KAPITEL 25
Chicago, Illinois, Mittwoch, 20. Juli 2016
Zoe saß an dem Schreibtisch, den man ihr zugewiesen hatte, und las die Morgennachrichten auf ihrem Laptop, wobei sie die Lippen angewidert verzog. Die Medien geilten sich an dem Serienmörder auf. Es wurde sogar erwähnt, dass man das FBI hinzugezogen hatte. Da war auch ein verschwommenes Foto von ihr und Tatum zusammen mit Martinez am Tatort. Laut »gut informierten Quellen aus Polizeikreisen« war der Mörder vermutlich ein Weißer, der in einem Bestattungsinstitut arbeitete.
Sie wäre Bernstein am liebsten an die Gurgel gegangen. Dieser selbstgefällige, eingebildete Mistkerl hatte vermutlich jeden Journalisten und Blogger in der Stadt angerufen. Wahrscheinlich tauchte er jetzt täglich in mehreren Nachrichtensendungen auf und ließ sich für seine »Expertise« ein stattliches Sümmchen bezahlen. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass er kein weiteres Mal auf dem Polizeirevier auftauchen würde. Nun hatte er weitaus besser zahlende Kunden bei den Medien, die sein Ego zudem noch streichelten.
Ein Stapel Papier landete auf ihrem Tisch. Sie hob den Kopf und sah Martinez vor sich stehen.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Berichte des Department of Animal Care and Control«, antwortete er. »Von Juli 2014 bis Ende März 2016. Insgesamt siebenundzwanzig Fälle. Raten Sie mal, worum es dabei geht.«
»Einbalsamierte Tiere?«
»Fast, bei den ersten sechs wurde eine Taxidermie durchgeführt. Aber alle siebenundzwanzig Fälle wurden in West Pullman gemeldet. Das ist ein Stadtviertel im Süden von Chicago.«
»Das war vermutlich sein ursprünglicher Plan«, mutmaßte Zoe und überflog die Berichte. »Er wollte seine Opfer ebenfalls per Taxidermie erhalten.«
»Warum hat er seine Methode geändert?«
»Keine Ahnung. Aber ich kenne mich auch nicht besonders gut mit dem Unterschied zwischen einer Taxidermie und einer Einbalsamierung aus«, gestand Zoe. »Hier steht jedoch nichts davon, dass eines dieser Tiere einbalsamiert gewesen ist.«
»Tote Katzen und Hunde werden im Allgemeinen keiner Autopsie unterzogen. Aber Sie werden unterschiedliche Beschreibungen von starren und unnatürlichen Posen darin finden, was meiner Ansicht nach nur auf eine Einbalsamierung zurückzuführen ist.«
»Ja«, murmelte Zoe, die gerade den Bericht über einen Hund las, den man auf der Seite liegend gefunden hatte, noch dazu tot und steinhart. »Sind all diese Tiere in derselben Gegend verschwunden?«
»Zumindest die, deren Besitzer ermittelt werden konnten.«
»Hat einer von ihnen gesehen, wer sein Haustier entführt hat?«
»In den Berichten steht nichts davon, aber Scott und Mel werden mit allen sprechen und der Sache auf den Grund gehen. Vermuten Sie, dass er in West Pullman lebt?«
»Oder früher gelebt hat«, antwortete Zoe. »Er ist mit der Entsorgung der toten Tiere weitaus sorgloser gewesen als mit seinen menschlichen Opfern.«
»Vermutlich ist er davon ausgegangen, dass die Polizei von Chicago keinen Serienmörder von Tieren jagen würde, und das zu Recht«, sagte Martinez.
Zoe blätterte weiter in den Berichten herum, ohne noch etwas zu sagen, und er ging wieder.
Sie öffnete den Browser und machte sich rasch über Taxidermie schlau. Dazu klickte sie auf WikiHow, ihre Lieblingsseite für Dummys. Dort gefielen ihr vor allem die Illustrationen, die manchmal wirklich lustig oder absurd waren. Die Seite über Taxidermie war allerdings nicht so witzig wie viele andere. Schnell hatte sie herausgefunden, dass sich Taxidermie und Einbalsamieren stark voneinander unterschieden.
Laut der Berichte hatte er die Taxidermie an sechs Katzen und Hunden ausprobiert, bevor er die Idee wieder verwarf. Wahrscheinlich war er zu dem Schluss gekommen, dass es bei Menschen nicht so gut funktionieren würde. Sie kritzelte das Wort methodisch auf einen Zettel, der auf ihrem Schreibtisch lag. Danach unterstrich sie die Begriffe selbst beigebracht und schneller Lerner, die sie vor zwei Tagen oben auf die Seite geschrieben hatte.
Sie kaute auf ihrem Stift herum. Hatte er die Idee wirklich verworfen oder experimentierte er damit?
