KAPITEL 9
Chicago, Illinois, Montag, 18. Juli 2016
Tatum hatte eigentlich vorgehabt, sich auf dem Polizeirevier mit Zoe zu treffen, beschloss dann jedoch im letzten Augenblick, sie vom Flughafen abzuholen, damit er kurz mit ihr sprechen konnte, bevor sie Lieutenant Martinez und seinen falschen Profiler kennenlernte. Es war ratsam, dafür zu sorgen, dass sie von Anfang an auf derselben Seite standen. Während er auf sie wartete, rief er Marvin an, um sich zu vergewissern, dass es dem alten Mann gut ging.
»Wie sollte es mir denn gut gehen, Tatum? Du hast mir aufgetragen, mich um diese Bestie zu kümmern. Sie hat mich schon zweimal gekratzt.«
»Ich wollte wissen, wie es dir abgesehen von Freckle geht. Wie fühlst du dich? Hast du daran gedacht, deine Tabletten zu nehmen?«
»Ich nehme diese Tabletten jetzt schon seit neun Jahren, Tatum. Glaubst du, ich würde plötzlich damit aufhören, nur weil du in Chicago bist? Selbstverständlich habe ich meine Tabletten genommen.«
»Gut. Was ist mit …«
»Die blaue nehme ich allerdings nicht mehr, und das habe ich dir auch erzählt. Davon bekomme ich immer so ein Kratzen im Hals.«
»Was? Wann?«
»Letzte Woche. Ich habe es dir gesagt, Tatum. Erinnerst du dich nicht mehr daran?«
»Davon hast du mir nichts erzählt.« Das gefiel Tatum überhaupt nicht. »Hast du mit Dr. Nassar darüber gesprochen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Jenna ist auch der Meinung, dass ich sie nicht länger nehmen sollte.«
Tatum brauchte einen Augenblick, bis ihm wieder einfiel, dass Jenna die Freundin seines Großvaters war, die gern mal Kokain schnupfte. »Ist sie Ärztin?«
»Nein, aber sie hatte vor einem Jahr dasselbe Problem. Ihr Arzt hat ihr ein anderes Medikament verschrieben. Sie hat noch einige Tabletten, die ich jetzt nehme.«
»Das kannst du doch nicht machen, Marvin. Sprich mit Dr. Nassar …«
»Dr. Nassar hat viel zu tun, Tatum. Und die grünen sind super, die haben nicht mal Nebenwirkungen …«
»Welche grünen?«
»Die, die ich von Jenna bekomme.«
»Haben die Tabletten auch einen Namen? Was genau nimmst du da?«
»Daran erinnere ich mich nicht, Tatum, aber mach dir keine Sorgen. Jenna hat mir versichert, dass das kein Problem ist. Sie hatte dieselben Nebenwirkungen und …«
Tatum entdeckte Zoe, die zusammen mit Hunderten anderer Menschen das Terminal verließ. Sie ging auf direktem Weg zum Ausgang und zog ihren grauen Rollkoffer hinter sich her.
»Ich muss auflegen, Marvin. Nimm deine verdammten Pillen, auch die blauen, von denen du dieses Halskratzen bekommst. Und lass die Finger von dem Zeug, das Jenna dir gibt. Ruf Dr. Nassar an. Er wird dir ein anderes Medikament verschreiben.«
»Ich habe alles, was ich brauche.«
»Wenn du Dr. Nassar nicht anrufst, mache ich es.«
»Du bist eine echte Nervensäge, Tatum.«
»Nimm deine Tabletten. Und vergiss nicht, den Fisch zu füttern. Mach’s gut.« Er beendete das Gespräch und hastete Zoe hinterher. Als er sie eingeholt hatte, tippte er ihr auf die Schulter.
»Dr. Bentley.« Er schenkte ihr ein Lächeln und versuchte, vorerst nicht an Marvin und die grünen Pillen zu denken.
»Agent Gray. Ich dachte, wir wollten uns auf dem Polizeirevier treffen.«
»Das war so vereinbart, aber ich habe mir gestern einen Mietwagen genommen und dachte, ich hole Sie ab, dann müssen Sie kein Taxi nehmen.«
»Danke, das ist sehr nett von Ihnen.«
Sie schien gut gelaunt zu sein. Vielleicht war sie ja froh darüber, zur Abwechslung mal aus dem Büro rauszukommen. Bei diesem Gedanken fühlte sich Tatum gleich viel wohler damit, dass er sie hatte herfliegen lassen.
