KAPITEL 22
Tatum hatte den leisen Verdacht, dass Marvin bei ihnen zu Hause eine Party feierte.
»Was ist das für ein Lärm, Marvin?«, schrie er ins Telefon. Die Musik, die aus dem Lautsprecher drang, war so laut, dass er das Handy ein Stück vom Ohr weghalten musste.
»Was? Ich kann dich nicht hören!«
»Was ist das für ein Krach, Marvin?«
»Warte mal kurz.«
Eine Tür fiel ins Schloss, und die Musik wurde etwas leiser. »Entschuldige«, sagte Marvin. »Die Musik war so laut, dass ich dich nicht verstehen konnte.«
»Was ist da los?«
»Ich habe ein paar Freunde eingeladen«, erklärte Marvin.
»Die Nachbarn werden noch die Polizei rufen«, erwiderte Tatum. »Der Lärm ist ja unglaublich.«
»Ich habe die Nachbarn eingeladen, Tatum«, sagte Marvin. »Sie amüsieren sich prächtig.«
Tatum seufzte. »Dann ist bei dir alles in Ordnung?«
»Ich glaube, deine Katze ist sauer, weil du sie mit mir allein gelassen hast.«
»Wie kommst du auf die Idee?«
»Du weißt doch, dass deine braunen Schuhe im Schlafzimmer stehen?«
»Ja.« Tatum wollte es eigentlich gar nicht wissen.
»Er hat in die Schuhe gekackt, Tatum.«
»Verdammt! Hast du sie weggeworfen?«
»Ich fasse die Schuhe nicht an. Aber ich habe die Tür geschlossen, damit nicht die ganze Wohnung danach stinkt. Dann kann man auch den Pissegestank nicht mehr riechen.«
Tatum musste sich setzen. Sein ganzes Leben wurde offenbar gerade auf den Kopf gestellt. »Welchen Pissegestank?«
»Deine Katze hat in dein Bett gepinkelt. Und danach hat sie die Bettdecke zerfetzt.«
»Vielleicht solltest du ihn in ein Tierasyl bringen, bis ich nach Hause komme«, schlug Tatum schweren Herzens vor.
»Das habe ich versucht, aber dabei hätte er mir beinahe ein Auge ausgekratzt. Meine Hände sehen aus, als hätte mich ein winziger Löwe angefallen.«
»Tut mir leid.«
»Der Kater ist ein Biest, Tatum. Ich schlafe inzwischen mit einer geladenen Waffe neben dem Bett.«
»Du besitzt doch gar keine Waffe.«
»Jetzt schon.«
Tatum versuchte, nicht aus der Haut zu fahren. Seinen Großvater durchs Telefon anzuschreien, hätte nicht das Geringste gebracht.
»Pass mal auf: Freckle braucht nur ein bisschen Liebe. Streichle ihn, nimm ihn auf den Schoß …«
»Dieser Teufel kommt ganz bestimmt nicht auf meinen Schoß. Weißt du, was sich dort befindet? Ein sehr wichtiger Körperteil.«
»Ja, das ist mir klar, aber …«
»Ich rede von meinem Penis, Tatum. Ich lasse das Vieh nicht in die Nähe meines Penis«, schimpfte Marvin. »Schnapp dir deinen Serienmörder und komm nach Hause, denn deine Katze dreht langsam durch.«
»Ich arbeite daran. Hast du mit Dr. Nassar über die Tabletten gesprochen?«
»Noch nicht, Tatum. Er ist ein viel beschäftigter Mann.«
Tatum hörte, wie bei Marvin eine Tür aufgerissen wurde, sodass die Musik erneut in seinen Ohren dröhnte.
»Kommst du jetzt, Marvin?«, brüllte eine Frauenstimme über die Musik hinweg. »Der Alkohol ist da!«
Mit einem Mal war ein lauter Knall im Hintergrund zu hören, gefolgt vom Schrei einer Frauenstimme.
