KAPITEL 63
Die Summer Street von Maynard war recht charmant, und zahllose Bäume tauchten die schmale Straße in ihren Schatten. Große Gärten säumten die Straße, die fast alle gut gepflegt aussahen. Tatum stieg aus seinem Mietwagen, blieb kurz im Sonnenlicht stehen und genoss die Ruhe, die dieser Ort ausstrahlte. Als er endlich den Eindruck hatte, lange genug getrödelt zu haben, ging er die Auffahrt des Hauses hinauf, vor dem er parkte. Es war ein weißes Haus mit orangefarbenen Dachschindeln, zwei Fenstern und einer Tür dazwischen. Es sah aus wie die Häuser, die Tatum als Kind immer gemalt hatte. Das ging ganz einfach. Ein blauer Buntstift für die obere Hälfte des Blattes – das war der Himmel –, dann ein grüner, um das Gras am unteren Rand zu malen. Ein Rechteck mitten auf dem Gras und ein Dreieck darauf. Zwei Quadrate als Fenster und eine rechteckige Tür. Dazu noch Blumen nach Lust und Laune und in den Farben, die ihm zur Verfügung standen. Ach ja, und ein gelber Viertelkreis in der linken oberen Ecke. Das war die Sonne. Dieses Haus sah beinahe so aus, als wäre es Tatums Bildern entsprungen, nur dass es etwas größer war und dass davor noch einige niedrige Bäume standen.
Er klopfte an die Tür. Einige Minuten später stand ihm eine alte grauhaarige Frau mit Perlenohrringen und einem freundlichen Lächeln gegenüber.
»Ja?«, fragte sie.
»Dr. Foster?«, erkundigte sich Tatum.
»Die bin ich.«
Er zeigte seine Dienstmarke vor. »Ich bin Agent Gray vom Federal Bureau of Investigation. Dürfte ich Ihnen vielleicht ein paar Fragen stellen?«
»Oh!« Die Frau riss die Augen auf, und er begriff, dass sie FBI-Agenten bisher nur aus dem Fernsehen kannte. »Worum geht es denn? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich stelle nur einige Nachforschungen in Bezug auf einen alten Fall an.«
»Verstehe. Hätten Sie gern eine Limonade? Ich habe gerade frische gemacht.«
Wenn er Limonade trank, würde er definitiv nicht mehr so einschüchternd wirken, aber er hatte auch gar nicht vor, diese nette Dame zu verängstigen. Außerdem kam ihm eine Limonade jetzt sehr gelegen.
»Gern«, erwiderte er lächelnd.
Sie führte ihn auf die hintere Veranda, auf der zwei Plastikstühle neben einem kleinen Tisch standen. Er setzte sich auf einen der Stühle, während sie ins Haus ging, und sah auf die Uhr. Ihm blieben nur noch ein paar Stunden bis zum Rückflug. Er hatte nicht viel Zeit und musste sich beeilen.
Einen Augenblick später kam Dr. Foster mit einem Krug voller Limonade und zwei Gläsern wieder heraus.
»Kekse?«, fragte sie und stellte ihm ein Glas auf den Tisch.
Irgendwo musste er eine Grenze ziehen. »Nein, danke.«
Sie setzte sich und schenkte ihnen ein. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich ermittle im Mordfall Clara Smith«, sagte er.
»Oh«, murmelte sie. »Das ist schon sehr lange her. Sie wurde von einem sehr verstörten Teenager umgebracht.«
»Wirklich?« Tatum nippte an seinem Glas. »Ich dachte, es sei nie zu einer Verurteilung gekommen.«
»Nur, weil er vorher Selbstmord begangen hat«, erwiderte Foster. »Doch es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass er die Morde begangen hat.«
Tatum wäre bei dem Wort Tatsache beinahe zusammengezuckt. Wenn einem alle immer dasselbe einredeten, wurde aus einer Vermutung schnell eine Tatsache.
»Ich würde Sie gern nach der von Ihnen geschätzten Todeszeit fragen.« Er zog eine Fallakte aus der Tasche und vergewisserte sich, dass es sich um die richtige handelte.
