KAPITEL 12
Es hatten sich zahlreiche Schaulustige entlang der Ohio Street am Strand versammelt, die so dicht am gelben Absperrband standen, wie es nur möglich war. Einige schossen, wie zu erwarten war, Fotos mit ihren Handys. Tatum entdeckte zwei Nachrichtenteams mit Reportern, die lebhaft in Kameras sprachen. Er folgte Lieutenant Martinez zu einem der Polizisten vor Ort, der gerade versuchte, die Neugierigen auf Abstand zu halten. Der Mann hielt ein kleines Notizbuch in der Hand.
»Lieutenant Martinez.« Martinez zeigte seine Dienstmarke vor. »Die beiden gehören zu mir.«
Sie wiesen sich bei dem Beamten aus, der ihre Namen pflichtbewusst im Tatortprotokoll notierte, dessen Seiten vom Wind aufgewirbelt wurden. Eines der Medienteams kam auf sie zugerannt und bestürmte sie mit Fragen. Tatum wandte der Kamera den Rücken zu und ging mit Zoe an seiner Seite über den Strand. Dabei versuchte er, sie so gut wie möglich zu ignorieren. Er war stinksauer auf sie, weil sie seinen Einfluss beim Lieutenant geschmälert hatte, und überlegte bereits, wie er Mancuso dazu bringen konnte, sie nach Quantico zurückzubeordern.
Seine schwarzen Schuhe versanken im Sand, und er hinterließ tiefe Fußabdrücke. Ihm war klar, dass er später Unmengen an Sand in den Schuhen und den Socken haben würde. Für den Strand war er eindeutig falsch gekleidet.
Sie gingen auf mehrere Personen zu, die eine im Sand sitzende Frau umringten. Wäre Tatum nicht instruiert gewesen, hätte er auf den Gedanken kommen können, die Frau würde nur den sonnigen Tag genießen. Als er näher kam, stellte er fest, dass die Leiche so positioniert war, als hätte sie die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Zoe blieb anderthalb Meter von der Toten entfernt stehen.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Tatum, auch wenn er es eigentlich gar nicht wollte. »Sie müssen nicht hier sein.«
»Es geht mir gut«, versicherte Zoe ihm.
»Es ist eine Sache, Fotos von Toten zu sehen, Bentley, aber eine ganz andere, sich tatsächlich an einem Tatort …«
»Ich war schon an Dutzenden von Tatorten und habe mehr als genug Leichen gesehen«, erwiderte Zoe, ohne ihn auch nur anzusehen. »Momentan versuche ich nur, mir einen Überblick zu verschaffen, und ehrlich gesagt stören Sie mich in meiner Konzentration, Agent Gray.«
Diese Frau war unerträglich. Tatum ging zähneknirschend weiter. Im Gehen musterte er die Personen, die um die Leiche herumstanden. Ein Mann, der offensichtlich unter Schock stand – wahrscheinlich derjenige, der die Leiche entdeckt hatte –, unterhielt sich mit einem Chicagoer Streifenpolizisten. Ein zweiter Mann umkreiste die Tote und fotografierte sie von allen Seiten. Links neben der Toten stand eine Frau, die ihr schwarzes Haar straff nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und hob vorsichtig etwas vom Sand auf, das sie in eine Papiertüte fallen ließ. Die beiden gehörten vermutlich zur Forensikabteilung, die den Tatort untersuchte. Ein weiterer Mann, den Tatum für den Rechtsmediziner hielt, untersuchte einen der Füße der Toten.
Tatum hockte sich neben die Frau mit dem Pferdeschwanz. Zu ihren Füßen stand eine Box mit Latexhandschuhen.
»Hi«, sagte er. »Agent Gray. Dürfte ich mir wohl ein Paar Handschuhe ausborgen?«
Sie drehte sich zu ihm um und musterte ihn mit dunkelbraunen Augen. Beinahe hätte er »Tina?« gerufen, da sie seiner Freundin aus Highschoolzeiten zum Verwechseln ähnlich sah. Aber sie war nicht Tina, und er bewegte zwar die Lippen, da er es nicht verhindern konnte, sagte jedoch nichts.
»Audrey Jones«, stellte sie sich vor und zog eine Augenbraue hoch, als er sie weiterhin anstarrte. »Klar, nehmen Sie sich ruhig ein Paar. Und geben Sie Ihrer Partnerin auch welche.«
Er nickte und streifte sich die Handschuhe über. Sie waren klein, perfekt für Audreys zarte Hände geeignet, aber an seinen deutlich größeren Händen hatte er das Gefühl, dass ihm der Latex langsam die Blutzufuhr abschnürte. Er ermahnte sich, ja nicht die Fäuste zu ballen, da er die Handschuhe dadurch garantiert zum Platzen gebracht hätte.
»Wann sind Sie hier eingetroffen?«, wollte er wissen.