»Marvin«, ermahnte Tatum seinen Großvater. »Zerleg bitte nicht mein Zuhause.«
»Das ist die Katze, Tatum. An allem ist nur die Katze schuld. Ich muss auflegen.« Die Verbindung brach ab.
Tatums Hand erschlaffte, und er hätte das Handy beinahe zu Boden fallen lassen. Beim nächsten Mal würde er einen Babysitter für Marvin und Freckle einstellen. Die anhaltende Zerstörung seines Zuhauses war nur ein Teil seines Problems. Trotz seines Verhaltens war Marvin keine siebzehn mehr. Was war, wenn der alte Mann einen Herzinfarkt bekam? Bei der Menge an Alkohol und Gras, die er zu sich nahm, war das kein abwegiger Gedanke. Tatum brauchte jemanden, der auf ihn aufpasste.
Aber vor allem brauchte er jetzt einen Drink. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Pub namens Kyle’s, der ganz einladend aussah.
Er steckte sich die Brieftasche ein und steckte die Waffe in das Holster an der Hüfte, bevor er das Motel verließ und die Straße überquerte. Dabei sah er sich um und saugte die Atmosphäre in sich auf. Wie er das Gefühl vermisst hatte, sich in einer richtigen Stadt aufzuhalten! Los Angeles war zehn Jahre lang sein Zuhause gewesen. Da er in Wickenburg, Arizona, aufgewachsen war, einer Stadt, in der er so gut wie jeden vom Sehen kannte, war ihm L.A. anfangs als zu laut und zu erdrückend erschienen. Seine Sinne wurden ständig attackiert – zu viele Lichter, zu viele Menschen, zu viele Gerüche, zu viele Geräusche. Doch mit der Zeit war ihm die Stadt ans Herz gewachsen, und er hatte es genossen, ständig Leben um sich herum zu haben. Doch dann war er aufgrund eines kleinen Missverständnisses zwischen ihm und seinen Vorgesetzten, gefolgt von etwa fünfzig ähnlichen Missverständnissen, nach Dale City, Virginia, versetzt worden, wo Aufregung eher Mangelware war.
Chicago war nicht L.A., aber immerhin ein Ort, an dem er erneut spüren konnte, dass er sich in einer Stadt aufhielt, in der Dinge passierten. Eine Gruppe von mehreren Frauen ging an ihm vorbei und lachte schallend, als ihm eine davon eine Kusshand zuwarf. Er sah drei Männer, die alle konzentriert auf ihr Handy starrten. Ein Taxifahrer hielt neben ihm und erkundigte sich, ob er irgendwo hingefahren werden wollte. Bewegung. Leben.
Er öffnete die Tür des Pubs, woraufhin er von einem Leonard-Cohen-Song begrüßt wurde und sich sofort wohlfühlte.
»Hey.« Die Kellnerin, eine niedliche Rothaarige, die frisch von der Highschool zu kommen schien, lächelte ihn an. »Werden Sie erwartet?«
»Ähm … Nein. Ich bin allein.«
»Es ist heute ziemlich voll«, entschuldigte sie sich. »An der Bar sind noch ein paar Plätze frei, aber …«
»Die Bar ist völlig in Ordnung«, sagte er.
Zögernd führte sie ihn hin, und sofort fiel ihm etwas Seltsames ins Auge: Es war sehr voll im Pub, aber an der Bar waren vier Plätze frei, zwei links und zwei rechts von einer Frau, die ihm den Rücken zuwandte.
»Tut mir sehr leid«, meinte die Kellnerin. »Wir werden sie noch einmal bitten, die Fotos wegzulegen. Sie stören die anderen Gäste.«
»Schon okay.« Tatum grinste die Kellnerin an. »Das macht mir nichts aus.«
Er setzte sich auf einen Barhocker und sah die Frau an. Natürlich war es Zoe. Sie starrte eine Reihe von Fotos an, die sie auf der Bar ausgebreitet hatte. Es waren Bilder der drei Tatorte sowie Nahaufnahmen, die bei der Autopsie gemacht worden waren. Kein Wunder, dass niemand neben ihr sitzen wollte. Der Barkeeper trat auf Tatum zu.
