KAPITEL 59
Es war kurz nach zehn, als Tatum wieder bei seiner Wohnung ankam. Er holte tief Luft, betete zum Heiligen verunstalteter Wohnungen und öffnete die Tür.
Das Wohnzimmer sah fast wieder wie früher aus. Auf einem der Sofas prangte ein seltsamer neuer Fleck, der Fernseher hatte einen zehn Zentimeter langen Riss in der oberen linken Ecke, und zwei Topfpflanzen waren auf mysteriöse Weise verschwunden. Abgesehen davon sah alles sauber und ordentlich aus, und die entsetzlichen Dinge, die Tatum am Vorabend gesehen hatte, waren größtenteils verschwunden. Der Fisch, der einzige vorbildliche Bewohner dieses Hauses, schwamm in seinem Aquarium herum und sah sehr zufrieden aus. Auf dem Boden des Aquariums stand ein merkwürdiger Gegenstand, und als Tatum näher herantrat, stellte er fest, dass es sich um eine Bierflasche handelte. Dem Fisch schien sie nichts auszumachen, daher beließ er sie dort.
Er warf einen Blick in sein Schlafzimmer. Die Bettdecke war verschwunden, und Tatum konnte nur hoffen, dass sie verbrannt worden war. Dort stand noch eine verschlossene Tüte, in der er gerade so den Umriss seiner braunen Schuhe ausmachen konnte. Er trug sie in die Küche und warf sie in den Mülleimer. Freckle saß auf dem Küchentisch und bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick. Tatum vergewisserte sich, dass der Kater genug zu fressen und zu trinken hatte, und wollte ihn streicheln, woraufhin sich das eben noch ruhige Tier in nicht einmal einer Nanosekunde in ein durchgedrehtes, kratzendes Monster verwandelte. Schnell zog Tatum die jetzt blutende Hand wieder zurück.
»Arschloch«, schimpfte er.
Freckle fauchte ihn an und legte sich in der Gewissheit hin, seine bösen Pläne nun ungestört schmieden zu können.
Tatum ging zu Marvins Zimmertür und klopfte an.
»Hey, Marvin?«, rief er.
Sein Großvater öffnete grinsend die Tür. »Willkommen zurück.«
»Danke, dass du hier sauber gemacht hast«, sagte Tatum.
»Ich war das nicht. Bist du verrückt? Ist dir bewusst, wie es hier ausgesehen hat? Ich habe eine Putzfrau engagiert.«
»Na, das ist doch ebenso gut. Danke.«
»Aber gern. Möchtest du einen Tee?«
Tatum nickte und folgte seinem Großvater in die Küche. Marvin blieb in der Tür stehen und starrte Freckle an, der den Blick erwiderte und die Augen zusammenkniff.
»Verschwinde, Freckle!«, schimpfte Tatum, der sich noch immer über die zerkratzte Hand ärgerte.
Der Kater stand auf, streckte sich, sprang vom Tisch und ging ganz langsam aus der Küche, wobei sein ganzer Körper Verachtung auszustrahlen schien.
»Irgendwas stimmt mit dieser Katze nicht«, stellte Marvin fest und holte zwei Tassen aus dem Küchenschrank.
»Da hast du recht«, stimmte Tatum ihm zu. »Aber dem Fisch scheint es gut zu gehen.«
»Ja.« Marvin nickte. »Ich glaube, ihm gefällt sein neues Zuhause. Wie war’s in Chicago?«
»Nicht so gut. Ich hab Mist gebaut.«
»Da treibt ja ein übler Killer sein Unwesen. Hab ich in der Zeitung gelesen. Warst du wegen diesem Kerl da?«
»Ja.«
»In der Zeitung stand auch, dass du in Begleitung einer süßen Frau dort gewesen bist.«
»Stand in dem Artikel, dass sie süß ist?«
»Nein, aber da war ein Foto von euch beiden an einem der Tatorte, und ich konnte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass sie süß ist. War sie gut?«
Tatum warf dem alten Mann einen überraschten Blick zu und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Frage unschuldig gemeint war. Marvin bezog sich auf ihre Fähigkeiten als Profiler. »Sie ist … sogar unglaublich.«
»Warum habt ihr den Kerl dann nicht geschnappt?«
»Wir wurden abgelenkt«, antwortete Tatum. »Da war noch ein Mörder … vielleicht ist es auch derselbe Mann. Wir sind uns noch nicht sicher.«
»Findet in Chicago gerade eine Versammlung der Serienmörder statt oder was?«
»Sieht beinahe danach aus.« Tatum setzte sich an den Küchentisch.
Marvin reichte ihm eine dampfende Tasse, nahm dann ihm gegenüber Platz und nippte an seinem Tee. »Und«, fragte er, »kriegt ihr den Kerl noch?«
»Die Polizei wird ihn vermutlich erwischen«, antwortete Tatum geistesabwesend und runzelte die Stirn. Er dachte über das nach, was ihm Zoe über die Maynard-Serienmorde erzählt hatte.
»Es gibt da diesen Ort namens Maynard«, begann er.
»Klingt für mich eher wie eine Soße.«
»Nein, es ist eine Stadt. In Massachusetts.«
»Nie davon gehört.«
»Das überrascht mich nicht. Ist eine Kleinstadt.«
»Wie Wickenburg?«, fragte Marvin verächtlich.
»Ja, ich schätze schon. Vielleicht etwas größer. Ich dachte, es hat dir in Wickenburg gefallen.«
»Pah. Anfangs war alles wunderbar. Eine friedliche Kleinstadt, ein Ort, an dem jeder jeden kennt und wo man sich auf der Straße begrüßt. Klingt idyllisch, nicht wahr?«
»Es klingt auf jeden Fall nett.«
»Die Sache, die dir klar sein muss, Tatum, ist, dass in einer Kleinstadt jeder jeden kennt und auch eine Meinung über denjenigen hat. Und diese Meinungen bleiben bestehen und verbreiten sich manchmal. Man gerät mit einem Nachbarn in einen kleinen Streit, und schon weiß die ganze Stadt davon. Prügelt sich dein Kind in der Schule, hat auf einmal jeder etwas dazu zu sagen. Und solche Dinge verschwinden nicht einfach wieder, nein, sie steigern sich sogar. Ich war Marvin Gray, als ich dort hinzog, und als ich wieder ging war ich ›Marvin der-einmal-bei-der-Stadtversammlung-geschrien-hat-und-sich-immer-mit-dem-Schuldirektor-in-die-Haare-kriegt Gray‹.«
»Das ist ein ziemlich langer Name«, stellte Tatum fest. »War Dad so ein schwieriges Kind, dass du dich mit dem Rektor streiten musstest?«
»Er war ein Teenager und manchmal ziemlich dickköpfig. Und er konnte nie den Mund halten.« Marvin grinste, wie er es immer tat, wenn er über Tatums Dad sprach. »Er war ein guter Junge. Aber alle hatten eine bestimmte Meinung von ihm, sodass er nie eine wirkliche Chance bekam, als er größer wurde.«
»Schuldig, bis die Unschuld bewiesen ist, was?«, fragte Tatum und trank einen Schluck Tee.
»Ganz genau.«
Tatum starrte die Tasse in seiner Hand an. »Ich muss vielleicht noch mal für einen oder zwei Tage weg. Aber leg diesmal bitte nicht wieder das Haus in Schutt und Asche.«