KAPITEL 36
Kurz vor Mitternacht bekam Martinez einen Anruf. Während des Telefonats gab er nur einsilbige Antworten, und Zoe beobachtete, wie er in sich zusammensackte, wie die Hand, in der er das Telefon hielt, leicht erschlaffte und wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Schließlich drehte er sich um, ohne sich die Mühe zu machen, das Telefon vorher auf die Gabel zu legen.
»Lily Ramos’ Leiche wurde in einer Seitenstraße südlich der Chicago Avenue gefunden«, teilte er ihnen apathisch mit. »Der Rechtsmediziner ist bereits vor Ort, kann jedoch noch nichts Definitives sagen, außer, dass ihr die Kehle aufgeschlitzt wurde und dass der ganze Körper blutüberströmt ist. Daher gehen wir bis auf Weiteres davon aus, dass das die Todesursache ist.«
Schweigen legte sich auf den Raum, während die Taskforce diese Information verarbeitete. Die anderen Detectives waren alle zurückgerufen worden und hielten sich ebenfalls hier auf.
»Sind wir sicher, dass es Lily ist?«, fragte Scott.
Zoe entging nicht, dass er nach Lily fragte. Nicht nach Lily Ramos. Nicht nach Ramos. In den letzten Stunden hatten die Ermittler verzweifelt versucht, Lily zu finden und zu retten, sodass jetzt alle den Eindruck hatten, sie gut zu kennen.
»Sie passt auf die Beschreibung, und sie hat wie Lily das Tattoo einer schwarzen Katze über dem Hintern.«
Ein Tattoo. Das man nicht sah. Alles passte zu Zoes Vermutungen, aber sie empfand keine Freude darüber. In ihr war nur eine große Leere.
»Wurde sie einbalsamiert?«, fragte sie.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Martinez knapp. »Ich fahre jetzt zum Tatort. Sie werden mich begleiten, Mel. Agent Gray, Dr. Bentley, wenn Sie möchten, können Sie ebenfalls mitkommen. Scott, ich möchte, dass Sie mit der Zentrale reden. Ich habe die Erlaubnis des Captains, die Straßensperren noch eine halbe Stunde aufrechtzuerhalten, und so lange bleibt der Hubschrauber auch in der Luft, und so lange sind Sie der Ansprechpartner. Alle anderen folgen mir in anderen Fahrzeugen. Der Mord ist noch nicht lange her, was bedeutet, dass die Spuren noch frisch sind. Wir werden uns vermutlich aufteilen, nachdem wir den Tatort gesichtet haben, um diesen neuen Spuren nachzugehen.«
Neue Spuren. Frischer Tatort. In der Theorie hatte der Fall gerade neuen Auftrieb bekommen. Sie bekamen zusätzliche Daten, die sie analysieren konnten. Sie kannten die genaue Straße, in der der Täter das Opfer festgehalten … und wahrscheinlich auch getötet hatte. Der Mörder musste nervös werden und würde Fehler machen.
Aber noch vor wenigen Stunden war das Opfer am Leben gewesen und sie hatten mit ihm telefoniert. Sie waren drauf und dran gewesen, die Position einzugrenzen. Wenn sie doch nur schneller, schlauer, besser gewesen wären, dann hätte die Frau überlebt. Möglicherweise hätte der Täter dann bereits hinter Gittern gesessen.
Sie waren ihm einen Schritt näher gekommen, hatten dafür jedoch einen schrecklichen Preis bezahlen müssen.
Die Stimmung im Wagen war niedergeschlagen. Martinez und Mel saßen vorn, Tatum und Zoe auf dem Rücksitz. Zoe dachte an Lily. Sie hatte vermutlich mit die letzten Geräusche gehört, die Lily jemals von sich gegeben hatte. Bei dem verzweifelten Versuch, ihr Leben zu retten. Zoe wusste ganz genau, wie es war, um sein Leben zu fürchten, während sich jemand Gefährliches im Nebenraum aufhielt.
Zu wissen, dass Hilfe unterwegs war … aber vielleicht zu spät kommen würde.
Mach die Tür auf, Zoe. Du kannst nicht ewig da drinbleiben, Zoe.
Sie erschauderte.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Tatum. Da war etwas Sanftes in seinen Augen, das sie noch nie zuvor bemerkt hatte. Möglicherweise hielt sie aber auch nur nach etwas Ausschau, das sie gerade brauchte.
»Ja«, erwiderte sie. »Nur unangenehme Erinnerungen.«