KAPITEL 55
Tatum zählte seine Schritte, während er im Warteraum des Krankenhauses auf und ab ging. Eins … zwei … drei … Er kam bis dreizehn. Beim letzten Mal hatte er es in zwölf Schritten geschafft, das Mal davor waren es fünfzehn gewesen, weil jemand im Weg gestanden hatte.
Er war sich nicht sicher, wie oft er diesen Weg schon gegangen war. Das konnte er längst nicht mehr zählen. Einhundertmal? Zweihundertmal? Tausendmal?
Der Linoleumboden war an zahlreichen Stellen zerkratzt. Tatum vermutete, dass er längst nicht der Einzige war, der im Laufe der Jahre hier seine Runden gedreht hatte. Dieser Raum hatte mehr Nervosität und Sorge gesehen als die meisten anderen. Würde der Warteraum ein Klassenzimmer in einer Bar treffen, könnte der sagen: »Du willst mir was von Besorgnis erzählen?«
Er verlor diesen Gedanken, und die skurrilen Bilder, die ihm normalerweise durch den Kopf schossen, verblassten zu nichts als Leere.
Ihm war es gelungen, einen kurzen Blick auf Zoe zu werfen, bevor er von einer Krankenschwester aus der Notaufnahme gescheucht worden war. Ihr Hals und Oberkörper waren blutüberströmt gewesen, und ihr blasses Gesicht sah aus, als wäre sie geschlagen worden. Er hatte sich bei diesem Anblick entsetzlich gefühlt und sich von der Krankenschwester versprechen lassen, dass sie ihn auf dem Laufenden halten werde.
Doch jetzt lief er in diesem Raum auf und ab, ohne dass ihn irgendjemand informierte.
Martinez hatte ihm etwa zehn Minuten lang Gesellschaft geleistet und sich dann verabschiedet. Er hatte versprochen, später wiederzukommen, wollte aber erst einmal die Aussage des Taxifahrers aufnehmen und herausfinden, was die Spurensicherung am Tatort entdeckt hatte.
Die kleine, anstrengende Frau hatte auf dem Behandlungstisch so hilflos ausgesehen. Sie hatte ihn nicht anschreien und ihm nicht widersprechen können. Er ballte die Fäuste und verspürte den Drang, auf etwas einzuschlagen. In L.A. hatte er zu Hause einen Boxsack gehabt, an dem er sich fast jeden Abend nach einem stressigen Tag abreagiert hatte. Bisher war er jedoch noch nicht dazu gekommen, ihn in seiner neuen Wohnung aufzuhängen. Jetzt hätte er diesen Boxsack gut gebrauchen können.
Nicht zu wissen, was überhaupt passiert war, setzte ihm sehr zu. Er hatte das im Laufe der Jahre bei anderen Menschen erlebt, die ihn um eine noch so kleine Information anbettelten oder ihm einen Schwall von Fragen stellten, der sich leicht mit einem Wort zusammenfassen ließ: Warum? Was hatte sie am Saganashkee Slough gemacht? Wer hatte sie angegriffen? Wo war ihr Angreifer jetzt?
Warum?
Sie hatte zuvor so zurückhaltend und besorgt gewirkt. Er hatte es zu diesem Zeitpunkt auf ihre Müdigkeit geschoben, war sich jetzt aber nicht mehr so sicher, dass das der Grund dafür gewesen war.
Tatum setzte sich und versuchte, die Fragen aus seinem Kopf zu verdrängen. Normalerweise betete er nicht, aber wann immer jemand, der ihm nahestand, in Gefahr schwebte, wandte er sich doch an Gott, um einen Handel mit ihm abzuschließen. Aus diesem Grund hatte er vor drei Jahren mit dem Rauchen aufgehört, nachdem sein Partner angeschossen worden war – das hatte er Gott versprochen, wenn sein Partner die Sache überlebte. Deswegen hatte er auch seinen brandneuen Toyota Camry nicht verkauft und das Geld der Kirche gespendet – Gott hatte seiner Mutter nicht geholfen, ihr Nierenversagen zu überleben.
Jetzt wurde es Zeit, wieder einmal mit Gott zu verhandeln. Er überlegte, was er als Gegenleistung für Zoes Leben anbieten konnte.
