KAPITEL 50
Chicago, Illinois, Freitag, 22. Juli 2016
»Sollen wir uns was zum Frühstück holen, bevor wir aufs Revier fahren?«, fragte Tatum, sobald sie vom Motel aufgebrochen waren. Zoe schaute aus dem Beifahrerfenster. Sie war sehr ruhig, was Tatum jedoch nicht völlig überraschte. Er wusste zwar nicht genau, wann sie letzte Nacht schlafen gegangen war, aber es hatte so ausgesehen, als hätte sie noch lange arbeiten wollen. Wahrscheinlich hatte sie nur wenig Schlaf bekommen.
Eins musste er ihr lassen: Sie arbeitete härter als die meisten Agenten, die er schon als Partner gehabt hatte. Zudem erzielte sie Resultate. Die Verbindung zum Mord an Veronika Murray war für die Ermittlungen sehr hilfreich und hatte ihnen beiden sehr viel Respekt eingebracht. Martinez bezog sie nun aktiv in die Arbeit ein und schien sein anfängliches Misstrauen hinsichtlich der schändlichen Pläne des FBI abgelegt zu haben.
»Hey«, meinte er. »Haben Sie meine Frage eben mitbekommen?«
Sie standen an der 37. Straße an der Ampel. Es herrschte viel Verkehr, und Unmengen von Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit und nahmen am dümmsten Spiel der Menschheit teil: der Rushhour. Über einhundert Jahre zuvor hatte der deutsche Ingenieur Rudolf Diesel etwas Erstaunliches erfunden, das er als Verbrennungsmotor bezeichnete: eine von Menschenhand geschaffene Maschine, die ein Fahrzeug auf Rädern mit einer unglaublichen Geschwindigkeit über eine gepflasterte Straße bewegen konnte. Und jetzt fuhren Millionen derartiger Fahrzeuge durch die vollen Straßen von Chicago, jedoch in einer Geschwindigkeit, die einem Kind auf einem Dreirad peinlich gewesen wäre. Wahrscheinlich drehte sich der arme Rudolf im Grabe um.
Tatum schüttelte den Kopf und versuchte, seinen bescheuerten Gedankengang zu durchbrechen. »Zoe«, sagte er zum dritten Mal laut. »Wie wär’s mit Frühstück?«
Sie zuckte zusammen und starrte ihn verwirrt an. So langsam machte er sich Sorgen.
»Ja«, murmelte sie. »Gern.«
»Super.« Er grinste sie an. Hinter der nächsten Ampel befand sich ein Diner namens Wilma’s. Auf dem Schild davor prangte eine grottenschlechte Zeichnung von Wilma Feuerstein. Tatum parkte, stieg aus und betrat das Restaurant. Zoe folgte ihm und blieb weiterhin still und verschlossen.
Im Inneren erinnerte rein gar nichts mehr an Wilma Feuerstein. Die Wände waren pinkfarben gestrichen, die Bodenfliesen schwarz und weiß und die Sitze pfirsichfarben. Tatum konnte nur hoffen, dass das Essen besser war als das Händchen, das man bei der Innenausstattung gehabt hatte.
Sie setzten sich, und eine Kellnerin trat lächelnd auf sie zu.
»Hi«, krähte sie. »Was darf ich bringen?«
Bei ihrer schrillen Stimme zuckte Tatum zusammen. Es war viel zu früh für diese Helium einatmende, vor Fröhlichkeit sprühende Bedienung.
»Kann ich ein Käseomelett haben?«
»Aber sicher. Es ist eins der besten …«
»Super«, fiel er ihr rasch ins Wort. »Dazu hätte ich gern einen starken Kaffee.«
»Und was darf ich Ihnen bringen?«, wandte sich die Kellnerin an Zoe.
Aber Zoe starrte die Wand an. Es erweckte ganz den Anschein, als hätte sie die Frau nicht gehört, dabei war das schlichtweg unmöglich.
»Verzeihung? Miss? Was hätten Sie gern? Wir haben Pancakes, Bananenbrot, Waffeln …«
Sie würde noch die gesamte Speisekarte herunterrasseln. Das hielt Tatums Schädel jedoch beim besten Willen nicht aus. »Sie nimmt Bacon mit Spiegelei«, erklärte er. »Und den Bacon bitte extra knusprig. Und bringen Sie ihr auch einen starken Kaffee.«
»Okay.« Die Kellnerin wandte sich ab. Tatum wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie zur Küche gehüpft wäre, um die Bestellung zu übermitteln, aber sie ging ganz normal; wie ein normaler Mensch mit einer normalen Stimme.
