KAPITEL 24
Maynard, Massachusetts, Sonntag, 14. Dezember 1997
Zoe starrte in den offenen Sarg und versuchte, das zu fühlen, was sie vermeintlich empfinden sollte. Trauer, Entsetzen, Furcht.
Doch da waren nur eine große Leere und das Bedauern, nicht vorher noch auf die Toilette gegangen zu sein.
Als der Schuldirektor vor zwei Tagen in ihre Klasse gekommen war und ihnen mitgeteilt hatte, dass Noras große Schwester Clara ermordet worden war, hatte Zoe gehört, wie alle um sie herum schluchzten, schrien, schockiert miteinander flüsterten. Sie hatte dem Rektor in die geröteten Augen geblickt und dabei festgestellt, dass sie ihn gerade zum ersten Mal weinen sah.
Nora war in ihrem Alter, wie die meisten in ihrer Klasse. Zoe war schon dreimal bei ihr zu Hause gewesen, allerdings zuletzt vor einigen Jahren. Mit sechs waren sie gut befreundet gewesen. Sie erinnerte sich dunkel an Clara, die damals ein wunderschönes zehnjähriges Mädchen gewesen und von Nora sehr bewundert worden war.
Zoe war wegen ihrer Reaktion besorgt. Sie hatte sich Bücher über Serienmörder ausgeliehen und viel über Psychopathen gelesen. Das waren Menschen, die kein Mitgefühl für andere empfanden. Es gab erstaunlich viele Psychopathen. Ein Prozent der Bevölkerung. War sie etwa auch Psychopathin? War das der Grund dafür, dass sie nicht um Clara trauerte? Hatte sie deswegen keine Träne vergossen, obwohl Nora derart litt? Ihre Mutter saß weinend neben ihr, dabei hatte sie Nora und Clara bei Weitem nicht so gut gekannt wie Zoe. Die Kapelle war voller weinender Menschen, deren Schluchzen durch den großen Raum hallte. Zoe versuchte, sich zum Weinen zu bringen, indem sie sich ausmalte, wie sich Nora jetzt fühlen musste, deren einzige Schwester Clara vom Maynard-Serienmörder getötet worden war. Vergewaltigt, ermordet und wie Abfall in den Assabet River geworfen.
Doch es kamen keine Tränen.
Der Vertrauenslehrer hatte ihnen gesagt, dass alle Reaktionen normal waren und dass jeder Mensch anders trauerte. Aber das bedeutete doch nicht, dass man gar keine Reaktion zeigte. Das war trotzdem nicht normal. Und diese Besessenheit von einem Mörder, dass man alle Artikel sammelte, in denen er erwähnt wurde, das war ebenso wenig normal, davon war sie überzeugt.
Als die Zeit gekommen war, zwang sie sich, auf den Sarg zuzugehen und Clara ins Gesicht zu sehen. Das Mädchen war nur vier Jahre älter als sie gewesen und brutal ermordet worden.
Clara sah nicht aus wie jemand, der einen qualvollen Tod erlitten hatte, sondern eher, als würde sie schlafen.
Zoe wandte sich ab und sah sich in der weinenden Menge nach jemandem um, der wie sie rein gar nichts empfand. Einige jüngere Kinder wirkten ruhig. Sie schienen nicht zu begreifen, was hier vor sich ging. Aber jeder Erwachsene, den Zoe sehen konnte, weinte entweder oder war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Sie machte sich auf den Weg nach draußen. Ihre Mutter folgte ihr und strich ihr über das Haar.
Eine kleine Hand schob sich in ihre. Zoe blickte auf Andrea hinab, die mit ernstem Gesicht neben ihr herging. Begriff ihre kleine Schwester, was hier passierte? Inzwischen schlief Andrea jede Nacht in Zoes Bett. Sie merkte, dass etwas nicht stimmte.
Die Welt war weiß, Schnee bedeckte den Kirchhof, die Bäume, das Gras, selbst die Mauer zur Straße war unter einer dünnen Schneedecke verschwunden. Zoe folgte ihren Eltern zum Auto. Keiner sagte einen Ton. Sie stieg ein. Hörte, wie der Motor angelassen wurde, was seltsam gedämpft klang. Ihr war leicht schwindlig, und sie hatte das Gefühl, gar nicht wirklich da zu sein.