Gott, wenn Zoe …
»Tatum Gray?«
Er wirbelte herum und beäugte angespannt die Krankenschwester, die auf ihn zukam. Hatte sie einen tröstenden Blick aufgesetzt, oder wirkte sie eher besorgt oder voller mütterlicher Zuneigung?
Nein. Da war nichts als Ruhe. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.
»Sie liegt jetzt im Aufwachraum und wird wieder ganz gesund«, teilte ihm die Krankenschwester mit.
Tatum stieß erleichtert die Luft aus. »Kann ich sie sehen?«
»Sind Sie mit ihr verwandt?«
»Nein«, gab Tatum zu und zückte dann seine Dienstmarke. »FBI. Sie verfügt über wichtige Informationen, die wir so schnell wie möglich erfahren müssen.«
Die Frau schürzte die Lippen. Offenbar kaufte sie ihm das nicht ab. »Na gut«, sagte sie schließlich mit einer deutlich kühleren Stimme. »Sie können ein paar Minuten mit ihr sprechen. Ich hole Sie ab, sobald sie bereit ist.«
Tatum nickte erleichtert.
Nachdem die Krankenschwester gegangen war, ließ er sich auf einen Stuhl sinken und presste die Handflächen gegeneinander. Er stieß die Luft aus und tat es gleich noch einmal.
Neben ihm raschelte es, und jemand reichte ihm einen Pappbecher.
»Hier«, sagte Martinez. »Kaffee.«
Dankbar nahm Tatum den warmen Becher entgegen. »Vielen Dank. Die Krankenschwester hat mir eben mitgeteilt, dass es Zoe gut geht.«
»Das freut mich«, erwiderte Martinez sichtlich erleichtert.
»Was hat der Taxifahrer gesagt?«
»Sie hat ihn gebeten, sie zum Saganashkee Slough zu fahren, wo er an einer ganz bestimmten Stelle anhalten sollte«, berichtete Martinez. »Dort stieg sie aus, sagte, sie wäre in einer halben Stunde zurück, und ging am Ufer spazieren. Ein paar Minuten später parkte vor ihm ein anderer Wagen und ein Mann stieg aus.«
»Konnte er den Mann beschreiben?«
»Nur sehr vage. Sie versuchen gerade auf dem Revier, mit seiner Hilfe ein Phantombild zu erstellen. Er hat sich den Mann mit Absicht nicht so genau angesehen, weil er davon ausging, dass sich Zoe mit ihm dort treffen wollte.«
Tatum nickte. Das war naheliegend.
»Jedenfalls hat er auf sie gewartet. Nach einer Weile sah er den Mann zurückkommen. Er hat gehumpelt. Der Taxifahrer sprach ihn an, bekam jedoch keine Antwort. Der Mann stieg einfach in seinen Wagen und fuhr weg. Da machte sich der Taxifahrer dann doch Sorgen und ging Zoe suchen, die er vielleicht hundert Meter von der Straße entfernt bewusstlos auffand. Zu diesem Zeitpunkt hat er den Krankenwagen und die Polizei gerufen.«
»Konnte er den Wagen beschreiben?«
»Es war ein weißer Toyota Prius«, antwortete Martinez. »Das Nummernschild konnte er nicht sehen.«
»Wurde am Tatort etwas gefunden?«
»Wir haben ein Messer und etwas Blut gesichert. Eine Blutspur führte zu der Stelle, an der der Mann geparkt hatte, daher gehen wir davon aus, dass sie ihn ebenfalls verletzt hat.«
Tatum nickte.
»Passen Sie mal auf, Agent … Ich habe Sie das schon einmal gefragt: Was wollte sie dort?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, beteuerte Tatum. »Ich schwöre Ihnen, dass sie mir nichts davon erzählt hat.«
»Sie hat vorher nicht darüber gesprochen?«
»Nein.«
»Hat sie den Saganashkee Slough mal erwähnt?«
»Nein.«
»Tatum Gray?« Die Krankenschwester hatte den Warteraum erneut betreten. »Bitte folgen Sie mir.«
Tatum stand auf, und Martinez tat es ihm nach.