»Sollen wir zuerst frühstücken gehen?«, schlug er vor. »Nicht weit von hier ist ein Restaurant, das Hillary’s Pancake House heißt und online sehr gut abschneidet.«
»Gern«, erwiderte sie, und ihre Augen strahlten. »Ich brauche dringend einen anständigen Kaffee.«
»Na, dann los«, meinte er. »Soll ich Ihnen den Koffer abnehmen?«
»Ist nicht nötig.«
Die Fahrt zu Hillary’s Pancake House dauerte nicht lange. Es war kurz vor der Rushhour, und Chicago wachte gerade erst auf. Das Restaurant sah von außen eher unspektakulär aus und befand sich in einem dreckigen Gebäude mit dunklen Fenstern. Auf dem Schild war eine Frau mit einem glänzenden Tablett voller Pancakes und einem mörderischen Lächeln im Gesicht abgebildet. Doch im Inneren machte es einen besseren Eindruck und strahlte mit dem Holzmobiliar eine gemütliche Atmosphäre aus. Der Geruch von Frittierfett und Kaffee stieg Tatum in die Nase, und sein Magen knurrte. Die Hälfte der Tische war besetzt, und es waren größtenteils Männer und Frauen anwesend, die für einen Bürojob gekleidet waren, sowie einige schläfrig aussehende Polizisten, deren Nachtschicht vermutlich gerade zu Ende gegangen war.
»Guten Morgen«, begrüßte die Kellnerin sie fröhlich, sobald sie sich gesetzt hatten, und reichte ihnen die Speisekarte. Es war eine junge Blondine mit Pferdeschwanz, und Tatum gab sich große Mühe, ihr in die Augen zu sehen und nicht etwa auf die Brüste, die sich unter ihrer engen Uniform abzeichneten. Sein Blick wanderte aber dennoch nach unten, daher starrte er die meiste Zeit ihre Nase an.
»Möchten Sie sich erst in Ruhe etwas auss…«
»Kaffee, bitte«, unterbrach Tatum sie, bevor sie wieder gehen konnte. »Und die …« Er warf einen kurzen Blick in die Speisekarte und entschied sich für das erste Gericht, das ihm ins Auge fiel, »Und die Apfel-Gewürz-Pancakes.«
»Das Gericht enthält Nüsse. Ist das ein Problem?«
»Nein.«
»Ich nehme Spiegeleier mit Bacon«, sagte Zoe. »Den Bacon bitte extra knusprig.«
»Okay. Möchten Sie auch einen Kaffee?«
»Ja. Sehr starken. Und das ist mein Ernst: Für mich kann der Bacon gar nicht knusprig genug sein.«
Die Kellnerin schenkte ihnen noch ein breites Lächeln und wandte sich ab.
»Hatten Sie einen guten Flug?«, fragte er Zoe.
»Mein Sitznachbar hat versucht, mich anzubaggern, und wurde recht unangenehm, als ich ihm eine Abfuhr erteilt habe«, antwortete Zoe. »Aber abgesehen davon, war es ein angenehmer Flug.«
»Tut mir leid, dass ich Sie so spontan nach Chicago zerren musste, aber ich brauche dringend Ihre Hilfe.«
»Kein Problem. Es scheint ein faszinierender Fall zu sein.«
»Na ja«, Tatum war ihre Wortwahl etwas unangenehm, »er ist auf jeden Fall ungewöhnlich.«
»Das Interessante daran ist meiner Meinung nach die Schlussfolgerung. Der Täter hat offensichtlich nekrophile Tendenzen, und die Einbalsamierung muss den Geschlechtsakt deutlich komplizierter machen, weil …«
»Vielleicht sollten wir das später und an einem weniger öffentlichen Ort besprechen«, erwiderte Tatum hastig, dem nicht entgangen war, dass Zoe die Stimme immer weiter hob, wenn sie sich für ein Thema begeisterte. Die Frau am Nebentisch legte die Gabel laut auf den Teller und bedachte sie mit einem angewiderten Blick.
»Okay.« Zoe nickte und klappte den Mund zu. Wenn sich das Gespräch nicht gerade um Serienmörder drehte, war sie weitaus weniger redselig.
»Ich habe in der Nähe des Polizeireviers ein sauberes Motel entdeckt«, berichtete Tatum. »Und ich war so frei, Ihnen dort für heute auch ein Zimmer zu buchen. Ist das okay, möchten Sie sich lieber nach einem anderen Motel umsehen oder …«
»Super, vielen Dank«, sagte Zoe.
Sie nickten einander zu. Er lächelte gequält, was sie ebenfalls nachmachte. Im Augenblick waren sie die Verkörperung des betretenen Schweigens.
