KAPITEL 11
Tatum versuchte, seinen Fehler zu beheben – das musste Zoe ihm lassen –, aber sie war wütend und weit davon entfernt, sich besänftigen zu lassen. Ihre Arbeit in Quantico war von Bedeutung, aber er zerrte sie einfach von dort weg, damit sie ihm half. Während der restlichen Mahlzeit und der Fahrt zum Polizeirevier blieb sie eisig, und auf dem Revier führte Tatum sie sofort ins Büro der Taskforce und stellte ihr Lieutenant Martinez vor.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte der Lieutenant und schüttelte ihr die Hand. »Ich wusste gar nicht, dass das FBI noch mehr Agenten herschicken würde. Wir haben eigentlich gar keinen Platz für Sie. Als ich das FBI um Hilfe gebeten habe, wäre mir nicht in den Sinn gekommen …«
»Ich bin keine Bundesagentin«, teilte sie ihm rasch mit und schlüpfte in die ihr zugedachte Rolle. »Ich bin forensische Psychologin. Außerdem werde ich nicht lange bleiben, Sie müssen mir also keinen Schreibtisch zuweisen. Ich möchte nur hören, was Dr. Bernstein über diesen Fall zu sagen hat, da mich der Mörder sehr fasziniert.«
»Ach ja?«, fragte Martinez und musterte Tatum misstrauisch. »Kennen Sie Dr. Bernstein?«
»Wie fast alle meine Kollegen habe ich schon von ihm gehört.« Sie schenkte Martinez ein süßliches Lächeln. »Er ist bekannt. Meinen Namen wird er gewiss auch schon gehört haben, daher erwartet uns bestimmt eine interessante Diskussion. Möglicherweise haben wir danach einige neue Schlussfolgerungen.«
»Ich werde ihm Bescheid sagen«, erklärte Martinez.
Zoe wartete, während der Mann telefonierte. Martinez vermutete ganz offensichtlich, dass Tatum sie hergeholt hatte, um den Profiler auszubooten. Das war ein billiger Trick, noch dazu ein sehr durchschaubarer. Da sie nun aber schon mal hier war, konnte sie auch einfach ihre Arbeit machen.
»Okay, großartig. Dann bis gleich«, sagte der Lieutenant und legte sein Handy weg. Er drehte sich zu Zoe um und strahlte sie an. »Sie haben recht. Dr. Bernstein hat bereits von Ihnen gehört, und er freut sich sehr darauf, den Fall mit Ihnen durchzugehen. Er hat das Gebäude gerade betreten. Wir treffen uns mit ihm im Besprechungsraum. Ich werde die anderen Detectives …«
»Wir müssen ihre Zeit noch nicht vergeuden«, warf Zoe hastig ein. »Vorerst sollten wir vier ausreichen, jedenfalls für den Anfang. Vielleicht können wir später eine größere offizielle Besprechung abhalten.«
»Nachher sind sie vermutlich unterwegs.« Martinez runzelte die Stirn. »Gut, dann gehen wir in den Besprechungsraum und hören uns an, was Dr. Bernstein zu sagen hat.«
Sie folgte den beiden Männern, die sie durch den Flur zu einem größeren Raum führten. Dr. Bernstein saß bereits an dem langen Tisch und ging seine Notizen durch. Zoe hatte den Mann schon häufiger im Fernsehen gesehen. Er trat immer genau dann auf den Plan, wenn ein Serienmörder in den Fokus der Medien geriet. Und da war er nicht der Einzige; es gab eine ganze Gruppe sogenannter Experten, die sich nur zu gern interviewen ließen und stets mit ihrem umfangreichen Wissen zu diesem Thema angeben wollten. Diese Leute waren nicht harmlos. Vielmehr sorgten sie dafür, dass sich Missverständnisse und Hysterie unter der Bevölkerung ausbreiteten; zudem trugen sie, wie auch in diesem Fall, dazu bei, dass die Ermittlungen in die falsche Richtung verliefen.
