KAPITEL 20
Lily warf dem Kunden einen Seitenblick zu, als er losfuhr. Er war ein anständig aussehender Mann mit sauberer, ordentlicher Kleidung. Seine Zähne waren ein bisschen schief und hätten mal eine gründliche Reinigung vertragen können, aber das konnte man von vielen Kunden sagen. Mundgeruch war bei Weitem nicht das Schlimmste, was man in diesem Job ertragen musste. Hin und wieder sah er zu ihr herüber und schenkte ihr ein dämliches Lächeln. Sie achtete darauf, die ganze Zeit leicht besorgt zu wirken.
Auf die jungfräuliche Hure fielen sie irgendwie immer rein.
Dies war ihr drittes Jahr auf der Straße, und sie schlug sich wirklich gut. Sie bekam immer die besten Kunden und ein anständiges Trinkgeld. Ab und zu steckte ihr jemand einen oder zwei zusätzliche Hunderter zu, damit sie »clean wurde und von der Straße runterkam«. Alles, was sie dafür tun musste, war, wie ein braves Mädchen am falschen Ort auszusehen. Genau das war sie ja auch, ein unschuldiges Kind, das sich mit den Falschen eingelassen hatte und versuchte, sich aus einer unmöglichen Lage zu befreien.
Nate, ihr Freund, hielt sie für ein Ausnahmetalent; ein echtes Genie, die Nuttenversion eines Einsteins. Und die Sache hatte nicht einmal einen Haken. Dadurch konnte sie sogar wärmere Kleidung tragen, denn es ging nur darum, die Scheue zu spielen. Sie musste sich nie wirklich anstrengen. Wenn ein Kunde auftauchte, schaute sie einfach zur Seite und machte ein ängstliches Gesicht, als würde sie insgeheim hoffen, dass er sich für eine andere entschied. Fuhr er einen wirklich schönen Wagen, zitterte sie sogar noch leicht oder vergoss vor Angst ein Tränchen.
Männer waren so leicht zu manipulieren.
Inzwischen brauchte sie kaum noch neue Kunden. Sie hatte drei Stammkunden, die sie regelmäßig besuchten, damit sie »nicht mehr auf die Straße musste«. Alle glaubten, sie seien ihr einziger Kunde. Sie gab ihnen ihre zweite Handynummer, die sie nur für die Arbeit nutzte, und sobald das Handy klingelte, wusste sie, dass ihr eine einfache, lukrative Nacht bevorstand.
Lily sah sich in dem sauberen Wagen um. Sie holte tief Luft. Es roch irgendwie komisch und ein bisschen steril.
»Was ist das für ein Geruch?«, erkundigte sie sich.
»Formaldehyd«, antwortete der Kunde. »Riecht unangenehm, nicht wahr? Aber man gewöhnt sich daran.«
Sie wusste nicht genau, was das war. »Sind Sie ein Arzt oder so was?«
»Etwas in der Art.« Er nickte. »Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als würdest du frieren.«
Das tat sie nicht, aber sie zitterte trotzdem leicht. »Nein, alles gut«, versicherte sie und überlegte, ob sie behaupten sollte, dies sei ihr erstes Mal, entschied sich dann aber doch dagegen. Manchmal klappte das gut und der Mann wurde dadurch noch geiler. Aber sie hatte es auch schon erlebt, dass der Kunde auf einmal Schuldgefühle bekam, sie an der Bushaltestelle absetzte und ihr anbot, ihr ein Ticket in ihre Heimatstadt zu bezahlen.
»Ist es noch weit bis zu Ihnen?«
»Nein, es ist nicht mehr weit. Wir halten nur noch kurz an, um die Kleidungsstücke zu kaufen, und fahren dann direkt zu mir, okay?«
»Ja, okay. Äh … Wenn ich zu lange weg bin, muss ich das dem Typen erklären, bei dem ich wohne. Er wird schnell wütend, wenn es zu lange dauert und ich nicht mehr Geld dafür nehme. Und ich will nicht, dass er wütend wird.« Sie ließ einen Hauch von Furcht in ihrer Stimme mitschwingen, und der Rest blieb der Fantasie des Kunden überlassen.
»Keine Sorge, es wird nicht zu lange dauern. Und ich lege noch einen Fünfziger drauf, damit du keinen Ärger bekommst.«
»Danke, Mister.« Sie legte ihm dankbar eine Hand auf das Handgelenk. Ihr dämlicher Ritter, der sie vor dem monströsen und nicht existenten Zuhälter retten wollte.
»Du bist wirklich ein süßes Mädchen«, sagte er. »Was machst du auf der Straße?«
Sie zuckte mit den Achseln. So viel Leid. Die Last des Lebens auf ihren jungen Schultern und so weiter und so fort. »Ich hatte einfach Pech.«
»Das habe ich mir beinahe gedacht.«
Lily konnte es in seiner Stimme hören. Er fiel auf sie rein.
Sie gestattete sich die Andeutung eines Lächelns. Der Kunde hatte sich komplett in ihrem Netz verfangen.