»Vor etwa einer halben Stunde«, antwortete sie. »Die Leiche wurde um halb zehn entdeckt.«
Tatum schaute sich um. »War der Strand leer? Wieso hat es so lange gedauert, bis die Leiche gefunden wurde?«
»Ich vermute, dass man sie einfach nicht weiter beachtet hat«, mutmaßte Audrey und verschloss die Papiertüte in ihrer Hand. Sie holte einen Stift aus der Tasche und schrieb etwas darauf. »Wahrscheinlich dachten die Leute, sie würde schlafen oder etwas in der Art.«
Tatum schüttelte fassungslos den Kopf. Eine tote Frau auf einem öffentlichen Strand an einem sonnigen Tag, und die Leute brauchten zwei, vielleicht sogar drei Stunden, um sie zu bemerken. »Haben Sie was gefunden?«
»Da waren ein paar Fußspuren«, berichtete Audrey. »Aber der Sand war hier so platt getreten, dass sie vermutlich gar nicht relevant sind. Wir haben sie trotzdem fotografiert. Ich habe mehrere Zigarettenstummel und ein benutztes Kondom gesichert, das vollständig im Sand vergraben gewesen war.«
Tatum vermutete, dass Audrey an jeder anderen Stelle des Strands etwas Ähnliches finden würde.
»Danke, Audrey«, sagte er und stand auf.
»Gern«, erwiderte sie und blickte lächelnd zu ihm auf, wobei sie den Kopf leicht schief hielt. Selbst ihre Körpersprache erinnerte ihn an Tina. Er fragte sich, ob Audrey durch Genmanipulation erzeugt worden war, um ihn durcheinanderzubringen.
Zoe trat neben ihn, und er reichte ihr wortlos ein Paar Handschuhe. Sie zog sie an und betrachtete gebannt die Leiche. Tatum tat es ihr gleich und versuchte, dasselbe zu sehen wie sie.
Das Opfer bedeckte das Gesicht mit den Händen wie jemand, der weinte. Wären da nicht ihre unnatürliche Reglosigkeit und die leichte Grauverfärbung ihrer Haut gewesen, hätte man sie nicht einmal für tot gehalten. Sie trug ein langärmliges gelbes Shirt und einen braunen Rock, der ihr bis auf die Oberschenkel hochgeschoben war. Ihre Füße waren nackt. An ihrem Hals zeichnete sich ein Hämatom ab, und auch an den Hand- und Fußgelenken waren Abschürfungen zu erkennen. Tatum wusste auch ohne den Bericht des Rechtsmediziners, dass sie gefesselt worden war. Hatte man sie gefesselt ermordet? Hatte sie einen schmerzhaften Tod erlitten? Hatte sie geschrien, ihren Mörder angefleht, sie gehen zu lassen? Er wandte den Blick ab und starrte wütend auf die Wellen.
Es war ein windiger Tag, und auf dem Lake Michigan waren kleine Wellen zu sehen, deren Brechung weiße Gischtstrudel erzeugte. Ein schlechter Tag zum Surfen, schoss es ihm durch den Kopf, obwohl er seit fünfzehn Jahren nicht mehr auf dem Brett gestanden hatte. Doch seitdem hatte er die Wellen stets unter dem Aspekt betrachtet, ob sie gut genug waren.
Der Strand war schön und lag an der Küste von Chicago zwischen dem Wasser und den Hochhäusern, deren Fenster größtenteils blau waren, als würden sie das Wasser widerspiegeln. Im Süden war ein kleiner grüner Park zu erkennen. Die Einwohner kamen bestimmt sehr gern her, liefen oder schlenderten über den Strand und gingen vielleicht sogar schwimmen. Wie lange würde es dauern, bis sie das wieder tun würden? Würde der Strand morgen abermals voll sein, obwohl man hier erst heute eine Tote gefunden hatte?
»Können Sie den Todeszeitpunkt in etwa schätzen?«, hörte er Zoe fragen. Als er sich wieder zu ihr und der Leiche umdrehte, stellte er fest, dass sie mit dem Rechtsmediziner sprach.
»Später vielleicht, wenn ich die Autopsie beendet habe, aber selbst da bin ich mir nicht sicher. Da sie wie die anderen einbalsamiert wurde, wird das schwierig festzustellen sein.«
»Haben Sie auch die anderen beiden Frauen untersucht?«, wollte Zoe wissen.
»Ja«, bestätigte der Mann.
»Dann würde ich mich später sehr gern mit Ihnen unterhalten und die Berichte der drei Frauen miteinander vergleichen.«
Sehr gern. Zoe wählte ihre Worte wirklich mit Bedacht. Sie wollte sich sehr gern über die Frauen unterhalten, die erwürgt und einbalsamiert worden waren. Als wäre das ein großartiges Gesprächsthema.
Der Mann nickte, griff vorsichtig nach der rechten Hand des Opfers, während er mit der anderen ihren Oberarm stürzte. Er zog daran und konnte die Hand vom Gesicht wegbewegen.
»Sie ist beweglicher als die anderen beiden«, teilte er Zoe mit.
»Ihre Augen sind geschlossen«, erkannte Zoe und beugte sich weiter vor.