»Ich habe gehört, dass Sie ebenfalls neu bei der BAU sind«, versuchte Tatum, die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen. »Und Sie waren bis vor Kurzem in Boston?«
Zoe nickte. »Ich habe dort einige Jahre lang als Beraterin des FBI gearbeitet. Aber Mancuso war fest entschlossen, mich zur BAU zu holen, und da dies der Traum jedes forensischen Psychologen ist, konnte ich mich wohl kaum weigern.«
»Das kann ich nachvollziehen«, meinte Tatum. »Haben Sie Familie in Boston?«
»Meine Schwester hat früher dort gewohnt«, antwortete Zoe. »Aber sie ist mit mir nach Dale City gezogen.«
»Wirklich?« Tatum musterte sie erstaunt. »Stehen Sie sich so nahe?«
»Ja«, bestätigte Zoe. »Außerdem stand ihr der Sinn nach einer Veränderung. In Boston hat es ihr nie gefallen, und sie hatte dort auch eine Beziehung, die unschön auseinandergegangen ist.«
Es schien ihr unangenehm zu sein, darüber zu sprechen, daher nickte Tatum nur beiläufig und beschloss, nicht nachzufragen.
Sie räusperte sich. »Was ist mit Ihnen? Wie kam es dazu, dass Sie vom Büro in L.A. zur BAU versetzt wurden?«
Die Kellnerin kehrte zurück und stellte Teller und Kaffeetassen auf den Tisch. Tatum war froh, dass er sich ein Stück Pancake in den Mund stecken konnte, damit er nicht genauer auf seine »Beförderung« eingehen musste. Kauend beobachtete er, wie Zoe sich ans Essen machte. Sie brach ein Stück vom Toast und etwas Bacon ab und spießte beides mit der Gabel auf. Dann tauchte sie alles vorsichtig in ein Eigelb und beäugte die Gabel, als hätte sie ein Exemplar einer seltenen Tierart vor sich. Endlich steckte sie sich alles in den Mund, kaute, schloss die Augen und atmete tief durch die Nase ein.
»Und … Schmeckt’s?«, erkundigte er sich.
Erst, nachdem sie den Bissen gekaut und heruntergeschluckt hatte, antwortete sie. »Ja. Aber ich mache den Bacon noch knuspriger.«
Sie schnitt ein Stück vom Eiweiß an, legte einen weiteren Bacon-Brösel darauf und schob sich das Ganze in den Mund. Offensichtlich aß sie sehr langsam. Da das Frühstück eine Weile dauern würde, versuchte Tatum, sich mehr Zeit zu lassen. Er hatte schon ein Drittel seines Frühstücks verspeist, während sie erst zwei Bissen genommen hatte.
»Um noch mal auf den Fall zurückzukommen«, sagte er in dem Versuch, ein sicheres Thema anzuschneiden. »Die Polizei hat einen hiesigen Profiler hinzugezogen, einen Dr. Bernstein.«
Zoe rümpfte angewidert die Nase, als hätte er eine widerliche Hautkrankheit erwähnt. »Oh!«
»Kennen Sie ihn?«
»Ich habe ihn ein paarmal im Fernsehen gesehen.«
»Meiner Ansicht nach taugt er nichts«, gab Tatum zu. »Ich habe bezüglich des Falles einige Ideen, aber die Ermittler wollen nicht auf mich, sondern nur auf ihn hören.«
»Okay.«
»Daher dachte ich, Sie gehen da rein und beeindrucken sie mit Ihren Referenzen. Da Sie Zivilistin sind, wird man garantiert freundlicher mit Ihnen umspringen. Danach könnten Sie mir ein wenig den Rücken stärken, damit wir mit den Ermittlungen vorankommen.«
»Oh!«, murmelte Zoe. »Sie haben sich das ja schon alles genau überlegt. Dann haben Sie offensichtlich eine gute Idee.«
»Mehrere sogar«, bestätigte Tatum.
»Und Sie haben um meine Hilfe gebeten, damit Sie die Konkurrenz loswerden.«
»Nun ja …« Tatum zögerte. »Natürlich möchte ich auch Ihre Meinung hören.«
»Natürlich.«
Irgendwo musste er sich falsch ausgedrückt haben, und er versuchte sofort, seinen Fehler wiedergutzumachen. »Ich habe gehört, Sie hätten im Stokes-Fall richtig gute Arbeit geleistet.«
»Ach ja?«, meinte Zoe desinteressiert und baute sich eine weitere Skulptur aus Bacon, Ei und Toast. »Wie schön. Wer weiß, vielleicht werde ich ja eines Tages noch so gut wie ein richtiger FBI-Agent.«
Tatum seufzte. In letzter Zeit konnte er es offenbar niemandem recht machen.