KAPITEL 69
Zoe schloss die Beifahrertür und versuchte, sich zu konzentrieren. Die Videoaufnahmen aus dem Geschäft standen ihr noch immer vor Augen. Etwas in der Haltung oder dem Gesichtsausschnitt, den sie hatte erkennen können, kam ihr bekannt vor, doch der Mann war nie richtig zu sehen gewesen. Die Qualität der Aufnahme war schlecht, und sein Gesicht blieb fast immer im Schatten. Dennoch nagte etwas an ihr, als läge ihr ein Wort auf der Zunge, das ihr einfach nicht über die Lippen kommen wollte.
Kopfschüttelnd betrachtete sie das kleine, marode Häuschen. Es war winzig, die Wände bestanden alle aus weißem Sperrholz, von dem bereits die Farbe abblätterte. Die beiden vorderen Fenster strotzten vor Dreck. Der Rasen vor dem Haus war von braunen Flächen durchzogen und halb unter trockenem Laub verborgen. Er grenzte an die Straße, aber es gab keinen Zaun, der den Vorgarten, so es denn einen gab, abgrenzte. Die Häuser in der näheren Umgebung sahen auch nicht viel besser aus.
Tatums Freund, jemand aus dem Büro in L.A., hatte es geschafft, das komplette Kennzeichen aus dem Video, das sie ihm geschickt hatten, zu ermitteln. Laut Kraftfahrzeugbehörde war der Wagen auf eine Bertha Alston zugelassen, die hier wohnte. Hinter dem Haus war eine kleine Garage zu erkennen, die in etwa dieselbe Größe hatte. Das Tor war geschlossen, und man konnte von außen nicht sehen, ob darin ein Wagen stand.
»Warten Sie hier«, sagte Tatum.
»Äh … Nein.«
»Es könnte gefährlich werden.«
»Aus diesem Grund bleibe ich auch in der Nähe eines FBI-Agenten. Damit ich in Sicherheit bin.«
Er verdrehte die Augen. »Sie gehen einem echt auf die Nerven.« Dann ging er vorsichtig weiter.
Zoe blieb zwei Schritte hinter ihm. Er bedeutete ihr, sich an die Wand zu stellen, was sie gehorsam und mit klopfendem Herzen tat. Tatum lehnte sich auf der anderen Seite der Tür an die Wand und klopfte an.
Sie warteten. Nach einigen Sekunden klopfte er erneut. Im Haus blieb alles still.
»FBI. Aufmachen!«
Das Geräusch eines Flugzeugs hoch am Himmel und der Verkehrslärm waren das Einzige, was Zoe abgesehen von ihrem Herzschlag hören konnte.
Zaghaft blickte Zoe zum Fenster hinüber. Der Vorhang war zugezogen, sodass man nicht das Geringste im Inneren erkennen konnte. Sie war sich ohnehin nicht sicher, ob die schmutzige Fensterscheibe dafür nicht bereits ausgereicht hätte.
Tatum hämmerte mit der Faust gegen die Tür.
»Sie ist nicht da!«, rief eine altersschwache, brüchige Stimme vom Nachbarhaus herüber. Zoe drehte sich um. Eine runzlige Frau mit riesiger Brille beäugte sie interessiert und hob eine faltige, spindeldürre Hand, um sich die Brille zurechtzurücken, deren Gläser an Glasbausteine erinnerten.
»Wer ist nicht da?«, fragte Tatum.
»Ach … Wen suchen Sie denn?«
»Bertha.«
»Bertha ist tot. Sie ist vor ein paar Monaten gestorben.«
»Dann eben denjenigen, der jetzt hier wohnt«, sagte Zoe. »Ist das ihr Sohn?«
»Ach, da wohnt niemand mehr. Ich glaube, ihre Söhne versuchen, das Haus zu verkaufen.«
»Wissen Sie, wo wir sie finden können, Ma’am?«
»Ach, das hängt davon ab, wer Sie sind.«
Tatum zückte seine Dienstmarke. »FBI, Ma’am.«
Sie war nicht beeindruckt. »Ach, und was wollen Sie von Berthas Söhnen?«
»Wir wollen nur mit ihnen reden, Ma’am.«
Sie nickte nachdenklich, sagte aber nichts.
»Können Sie uns sagen, wie wir sie erreichen können?«
»Ach, das weiß ich wirklich nicht.«
Tatum seufzte.
»Stecken sie in Schwierigkeiten?«, wollte die Alte wissen und rückte ihre Brille schon wieder gerade.
»Wir möchten nur mit ihnen reden.«
»Ach, ich wusste schon immer, dass sie Ärger machen würden. Wer wie Berthas Kinder aufwächst, kommt irgendwann vom Weg ab.« Sie keckerte, als hätte sie den besten Witz aller Zeiten erzählt. Vielleicht war dem auch so.