»Ein Glas Honker’s Ale, bitte«, bestellte Tatum.
Der Barkeeper nickte. »Wenn Sie sie dazu bringen, die Fotos wegzunehmen, geht das Bier aufs Haus.«
»Ich bezweifle, dass ich sie zu irgendetwas bringen kann«, erwiderte Tatum aufrichtig.
Der Barkeeper schenkte ihm das Bier ein und ging weg, wobei er darauf bedacht war, die Fotos nicht anzusehen.
»Sie verderben den Leuten hier den Abend«, kommentierte Tatum.
»Ich kann es nicht ändern. In meinem Zimmer kann ich mich nicht konzentrieren, da nebenan ein Paar lautstark Sex hat.«
»Irgendwann müssen die doch auch mal fertig sein«, sagte Tatum.
»Das sollte man annehmen.«
Tatum nippte an seinem Glas und genoss den Geschmack. Bier war doch immer noch das leckerste Getränk der Welt. »Ist Ihnen noch was aufgefallen?«
Zoe schüttelte frustriert den Kopf. »Ich begreife einfach nicht, was er macht«, gab sie zu und deutete auf die Fotos. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich davon ausgehen, dass er mit ihnen spielt wie ein Kind mit Puppen. Er zieht sie an, bringt sie in Pose, bewegt sie von einem Ort zum anderen …«
»Wäre das denn so abwegig? Wir sprechen hier schließlich nicht von einem normalen Menschen.«
»Nein, normal ist er nicht«, stimmte Zoe ihm zu. »Aber er ist auch nicht völlig verrückt. Vielmehr lebt er seine Fantasie aus. Aber ich bezweifle, dass es bei seiner Fantasie darum dreht, dass er mit menschengroßen Puppen spielt.«
»Woher wissen Sie, dass er keine Stimmen hört, die ihn dazu auffordern?«
»Wer immer das hier getan hat, ist kalt, berechnend, gelassen. Jemand, der unter den von Ihnen beschriebenen Wahnvorstellungen leidet, würde zu Impulsivität neigen und aus einer Laune heraus handeln. Aber dieser Täter ist nicht impulsiv … oder nur sehr selten.«
»Sehr selten?«, fragte Tatum nach.
»Die Leichen weisen Anzeichen dafür auf, dass er sie postmortal sexuell missbraucht hat«, erläuterte Zoe. »Und zwar vor der Einbalsamierung. Ich vermute, dass er da einfach einem impulsiven Drang nachgekommen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er diese sexuellen Übergriffe geplant hatte.«
»Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Die Leichen haben so gut wie keine Verletzungen, abgesehen davon, dass die Frauen erwürgt wurden und man sie zuvor gefesselt hatte«, antwortete sie. »Das ergibt Sinn. Verletzungen heilen nach der Einbalsamierung nicht mehr. Aber der Geschlechtsverkehr ist grob und brutal. Dabei hat er die Kontrolle verloren.«
Tatum trank noch einen Schluck Bier, das ihm jedoch nicht mehr so gut schmeckte. Zoe hatte ihm die Freude daran verdorben.
»Passen Sie mal auf«, meinte er. »Sie sind hier in einem Pub. Legen Sie die Unterlagen weg, ja? Ich gebe Ihnen auch einen Drink aus.«
Sie schürzte die Lippen.
»Wir unterhalten uns morgen früh über den Fall und denken gemeinsam darüber nach.«
»Soll das heißen, Sie kommen mit einer Theorie um die Ecke, widersprechen meiner und werfen mir dann vor, ich würde mich nur einmischen, um mein Gehalt zu rechtfertigen?«
»Das war nicht nett von mir, und ich möchte mich dafür entschuldigen.«
»Sie haben mir vorgeworfen, ich sei wie Bernstein.«
»Und Sie sagten, ich sei ein Bettnässer.«
Der Hauch eines Lächelns. Langsam und bedächtig steckte sie die Fotos wieder in den Ordner und ließ diesen in ihrer Tasche verschwinden. Der Barkeeper warf Tatum einen dankbaren Blick zu.
