und Carolina war elf. Wir bettelten Mr. Peter um alles an – Essen, frische Luft, einen Moment allein mit heißem Wasser. Wir bettelten ihn um Gnade an, um eine Unterbrechung für unsere Körper, bevor sie völlig gebrochen waren. Er erhörte uns nicht. Wir lernten, mit dem Betteln aufzuhören. Er würde es auch lernen, oder eben nicht. Es war egal.
Carolina zog den Brief aus ihrer Tasche und hielt eine Ecke an die Flamme eines Feuerzeugs, bevor sie das brennende Blatt Papier in die Luft warf. Wir streckten uns auf dem Rollfeld aus und hielten uns an den Händen. Die Flamme brannte weiß, dann fiel sie in sich zusammen. Die Asche sank langsam zu Boden, schwebte auf unsere Kleidung zu, unsere Gesichter, unsere tauben Ohren, unsere tonlosen Zungen.