»Dr. Bernstein.« Zoe lächelte den Mann an und riss in gespielter Bewunderung die Augen auf. »Es ist mir eine Ehre, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«
»Danke«, erwiderte der Mann und stand auf, um ihr die Hand zu geben. Sein Handschlag war schlaff und passiv.
Zoe setzte sich und behielt das Lächeln auf den Lippen. »Ich wüsste gern, was Sie über diesen … Präparator zu sagen haben.«
»Wäre es Ihnen nicht lieber, wenn wir ganz von vorne anfangen?« Er nahm wieder Platz. »Dadurch könnten wir verhindern, dass Ihre Meinung von der meinigen beeinflusst wird.«
Die Vorstellung, Bernstein könne ihre Meinung beeinflussen, amüsierte Zoe. Sie warf Tatum und Martinez einen Blick zu, die sich ebenfalls setzten. »Ich möchte Ihre Zeit nicht vergeuden. Sie haben sich offensichtlich schon intensiv mit dem Fall beschäftigt, daher lassen Sie uns doch einfach mit dem anfangen, was wir bereits haben.«
»In Ordnung.« Dr. Bernstein erhob sich abermals. »Der Täter ist männlich, vermutlich weiß und Ende zwanzig bis dreißig …«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, stimmte Zoe ihm nickend zu.
Bernstein lächelte bescheiden und warf Tatum einen siegessicheren Blick zu, der ihn mit ausdrucksloser Miene und zusammengebissenen Zähnen anstarrte.
»Tatsächlich würde ich sogar behaupten«, fuhr Zoe fort, »dass der Täter zu dreiundsechzig Prozent weiß und nur zu zwölf Prozent schwarz und zu sechzehn Prozent Hispano oder Latino ist.«
Dr. Bernstein blinzelte verwirrt.
»Das klingt sehr präzise«, stellte Lieutenant Martinez fest. »Wie kommen Sie darauf …«
»So lässt sich die Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten unterteilen«, erläuterte Zoe. »Wenn Sie also zufällig einen Mann auswählen, würden genau diese Wahrscheinlichkeiten zutreffen. Ich gehe davon aus, dass Dr. Bernstein es so gemeint hat, da es ansonsten keine Methode gibt, um festzustellen, ob er weiß ist. Serienmörder kommen in allen Bevölkerungsschichten vor.«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte der Doktor und schürzte die Lippe. »Wie ich in zwei meiner Bücher geschrieben habe …«
»Tut mir sehr leid«, fiel Zoe ihm ins Wort, »aber ich habe Ihre Bücher nicht gelesen.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen.
Schließlich räusperte sich Dr. Bernstein und wandte sich von Zoe ab und Martinez zu. »Wenn Dr. Bentley nur annähernd so viel Erfahrung hätte, würde sie mir zustimmen, dass er es auf Weiße abgesehen hat, was darauf hindeutet …«
»Wir haben zwei Opfer«, unterbrach Zoe ihn. »Noch können wir nicht davon ausgehen, dass er ein bestimmtes Muster hat. Außerdem gab es schon weiße Mörder, die schwarze Frauen getötet haben, und umgekehrt.« Ihr riss langsam der Geduldsfaden, und seine Bemerkung über ihre Erfahrung ärgerte sie.
»Als Akademiker hat man leicht reden«, wandte Bernstein ein. »Sie haben schließlich erst kürzlich Ihren Abschluss gemacht. Seit wann praktizieren Sie die forensische Psychologie schon als Agentin … Entschuldigung, als Beraterin
Sie errötete und grinste ihn breit an. »Ein paar Jahre. Und bei wie vielen Fällen wurden Sie als Profiler hinzugezogen? Und damit meine ich nicht Ihre Medieninterviews.«
»Stimmen Sie der Alterseinstufung des Doktors denn zu?«, wollte Martinez mit leicht erhobener Stimme wissen.