»Geben Sie ihr noch einen … was immer sie trinkt.«
Zoe schüttelte den Kopf und schob das leere Glas von sich weg. »Das war Mineralwasser. Jetzt hätte ich gern ein Bier. Haben Sie Guinness?«
Der Barkeeper nickte und zapfte ihr ein Bier.
Tatum hob sein Glas an die Lippen und genoss seinen kleinen Sieg. Früher hatte er sehr gut mit Menschen umgehen können, bevor … Tja, bevor Paige ihn verbittert und verwirrt zurückgelassen hatte. Umso schöner war die Feststellung, dass es ihm noch immer gelang, einer Frau ein Lächeln zu entlocken.
»Und«, meinte er, »wo leben Sie? In Virginia, meine ich.«
»In Dale City.«
»Wirklich? Da bin ich auch gerade hingezogen.«
Sie nickte und schien diesen Zufall nicht weiter bemerkenswert zu finden.
»Wartet in Dale City jemand auf Sie?«, erkundigte sich Tatum.
»Was geht Sie das an?«
»Ich wollte mich nur unterhalten.« Tatum zuckte mit den Achseln. »Aber das muss auch nicht sein. Von mir aus können wir hier sitzen und schweigend was trinken.«
Zoe schien die Optionen abzuwägen. »Meine Schwester«, sagte sie schließlich.
»Sie haben mir schon von ihr erzählt. Ich meinte eigentlich, abgesehen von ihr.«
»Sie wollen wissen, ob ich einen Freund habe? Nein.«
Der Barkeeper stellte ein Glas mit einem schaumgekrönten braunen Bier vor Zoe ab, und sie nahm einen ordentlichen Schluck. »Was ist mit Ihnen?«, fragte sie.
»Nur mein Großvater und meine Katze. Ach ja, und mein Fisch. Ich hatte ganz vergessen, dass ich jetzt auch einen Fisch habe.«
»Aber keine Frau oder Freundin?«
»Nicht mehr.«
Sie nippte an ihrem Bier und musterte ihn.
Er atmete laut auf. »Es gab da mal jemanden. In L.A. Wir hätten beinahe geheiratet.«
»Was ist passiert?«
»Sie hat mich verlassen. Inmitten der Hochzeitsplanungen hat sie ihre Sachen gepackt und ist gegangen.«
»Das tut mir leid.«
»Das ist nett von Ihnen.«
»Ist Ihr Großvater mit Ihnen nach Dale City gezogen, als Sie nach Quantico versetzt wurden?«
»Ja.« Tatum überlegte, wie er ihr das mit seinem Großvater erklären sollte. »Meine Großmutter ist letztes Jahr gestorben, und ihr Tod hat ihn sehr getroffen, daher ist er zu mir nach L.A. gezogen. Das war eine Woche, nachdem mich Paige verlassen hatte. Als ich ihm sagte, dass ich nach Dale City ziehe, teilte er mir mit, dass er das auch tun werde.«
»Es muss schön sein, einen Großvater zu haben, dem man so nahesteht.«
»So kann man es natürlich auch sehen«, kommentierte Tatum. »Aber er ist ziemlich schwierig.«
»Das sind ältere Leute oft.« Zoe nickte. »Sie haben meist eigene Routinen entwickelt, daher sind Herausforderungen oft schwierig für sie.«
Blinzelnd überlegte Tatum, wie gut diese Beschreibung auf Marvin zutraf. Abgesehen von dem Wort »Herausforderungen« passte eigentlich nichts.
»Na ja, meine Großeltern haben mich großgezogen, daher ist es das Mindeste, was ich tun kann, ihm bei seiner …«, Tatum räusperte sich, »Routine zu helfen.«
Der nächste Song begann, und Nick Caves Stimme erfüllte die Bar. Tatum gefiel es hier immer besser.