»Tut mir sehr leid«, wandte sich die Krankenschwester an Martinez. »Nur …«
Er zeigte ihr seine Dienstmarke. »Chicago PD. Ich muss mit ihr reden …«
Die Frau verdrehte die Augen. »In Ordnung. Kommen Sie bitte mit.«
Sie führte sie durch einen schmalen Flur und in einen kleinen weißen Raum. Zoe lag im Krankenbett und sah sehr mitgenommen aus. Tatum verkrampfte die Finger, als er den Verband um ihren Hals, das blaue Auge und die verfärbte Prellung auf ihrer Stirn bemerkte.
»Agent Gray«, murmelte sie benommen. »Lieutenant Martinez …«
Einen Moment lang glaubte Tatum schon, sie wollte sich für den Besuch bedanken oder ihnen versichern, dass es ihr gut ging.
»Rod Glover«, sagte sie. »Das ist sein Name.«
Er blinzelte und brauchte einen Augenblick, um die Information zu verarbeiten.
»Das ist der Name des Mannes, der Sie angegriffen hat?«, hakte Martinez mit schneidender Stimme nach.
»Ja. Er ist mir vom Revier aus gefolgt.«
Sie klang heiser und als würde ihr das Reden schwerfallen. Sie hatte Blutergüsse am Hals, die nicht vom Verband verdeckt wurden, und war offensichtlich gewürgt worden.
»Wer ist dieser Rod Glover?«, wollte Martinez wissen.
»Er ist ein Serienmörder, und ich glaube, er ist auch derjenige, der diese Frauen einbalsamiert hat.«
»Woher kennen Sie ihn?«
Sie schwieg eine Weile und schloss die Augen. »Er hat in Maynard drei Frauen ermordet. Vor langer Zeit.«
»1997«, erkannte Tatum, dem auf einmal übel wurde.
»Ganz genau.«
Martinez warf ihm einen Seitenblick zu. »Dann wussten Sie doch Bescheid?«
»Ich …« Tatum zögerte, da er sich nicht sicher war, was er wirklich wusste. »Ich glaube, sie hat versucht, mir davon zu erzählen.«
»Was wollten Sie am Saganashkee Slough?«, fragte Martinez.
»Ich wollte mit eigenen Augen die Stelle sehen, an der Pamela Vance ermordet wurde.«
»Wer ist Pamela Vance?«, fragten Martinez und Tatum nahezu gleichzeitig.
»Ein weiteres Opfer.« Man sah Zoe an, dass sie sich kaum noch konzentrieren konnte, und ihr fielen immer wieder die Augen zu.
»Okay.« Die Krankenschwester kam wieder herein. »Das reicht jetzt. Sie können morgen wieder mit ihr sprechen.«
Tatum verließ den Raum und fühlte sich, als wären seine Füße bleischwer geworden. Zoe hatte ihm von Glover erzählt, doch er hatte es abgetan. Offensichtlich hatte er ihr einmal zu oft nicht richtig zugehört, und sie hatte beschlossen, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Dabei war sie beinahe ums Leben gekommen. Und es war seine Schuld.
»Agent Gray«, sagte Martinez hinter ihm mit schneidender, kalter Stimme.
Er blieb stehen und drehte sich um. »Ja?«
»Ich dachte, Sie wüssten nichts von der Sache.«
»So ist es auch … Sie wollte mir davon erzählen. Sie sprach von einem Serienmörder, der in der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, drei junge Frauen getötet hat. Aber ich wollte ihr nicht zuhören.«
»Und sie hat nicht mit uns gesprochen«, fuhr Martinez fort. »Woraufhin sie verletzt wurde.«
»Ja.«
»Sagen Sie mir, was Sie wissen.«
Tatum erzählte ihm alles, was ihm aus seinem Gespräch mit Zoe im Diner in Erinnerung geblieben war. Es war nicht viel.
»Gut«, meinte Martinez dann. »Ich komme morgen wieder her, um sie gründlicher zu befragen. Bis auf Weiteres sind Sie beide nicht mehr mit diesem Fall befasst.«
»Was?«, fragte Tatum entsetzt. »Aber wir …«
»Sie führen hier eigene Ermittlungen durch. Wie ich es befürchtet hatte. Dr. Bentley hat sich in Gefahr gebracht, und das lag zum Teil daran, dass Sie uns nicht rechtzeitig alle Informationen weitergeleitet haben.«
»Augenblick …«
»Wir sind hier fertig, Agent, und sprechen uns morgen wieder.«