»Ihr Mund ebenfalls«, fügte der Rechtsmediziner hinzu. »Der Mund des ersten Opfers stand offen.« Er schob eine Papiertüte über die Hand der Toten und fixierte sie mit einem Gummiband.
»Sie trägt einen Ring.« Zoe deutete auf die andere Hand der Frau.
»Ja. Ich werde ihn ihr in der Leichenhalle abnehmen.« Der Mediziner bewegte auch die andere Hand nach unten, wodurch das Gesicht ganz zu sehen war. Das Opfer hatte beide Augen geschlossen, und seine Miene wirkte ganz ruhig.
»Darf ich?«, fragte Zoe und deutete auf die Hand.
»Mir wäre es wirklich lieber, wenn Sie …«
»Ich bin auch ganz vorsichtig«, versprach Zoe. Sie griff sanft nach der Hand und schob den Ring zur Seite. Dann sah sie sich den Finger genau an, bevor sie sich zu Tatum umdrehte. »Kein Bräunungsstreifen.«
»Vielleicht war sie nicht gebräunt«, erwiderte Tatum.
Zoe schüttelte ungeduldig den Kopf und bewegte den Kragen des T-Shirts vorsichtig zur Seite, sodass man den anderen Hautton darunter deutlich erkennen konnte. »Hier gibt es Bräunungsstreifen«, erkannte Zoe. »Sie hat ein anderes Shirt getragen, das mehr Haut erkennen ließ.« Sie zog den Kragen weiter nach unten und enthüllte denselben Bräunungsstreifen in Brustnähe. »Und dekolletierter war.«
»Und?«, fragte der Rechtsmediziner und stülpte auch über die andere Hand eine Papiertüte.
»Sie war es gewohnt, in sehr offenherzigen T-Shirts draußen herumzulaufen.« Zoe kaute auf ihrer Oberlippe herum. »Möglicherweise war sie ebenfalls Prostituierte.«
»Oder Lieferantin«, warf Tatum ein. »Oder Cheerleaderin bei den Cubs. Oder eine Arbeitslose, die gern mit Spaghettiträgershirts in der Sonne herumlief. Sie sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen …«
»Ich ziehe überhaupt keine Schlüsse«, fauchte Zoe. »Aber eines der vorherigen Opfer war Prostituierte. Risikoreiche Opfer sind die Hauptziele von Serienmördern. Daher halte ich es für wahrscheinlich.«
Verärgert wandte sich Tatum ab und ging einige Meter weiter. Er hielt auf den Zivilisten zu, der gerade mit Lieutenant Martinez sprach. Der Mann hatte blondes Haar und einen beinahe unsichtbaren Schnurrbart. Der Kontrast zu Martinez’ Gesichtsbehaarung fiel sofort ins Auge.
»Ist das der Mann, der die Leiche entdeckt hat?«, fragte Tatum.
»Ja.« Martinez nickte. »Dan Finley.«
»Und ich muss jetzt wirklich los«, beharrte Dan mit schriller Stimme. »Ich bin Geschäftsmann und …«
»Was für Geschäfte machen Sie?«, erkundigte sich Tatum.
»Ich bin Quinoa-Lieferant, und zahlreiche Supermärkte und Restaurants verlassen sich auf mich. Heutzutage ist man schnell aus dem Geschäft, wenn man nur einmal zu spät liefert. Es gibt keine Treue, keine dauerhaften Beziehungen mehr. Jeder denkt bloß an …«
»Um wie viel Uhr sind Sie zum Strand gekommen?«, unterbrach Tatum ihn.
»Das habe ich doch schon zweimal erzählt. Wie oft muss ich denn dieselben Fragen beantworten?«
»Dies ist eine Mordermittlung, Mr Finley«, sagte Martinez. »Wir wollen keine Fehler machen, und das werden Sie doch bestimmt verstehen.«
»Wie ich den anderen bereits gesagt habe, war ich gegen acht am Strand.«
»Und Sie haben den Leichenfund erst um halb zehn gemeldet?«, hakte Tatum nach.
»Ich wusste nicht, dass sie tot ist. Ich dachte, sie weint.«
»Am Strand sitzt eine weinende Frau, und Sie kümmern sich erst nach eineinhalb Stunden um sie?«
»Es hat sie auch kein anderer angesprochen, und ich wollte mich nicht aufdrängen.« Dan verzog verbittert den Mund. »Heutzutage kann man nicht mal mehr an den Strand gehen, ohne dass so was passiert.«
»Man kann nicht an den Strand gehen, ohne eine Leiche zu finden?« Tatum starrte den Mann ungläubig an.
Dan schürzte die Lippen und schwieg. Tatum ging kopfschüttelnd weg. Eine Minute später tauchte Martinez neben ihm auf.
»Das dritte Opfer«, meinte Tatum.
Martinez nickte. »Und nur elf Tage nach dem letzten.«
Tatum verschränkte die Arme und blickte auf den See hinaus. Er war ebenso frustriert wie besorgt und konnte nur hoffen, dass es ihnen gelang, den Täter zu schnappen, bevor eine vierte Frau sterben musste.