»Sie klingt wie eine übertriebene Version von Alvin und die Chipmunks«, sagte er leise.
Zoe wandte sich ihm zu, schien jedoch durch ihn hindurchzusehen – und auch durch die Wand hinter ihm.
»Was ist los, Zoe?«, erkundigte er sich.
»Ich … denke nur nach«, antwortete sie.
»Das sehe ich«, erwiderte er. »Worüber denn?«
»Über den Fall.« Sie kaute wieder auf ihrer Unterlippe herum. Inzwischen wusste Tatum allerdings, dass sie das machte, wenn sie nachdachte und wenn sie sich wegen etwas unsicher war. Er beschloss, ihr etwas Zeit zum Sammeln ihrer Gedanken zu geben.
Die Kellnerin brachte ihnen zwei Tassen Kaffee und stellte sie mit einem fledermausartigen schrillen »Bitte schön« auf den Tisch. Tatum trank einen Schluck, und sofort war die Müdigkeit aus seinem Kopf verbannt und er bekam die Augen richtig auf. Es ging doch nichts über Kaffee. Er hatte schon von mehreren Leuten gehört, er würde zu viel Kaffee trinken und das sei nicht gut für ihn, aber seiner Ansicht nach waren diese Leute nur eifersüchtig und schlecht gelaunt, weil sie zu wenig Kaffee tranken.
Die Köche des Diners waren anscheinend auf Zack, da sie nur fünf Minuten später ihr Essen auf dem Tisch hatten. Tatum kostete sein Käseomelett und stellte erfreut fest, dass es gut war. Zoe fing ebenfalls an zu essen; sie säbelte sich große Stücke vom Spiegelei ab und steckte sie sich geistesabwesend in den Mund.
»Okay, irgendwas stimmt ganz eindeutig nicht«, stellte er besorgt fest.
»Was?«, fragte Zoe.
»Die Art, wie Sie essen … Normalerweise behandeln Sie alles auf Ihrem Teller, als wäre es ein von Gott gesandtes Wunder. Aber im Moment schlingen Sie es einfach runter. Reden Sie mit mir.«
»Es hat 2008 hier in Chicago zwei Morde gegeben«, sagte sie.
»Okay, reden Sie weiter, aber bitte etwas leiser.«
»Beide ermordeten Frauen wurden im Wasser gefunden und waren erwürgt worden. Der Mörder wurde nie gefasst.«
»Aha!«
»Ich glaube, es war derselbe Täter.«
Tatum runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Es waren öffentliche Orte an großen Gewässern.«
»Das reicht noch lange nicht.«
»Es gab da … Ich denke …«
Er beugte sich vor, damit er sie besser verstehen konnte.
»Als ich noch … ein Mädchen war, trieb ein Serienmörder in meiner Heimatstadt sein Unwesen. In Massachusetts.«
»Okay.«
»Es wurde nie jemand verurteilt. Sie haben einen Mann festgenommen, der sich in seiner Zelle erhängt hat, und danach hörten die Morde auf. Der Maynard-Serienmörder – so wurde er genannt – hat die Leichen auch immer in der Nähe von Gewässern zurückgelassen.«
»Und Sie glauben, diese Mörder würde derselbe Drang antreiben?«
»Nein«, antwortete Zoe. »Ich glaube, es ist derselbe Täter.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Zoe«, sagte Tatum. »Das hört sich …« Er suchte nach dem richtigen Wort.
»Nein, hören Sie mir zu. Die Sache ist die, unser Nachbar …«
»Das hört sich weit hergeholt an«, meinte er. »Sie suchen nach Verbindungen, wo es keine gibt.«
Er wusste, was als Nächstes kommen würde: Sie würde explodieren, ihn anschreien, hinausstürmen oder distanziert und wütend werden.
Zu seiner Überraschung sackte sie ein wenig in sich zusammen. »Okay«, sagte sie ganz leise. »Vergessen Sie’s.«
»Augenblick mal«, beharrte er. »Lassen Sie uns darüber reden. Vielleicht entgeht mir hier ja was oder Sie haben etwas gefunden und wir sollten darüber reden.«
»Nein«, entgegnete sie. »Es ist unwichtig.«
Es ist unwichtig?
»Zoe …«
»Lassen Sie uns zahlen und gehen«, forderte sie ihn auf, obwohl ihr Teller noch halb voll war. »Es ist schon spät.«