»Ich hoffe, ich kann Ihnen da weiterhelfen. Das ist ziemlich lange her.«
»Da haben Sie recht. Ihrer Schätzung nach starb Clara Smith zwischen … achtzehn und neunzehn Uhr.«
»Wenn Sie das sagen.«
»Aber Chief Price hat mir erzählt, dass Sie anfangs eine frühere Todeszeit festgelegt hatten«, sagte Tatum, dem die Lüge mühelos über die Lippen kam. Er lächelte die Frau an und trank einen Schluck Limonade.
»Ja, daran erinnere ich mich. Zuerst ging ich davon aus, sie müsste früher gestorben sein, aber dann stellte ich fest, dass ich mich geirrt haben musste. Es war schwer festzustellen. Die Leiche hatte an einem kalten Tag im Wasser gelegen und war sehr schnell abgekühlt.«
»Das ist durchaus verständlich.« Tatum nickte; sein Verdacht hatte sich bestätigt. »Erinnern Sie sich noch daran, welche Todeszeit Sie zuerst geschätzt haben?«
Sie runzelte die Stirn. »Das weiß ich wirklich nicht mehr. Um die Mittagszeit, glaube ich. Vielleicht gegen vierzehn Uhr.«
»Aber das konnte nicht stimmen«, gab Tatum zurück, »weil Manny Anderson zwischen dreizehn und sechzehn Uhr in der Bücherei gewesen ist. Dann hätte er sie nicht getötet haben können.«
»Ich sagte ja bereits, dass ich meinen Fehler schnell bemerkt habe.«
»So schnell nun auch wieder nicht, Dr. Foster«, widersprach Tatum ihr. »Sie haben zwei Tage dafür gebraucht.« Er zeigte ihr den Bericht.
»Ich … weiß es wirklich nicht mehr. Das ist sehr lange her.«
Tatum leerte sein Glas. »Die Limonade ist köstlich«, lobte er. »Ich habe noch eine interessante Tatsache für Sie. Während der von Ihnen geschätzten Todeszeit hat ein Suchtrupp nach Clara gesucht. Nach ihrem Verschwinden machten sich die Leute große Sorgen, daher wartete man mit der Suche nicht lange. Und Claras wahrer Mörder gehörte diesem Suchtrupp an. Aber aufgrund Ihrer Schätzung hatte er ein wasserdichtes Alibi.«
Dr. Foster wurde kreidebleich.
»Manny Anderson hat niemanden getötet«, fuhr Tatum fort. »Aber er wurde verdächtigt. Wenn Menschen Angst haben, wollen sie jemandem die Schuld geben. Chief Price – damals war er natürlich noch nicht Chief – hat Ihnen gesagt, dass Sie sich hinsichtlich der Todeszeit geirrt haben mussten. Möglicherweise hat es zwei Tage gedauert, bis er Sie davon überzeugt hatte. Vielleicht brauchte er auch zwei Tage, um herauszufinden, dass Manny für diesen Abend kein Alibi hatte. In jedem Fall haben Sie Ihre Schätzung so angepasst, dass Manny verhaftet werden konnte.«
»Es … es war sehr schwer einzuschätzen. Draußen war es kalt …«
»Natürlich.«
»Und die Morde hörten auf. Es musste der Anderson-Junge gewesen sein.«
Tatum seufzte. Beinahe hätte er ihr von den Morden erzählt, die 2008 in Chicago verübt worden waren. Von der Trauer, die Manny Andersons Eltern hatten durchmachen müssen, die ihren einzigen Sohn verloren hatten und danach jahrelang versuchten, seine Unschuld zu beweisen. Aber er schwieg. Sein Job war es, Mörder zu fangen, und nicht, siebzigjährige Damen zu verunsichern, die ihm leckere Limonade anboten. Sie hatte einen Fehler gemacht, doch sie war verängstigt und verzweifelt gewesen, genau wie jeder andere in der Stadt.
»Haben Sie die geschätzte Todeszeit von vierzehn auf achtzehn bis neunzehn Uhr verändert?«, fragte er.
»Ja«, gab sie leise zu.
»Und wussten Sie, dass Manny für den frühen Nachmittag ein Alibi hatte?«
»Ja, aber …«
»Danke, Dr. Foster.«