Dass die Frau jeden Satz mit »Ach« anfing, ging Zoe langsam auf die Nerven. »Wie meinen Sie das? Hat sie ihre Kinder misshandelt?«
»Ach, ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie mit misshandelt meinen, aber sie hat ihre Söhne oft verprügelt. Ihre Tochter war noch schlimmer dran, glaube ich. Und sie hat sie angeschrien und mit Sachen beworfen … wenn sie nüchtern war. Und wenn sie was getrunken hatte, wurde sie richtig schlimm.«
»Ma’am«, begann Tatum, »wir müssen wirklich dringend …«
»Wie schlimm?«, wollte Zoe wissen. Sie hatte den Eindruck, diese runzlige, knorrige alte Frau würde alle Antworten kennen, und sie schien nur zu gern bereit zu sein, sie mit ihnen zu teilen.
»Ach, wenn sie betrunken war, drehte sie völlig durch. Behauptete, der Teufel würde zu ihr sprechen, manchmal war es auch ihr Ex-Mann. Sie hat einmal einen ihrer Jungs mit Haarspray eingesprüht und versucht, ihn mit einem Streichholz in Brand zu stecken. Noch dazu mitten auf der Straße. Ich habe die Polizei gerufen.«
Sie sprach das Wort »Polizei« sehr seltsam aus und machte eine ganze Sekunde Pause nach der Silbe »Po«, bevor sie »lizei« halb schreiend hinterhersetzte. Zoe dämmerte, dass Bertha nicht die einzige Verrückte in der Gegend gewesen war.
»Und, ach, natürlich war da noch die Sache mit ihrer Tochter. Aber das wissen Sie bestimmt schon.«
Sie klang sehr fröhlich, als wüsste sie genau, dass die beiden es nicht wussten, und konnte es kaum erwarten, es ihnen zu erzählen, wollte aber darum gebeten werden.
»Was war denn mit ihrer Tochter?«, erkundigte sich Zoe.
»Ach, ich dachte, das wüsste jeder. Ihre Tochter ist mit dreizehn gestorben. Wie sich herausstellte, hatte sie Lungenkrebs, wahrscheinlich, weil Bertha ständig im Haus geraucht hat. Das Verrückte war, dass Bertha niemandem vom Tod ihrer Tochter erzählt hat. Sie ließ das Mädchen einfach über eine Woche da liegen und behauptete, sie würde sich nur ausruhen. Später fanden wir heraus, dass Bertha ihre Söhne gezwungen hat, ihrer toten Schwester Gesellschaft zu leisten. Sie hat sie im Haus eingesperrt und ihnen gesagt, ihre Schwester würde sich endlich wie ein braves Mädchen benehmen. Und sie mussten für sie beten, damit sie wieder gesund wurde. Über eine Woche lang waren sie alle mit der verwesenden Leiche eingesperrt, und das mitten im Sommer.«
Zoe warf Tatum einen Blick zu, den er mit entsetzter Miene erwiderte. Das ist er!
»Es hat schrecklich gestunken. Ich musste die Po…lizei rufen. Die stürmten das Haus, fanden die Tochter madenübersät, die Jungs halb krank, überall Erbrochenes, und Bertha war sturzbesoffen und hatte das Bewusstsein verloren. Ja …« Sie verstummte kurz. »Ich dachte, das weiß jeder«, fügte sie nach einer Weile hinzu.
»Was ist aus ihren Söhnen geworden?«, fragte Zoe.
»Ach, die leben beide noch.«
»Kennen Sie ihre Namen?«
»Ach …« Die Nachbarin starrte einen Augenblick ins Leere. »Ist doch nicht wahr. Sie fallen mir nicht mehr ein. Einer der beiden hat seinen Nachnamen geändert, weil er seine Mutter so gehasst hat. Der andere hat den Namen behalten. Gleich fällt es mir wieder ein …« Sie schnalzte mit den Lippen. »Nein. Keine Chance.«
»Wissen Sie, wo wir sie finden können?«
»Ach, einer der beiden hat ein Geschäft. Er ist irgendein Handwerker. Elektriker, glaube ich. Ja, er ist ganz bestimmt Elektriker.«
Zoes Gehirn lief auf Hochtouren, und unzählige Gedanken stürzten gleichzeitig auf sie ein. Ihr Herz raste. Lily hatte weder »Hummer« noch »Trucker« gesagt.
»Ich glaube, er ist Klempner«, sagte sie.
»Ach, da haben Sie recht«, stimmte ihr die alte Nachbarin zu. »Er ist Klempner, nicht Elektriker. Sein Name ist …«
»Clifford Sorenson.«
»Genau. Aber als er noch klein war, hat seine Mom ihn immer Cliff genannt.«