»Es ist keine schlechte Schätzung.« Zoe zuckte mit den Achseln. »Aber ich würde sie nicht als gegeben hinnehmen. Monte Rissel fing mit vierzehn an, Frauen zu vergewaltigen, und kurz darauf wurde er auch zum Mörder. Übrigens ist er auch ein gutes Beispiel für einen Serienkiller, der sowohl weiße als auch schwarze Frauen ermordet hat, nicht wahr, Doktor?«
»Äh, ja … Äh …« Bernstein schienen kurz die Worte zu fehlen.
»Ich denke, wir machen hier Fortschritte«, stellte Zoe fest. »Bitte fahren Sie fort.«
»Nun … Er lässt die Leichen an öffentlichen Plätzen zurück, um zu demonstrieren, dass er den Strafverfolgungsbehörden überlegen ist und dass er seinen Ruhm genießt. Er …«
»Hat er Briefe an die Zeitungen oder die Polizei geschrieben?«, fragte Zoe.
»Nein«, antwortete Martinez.
»Woher wollen Sie dann wissen, dass es nicht einfach nur Teil seiner Fantasie ist und dass er sich nicht an der Gefahr aufgeilt? Möglicherweise haben diese Orte für ihn auch eine Bedeutung. Ich kann bei diesen Morden nichts erkennen, das auf die Sehnsucht nach Ruhm oder ein Katz-und-Maus-Spiel hindeutet. Zugegeben, die Fundorte der Leichen sind öffentlich zugänglich, aber man kann auch davon ausgehen, nachts dort niemanden anzutreffen, außerdem gibt es dort keine Überwachungskameras. Und die Positionierung der Leiche scheint ihm wichtig zu sein. Die auserwählte Stelle könnte auch etwas damit zu tun haben.«
»Das ist Ihre Interpretation«, entgegnete der Doktor. »Aber …«
»Wenn wir zwei widersprüchliche Interpretationen haben, können wir eine davon nicht als wahrscheinlich ausgeben, solange wir die andere nicht widerlegt haben«, erklärte Zoe entschieden.
»Okay«, schaltete sich Martinez ein und hob eine Hand, als wollte er die hitzige Diskussion beruhigen. »Vielleicht sollten wir bei den Punkten anfangen, bei denen wir uns sicher sind. Dr. Bernstein geht davon aus, dass der Mann mit den Einbalsamierungspraktiken vertraut ist, und vermutet, dass er wahrscheinlich in einem Bestattungsinstitut gearbeitet hat. Ich bin da ganz seiner Meinung und …«
»Warum?«, wollte Zoe wissen.
»Warum?«, wiederholte Martinez genervt. »Wie meinen Sie das?«
»Warum sind Sie seiner Meinung? Haben Sie in Bestattungsinstituten nach Verdächtigen Ausschau gehalten, bevor Dr. Bernstein das Profil erstellt hat?«
»Nein, aber es hört sich logisch an, daher …«
»Ja, das tut es.« So langsam hatte Zoe genug. »Alles hört sich logisch an, das aus dem Mund eines Mannes kommt, der den Anschein eines Experten kultiviert hat. Erst recht, wenn er schon älter ist, weiße Haare hat und im Fernsehen regelmäßig als ›Experte für Serienmörder‹ zu sehen ist. Aber wenn unser Täter derartige Erfahrungen mit dem Einbalsamieren hätte, wieso war der Fuß des ersten Opfers dann verwest, als man es fand? Ich werde Ihnen den Grund dafür verraten: Der Fuß verweste, weil er noch nicht häufig eine Leiche einbalsamiert hatte und den Vorgang nicht richtig beherrschte. Das zweite Opfer war komplett einbalsamiert. Unser Killer lernt dazu. Außerdem hat mir Agent Gray berichtet, dass das zweite Opfer mit einer anderen Mischung der Balsamierflüssigkeit behandelt wurde. Er experimentiert, weil das für ihn Neuland ist. Aus diesem Grund können Sie meiner Meinung nach jeden ausschließen, der länger als ein paar Wochen in einem Bestattungsinstitut gearbeitet hat, denn derjenige würde wissen, was er zu tun hat.«
Schweigen senkte sich über den Raum, und Zoe merkte erst jetzt, dass sie die letzten Worte beinahe geschrien hatte. Andrea beschwerte sich oft, dass sie die Stimme hob, wenn sie aufgeregt oder wütend war. Sie holte tief Luft und sah Martinez an.