In ihr waren keine Tränen. Dort gab es kein Mitleid. Genau wie beim Mörder.
Andrea lehnte während der Fahrt den Kopf an Zoes Arm. Sie spielte mit Zoes Fingern, wie sie es auch nachts manchmal tat, und streichelte Zoes Daumen. Zoe sagte nichts, obwohl es kitzelte.
Die Fahrt war schnell vorbei, wie jede Fahrt innerhalb des Ortes. Als sie zu Hause ankamen und ausstiegen, begriff Zoe nicht, warum die Welt so seltsam schief stand.
Auf einmal kniete sie mit rasendem Herzen am Boden und erbrach ihr Frühstück. Ihre Mutter hielt ihr das Haar und sprach beruhigend auf sie ein, aber Zoe konnte nichts verstehen. Die Worte schienen ineinander überzugehen, und sie röchelte und spuckte, während sie den klumpigen gelben Brei vor sich auf dem Boden betrachtete und dabei stark zitterte.
Zoe sah erneut auf die Uhr. Es war zwei Uhr siebzehn, und sie bezweifelte, dass sie jemals wieder schlafen würde. Andrea lag neben ihr, hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und eine lose Haarsträhne kringelte sich auf ihrer Wange. Zoe gewöhnte sich langsam daran, nur noch die Hälfte ihres Bettes zur Verfügung zu haben. Das machte ihr schon fast nichts mehr aus.
Sie hatte geweint. Tatsächlich hatte sie gar nicht mehr aufhören können. Eine Stunde lang hatte sie gezittert und geschluchzt, während ihre Mom sie in den Armen hielt, streichelte und nach Worten suchte, um sie zu beruhigen. Irgendwann war Zoe in ihr Zimmer getaumelt, auf ihr Bett gefallen und hatte die Decke angestarrt, um die grässlichen Bilder loszuwerden, die sie immerzu heimsuchten. Der restliche Tag verschwand hinter einem Dunstschleier. Sie wollte mit niemandem reden und nur allein sein. Außer Andrea durfte ihr niemand Gesellschaft leisten. Sie hatte nichts gesagt, als Andrea einfach in ihr Zimmer gekommen war und sich auf den Boden gesetzt hatte. Es war eine kleine Erleichterung gewesen.
Und jetzt wollte sie nur noch schlafen. Sie war so erschöpft.
Nach einiger Zeit gab sie seufzend auf und schaltete das Nachtlicht ein. Andrea protestierte kurz, drehte sich vom Licht weg und schlief weiter. Zoe griff nach dem Buch, das sie aus der Bücherei ausgeliehen hatte und unter dem Bett versteckte. »Whoever Fights Monsters« von Robert K. Ressler. Das war schon das fünfte Buch über Serienmörder, das sie las, aber das erste, das von einem FBI-Profiler stammte. Bis dahin hatte sie nicht einmal gewusst, dass es einen solchen Beruf überhaupt gab.
Je mehr sie las, desto besser konnte sie alles verstehen. Maynard war bei Weitem nicht der einzige Ort, an dem ein Serienmörder sein Unwesen trieb. Und diese Killer wirkten zwar wie Monster, ihr Verhalten ließ sich allerdings erklären. Ressler betonte immer wieder, dass die meisten Serienmörder von einer Fantasie zur Tat getrieben wurden. Diese Fantasie wurde immer größer, mächtiger und detaillierter; sie beherrschte zunehmend die Gedanken des Mörders, bis er schließlich den Drang verspürte, sie Realität werden zu lassen. Das stellte den Killer für eine bestimmte Zeitspanne zufrieden, bis das Bedürfnis zu töten erneut in ihm aufkeimte.
Die detaillierten Profile, die Ressler erstellte, erstaunten sie. Was hätte Ressler wohl zum Maynard-Serienmörder gesagt?
Zoe wünschte sich, der Polizeichef von Maynard würde die Hilfe eines FBI-Profilers anfordern.