Zoe stand auf und ging zu Martinez hinüber. »Sagen Sie mal, Lieutenant, wurde irgendwann zwischen 2014 und 2015 eine per Taxidermie präparierte junge Frau gefunden?«
»Äh … nein.«
Vielleicht hat er es versucht und ist gescheitert. »Oder auch nur die Leiche einer jungen Frau, der große Stücke ihrer Haut fehlten? Die aussah, als wäre sie gehäutet worden?«
Martinez sah aus, als wäre ihm übel. »Nein. Wenn so etwas in letzter Zeit in Chicago passiert wäre, dann hätte ich mir das gemerkt.«
»Okay. Das sind vermutlich gute Neuigkeiten.«
»Ja, ich würde das eindeutig unter gute Nachrichten einordnen.«
Zoe ging an ihren Schreibtisch zurück und sortierte die Berichte nach Datum. Die ersten beiden lagen weit auseinander. Dann zwei von Juli 2014, einer von August, zwei von September, einer von Oktober, und der nächste Bericht stammte vom März, aber Zoe vermutete, dass dazwischen noch mehr Tiere verschwunden waren. Sie wurden höchstwahrscheinlich nur nicht mit aufgeführt, weil man beim Fund davon ausgegangen war, die Tiere seien schlichtweg steifgefroren.
Aber dann zwei Tiere im April 2015, eins im Mai, zwei im Juli … Ein oder zwei Tiere jeden Monat, nur gelegentlich wurde mal einer ausgelassen. Im März 2016 hatte man sogar fünf einbalsamierte Katzen und Hunde in West Pullman gefunden. Er war unvorsichtig und verzweifelt gewesen; angetrieben von seinem immer größer werdenden Verlangen.
Er konnte es kaum noch erwarten, es wirklich zu tun.
Der Rechtsmediziner schätzte, dass er Susan Warner ungefähr am 5. April ermordet hatte, vielleicht auch einen Tag früher oder später. Nur eine Woche, nachdem man das letzte einbalsamierte Tier gefunden hatte. Monique Silva war um den ersten Juli herum getötet worden, Krista Barker am 10. oder 11. Juli.
Wurden die Abstände immer kürzer? Sie konnte sich nicht sicher sein, da für diese Annahme einfach nicht genug Daten vorlagen. Aber wenn sie hätte raten müssen … Dann wäre sie davon ausgegangen. Zwischen den letzten beiden Morden lagen gerade mal neun Tage.
Wie lange würde er diesmal warten? Eine Woche? Fünf Tage?
Oder kamen sie längst zu spät?
Sie stand auf und ging erneut zu Martinez’ Schreibtisch. »Er wird wahrscheinlich bald wieder töten. Sehr bald«, sagte sie.
Martinez drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um und schaute zu ihr auf. »Wie bald?«
»Spätestens in ein paar Tagen.«
»Glauben Sie, dass es erneut eine Prostituierte sein wird?«
»Ja, ich denke, diese Gruppe ist am meisten gefährdet.«
»Wir können einige Gebiete überwachen, in denen er vielleicht zuschlägt«, schlug Martinez nach kurzem Überlegen vor. »Aber wir haben beim besten Willen keine Ahnung, wonach wir Ausschau halten sollen.«
»Ein kräftiger Mann, nicht sehr einschüchternd, vermutlich in einem gut gepflegten Wagen …« Zoe stockte. Das war ein sehr schwaches Profil.
Martinez’ Lippen umspielte ein trauriges Lächeln. »Damit haben Sie den Großteil der Männer aus meiner Abteilung beschrieben.«
Zoe beäugte ihn fragend. »Ich würde die Möglichkeit nicht ausschließen, dass er bei einer Strafverfolgungsbehörde arbeitet«, erklärte sie. »Aber wir haben noch immer zu wenig Informationen, um die Liste der Verdächtigen weiter einzuschränken.«
»Trotzdem gehen Sie davon aus, dass er bald wieder zuschlagen wird … Ich werde mal einen Lieutenant bei der Abteilung für Sexualdelikte anrufen – sie hat einiges auf dem Kasten. Vielleicht können wir uns ein wenig umhören und herausfinden, ob jemand vermisst wird. Wir können sie bitten, die Augen offen zu halten. Sollen wir uns auf ein bestimmtes Gebiet konzentrieren?«
Zoe zögerte. Sie hatte noch kein vollständiges geografisches Profil des Falls erstellt, aber nach allem, was sie bisher wusste, hielt sich der Mörder nicht an die Standardmuster. Er schlug in ganz Chicago zu und beschränkte sich nicht auf ein begrenztes Gebiet. »Ich weiß es wirklich nicht«, gab sie schließlich zu.