»Es gibt da ein bekanntes Phänomen, das stets mit Serienmördern in Verbindung steht. Damit meine ich Pseudoexperten, die im Fernsehen über Serienmörder reden. Sie führen die Öffentlichkeit in die Irre, tragen zur Massenhysterie bei und beeinflussen Geschworene. Diese Leute richten unermessliche Schäden an. Und sie haben einen Namen. In meinem Beruf sind sie als ›Fernsehexperten‹ bekannt.«
Sie sah den Doktor an, der inzwischen puterrot geworden war. Stand er kurz vor einem Herzinfarkt? Sie versuchte, sich ihren Erste-Hilfe-Kurs ins Gedächtnis zu rufen, während sie weitersprach. »Dr. Bernstein ist einer dieser Fernsehexperten. Sie können seinen sogenannten Profiler-Meinungen gern weiter zuhören, aber er wird Ihnen nicht dabei helfen, den Killer zu finden.«
Der Doktor blinzelte mehrmals und mahlte mit dem Kiefer. Dann stand er auf und klemmte sich seine Aktentasche unter den Arm. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wollte er etwas sagen; doch er drehte sich einfach nur um, ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Einige Sekunden herrschte Schweigen. Tatum sah Zoe mit aufgerissenen Augen an. Sie erwiderte seinen Blick gelassen. Er hatte sie doch hergeholt, um mit dem Profiler kurzen Prozess zu machen, oder nicht? Hatte er etwa erwartet, dass sie dabei auch noch höflich blieb?
»Das war unnötig«, stellte Martinez fest.
»Da bin ich anderer Meinung«, entgegnete Zoe. »Ich bedauere, dass das Gespräch etwas hitziger wurde, aber dieser Mann hat Ihnen schlechte Ratschläge gegeben, die höchstwahrscheinlich ins Leere gelaufen wären.«
»Und was jetzt?«, wollte Martinez wissen. »Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Ihr Freund recht hat? Sollen wir die Fundorte der Leichen überwachen für den Fall, dass der Täter zurückkehrt?«
Zoe und Tatum sahen sich an. »Das wird dieser Täter nicht tun«, erklärte Zoe.
»Wie bitte?«, schaltete sich Tatum ein.
»Es ist korrekt, dass viele Serienmörder an den Tatort zurückkehren, weil sie sich an den Akt erinnern und dabei masturbieren wollen. Aber diese Verbrechen wurden nicht dort begangen, wo Sie die Leichen gefunden haben. Das erste Opfer wurde in seiner eigenen Wohnung umgebracht, und ich bezweifle, dass er dorthin zurückkehren wird. Das zweite Opfer verschwand von der Straße, und es gibt Hinweise darauf, dass die Frau gefesselt wurde. Wahrscheinlich hat er sie irgendwo hingebracht und dort getötet – warum hätte er sie sonst fesseln sollen? Die Fundorte der Leichen haben mit den Fantasien des Mörders wenig zu tun; er wird eher von den Stellen angezogen, an denen er die Frauen getötet hat. Es wäre sinnlos und Zeitverschwendung, diese Orte zu überwachen.«
Angespanntes Schweigen machte sich breit, als Zoe Tatum einen herausfordernden Blick zuwarf. Seine Miene verfinsterte sich, aber er sagte nichts.
Martinez räusperte sich. »Und was denken Sie …«
Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann stürmte mit panischem Blick herein. »Lieutenant«, sagte er. »Wir haben noch eine.«