Sie las gerade Resslers Gespräch mit David Berkowitz, der den Spitznamen »Son of Sam« trug. Berkowitz hatte mehrere Männer und Frauen erschossen, es jedoch eigentlich nur auf Frauen abgesehen. Zoe las die Zusammenfassung des Interviews mit morbider Faszination, bis sie zu einem Absatz gelangte, bei dem sie eine Gänsehaut bekam. Berkowitz hatte Ressler erzählt, dass er in Nächten, in denen er kein Opfer fand, zu einem früheren Tatort zurückkehrte und dort masturbierte. Ressler merkte in seinem Buch an, dass er hiermit den ersten wahren Beweis dafür, dass Mörder an den Schauplatz ihres Verbrechens zurückkehrten, und gleichzeitig eine Erklärung dafür erhalten hatte.
Sie las den Absatz mehrmals und spürte, wie etwas an ihr nagte. Da lauerte etwas im hintersten Winkel ihres Verstands, ein widerliches Gefühl, das sie gar nicht genauer ergründen wollte. Stattdessen klappte sie das Buch zu, schob es unters Bett und versuchte, wieder einzuschlafen.
Doch das war einfach nicht möglich. In dieser Nacht schien sie keinen Schlaf zu finden.
Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu einem Tag vor anderthalb Monaten zurück.
Was hatte Rod Glover am Durant Pond gemacht? Sie hatte ihm diese Frage gestellt, aber nie eine richtige Antwort bekommen. Stattdessen hatte er etwas von einem Brand erzählt und dass er der Sekretärin das Leben gerettet hatte. Eine seltsame Geschichte.
Erst jetzt ging ihr auf, dass sonst niemand von diesem Feuer gesprochen hatte. Maynard war eine Kleinstadt. Wenn irgendjemand einen platten Reifen hatte, wusste es nach wenigen Stunden schon die halbe Bevölkerung.
Ein Feuer im Büro? Eine Frau, die von einem heldenhaften Kollegen gerettet wurde? Trotz der Morde hätte das Erwähnung gefunden und wäre in aller Munde gewesen.
Dann fielen ihr die anderen komischen Geschichten ein, die er ihr erzählt hatte. Angeblich hatte er in einer der ersten Folgen von »Buffy – Im Bann der Dämonen« als Statist mitgespielt, war nach einem Streit mit dem Produzenten jedoch rausgeschnitten worden. Zudem behauptete er, früher als Informant für die CIA gearbeitet zu haben, dürfe ihr jedoch nicht mehr darüber erzählen.
Zoe war nicht naiv. Sie hatte schon immer geglaubt, dass er sie nur auf den Arm nehmen wollte oder dass er die Fakten ziemlich übertrieb. Aber jetzt, wo sie an seine ganzen Geschichten dachte, kamen sie ihr weniger wie witzige Anekdoten vor, sondern eher wie Lügen, die jedoch keinen Zweck erfüllen sollten.
Sie holte ihr Notizbuch hervor und blätterte darin herum, bis sie das Gesuchte gefunden hatte: den fotokopierten Teil eines Artikels über Psychopathen, in dem die »Hare Psychopathy Checklist« beschrieben wurde. Diese Liste führte Eigenschaften auf, die mit Psychopathie in Verbindung gebracht wurden. Da Zoe solche Listen sehr mochte, hatte sie sie eingeklebt. Der dritte Punkt der Liste lautete: pathologisches Lügen.
Rasch ging sie die restlichen Punkte durch. Oberflächlicher Charme – korrekt. Er lächelte immer, wenn er sich mit ihr unterhielt, und berührte häufig auf freundschaftliche Weise ihren Arm. Dann waren da seine ständigen Imitationen, der abgedroschene Humor und die Versuche, sie zum Lachen zu bringen. Und es funktionierte, wie sie sich peinlich berührt eingestehen musste. Sie mochte ihn. Mehr brauchte es nicht, um sie auf seine Seite zu bekommen.
Mangel an Mitgefühl. Sie wusste nicht genau, was das bedeutete. Dass man nachvollziehen konnte, was andere Menschen empfanden? Aber Rod war nicht so. Er hörte ihr immer zu, wenn sie sich über ihre Eltern oder die Schule beschwerte, und nickte mitfühlend. Und sie konnte die Sorge in seinen Augen sehen. Die Augen eines Menschen, den das nicht interessierte, hätten jedoch leer und tot ausgesehen.
Zoe legte die Liste weg. Rod war ein guter Mensch. Und natürlich verstand er die Gefühle anderer; er …
Er hatte nicht das geringste Interesse gezeigt, als sie den ersten Mord erwähnte, sondern sofort versucht, sie zum Lachen zu bringen. Sie verglich sein Verhalten mit dem anderer Personen, mit denen sie über den Mord gesprochen hatte. Ihre Freunde hatten traurig und ängstlich ausgesehen. Mrs Hernandez hatte geweint, als sie vor der Klasse darüber sprach. Auch auf dem Schulflur waren nur tränenüberströmte, gerötete Gesichter zu sehen gewesen.
Doch Rod imitierte eine Figur aus »Buffy« .
Psychopathen waren keine Zombies. Ihre Augen konnten noch etwas vermitteln. Sie stand auf und starrte in den Spiegel. Wie schwer war es wohl, Mitgefühl zu simulieren? Sie zog leicht die Augenbrauen zusammen und betrachtete ihr Spiegelbild, das ihr traurig entgegenblickte. Voller »Mitgefühl«.
Leise stieg sie wieder ins Bett, damit sie Andrea nicht weckte. Sie holte die Liste wieder hervor und überflog sie.
Parasitärer Lebensstil. Auf einmal fielen ihr die unzähligen Male ein, die Rod vorbeigekommen war, um sich Gartenwerkzeuge zu borgen. Oder Kleinigkeiten wie Milch, Zucker oder Bier. Manchmal tauchte er auf, wenn sie beim Essen saßen, und machte eine Bemerkung darüber, wie köstlich alles aussah, nur um dann noch von ihren Eltern zum Bleiben eingeladen zu werden. Zoe hatte gelegentlich gehört, wie ihre Mutter eine Bemerkung darüber machte, und sie deswegen für kleinlich und geizig gehalten.
Nach und nach entdeckte sie weitere Verbindungen, Augenblicke aus der Vergangenheit, die mit der Liste übereinstimmten. Es passte nicht alles. Zoe hatte keine Ahnung, ob er früher Verhaltensprobleme gehabt hatte oder straffällig geworden war. Tatsächlich wusste sie kaum etwas über ihn außer der Tatsache, dass er vor drei Jahren nach Maynard gezogen war. Woher? Warum? Hatte er irgendwo Familie? Die kleinen Dinge, die er ihr oder ihren Eltern erzählt hatte, drehten sich alle um recht unglaubwürdige Geschichten. Auf einmal schien ihr seine Vergangenheit sehr zwielichtig zu sein.
Aber das, was sie wusste, ergab ein recht eindeutiges Bild.
War Rod Glover ein Psychopath?
Möglicherweise. Aber das machte ihn noch lange nicht zum Serienmörder. Einer von hundert Menschen war Psychopath, aber den Großteil davon konnte man als harmlos einstufen.
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er im Gebüsch hockte und darauf wartete, dass Clara näher kam. Mit seinem breiten Lächeln und seinem albernen Benehmen. Seinem zerzausten Haar. Würde ein Serienkiller so eine Frisur haben? Das kam ihr irgendwie falsch vor.
Was hatte er an jenem Tag am Durant Pond gemacht? War er nur hingegangen, weil es ein schöner Ort für einen Spaziergang war, oder hatte er den Tatort noch einmal sehen wollen? Was hatte er da, wo sie ihn entdeckt hatte, getrieben?
Zuerst hatte sie geglaubt, er würde pinkeln.
Zoe erschauderte und ballte die Fäuste. Sie erinnerte sich wieder daran, dass er schnell geatmet hatte, und spürte Galle in sich aufsteigen. Das konnte nicht stimmen. Es konnte einfach nicht wahr sein.
Dummerweise wusste sie, dass es durchaus so sein konnte. Sie würde es irgendjemandem sagen müssen.