KAPITEL 72
Vor Sorensons Klempnerei stand nur ein Van, als sie neben dem kleinen Lagerhaus parkten. Einer der Klempner war anscheinend unterwegs. Zoe stieg aus, knallte die Wagentür zu und ging zum Van. Sie hörte, wie Tatum hinter ihr hergerannt kam, dann packte er sie am Handgelenk.
»Was ist?«, fauchte sie.
Er betrachtete sie besorgt. »Wir haben keinen Durchsuchungsbeschluss und auch nicht die Erlaubnis, uns hier aufzuhalten. Bleiben Sie einfach cool.«
»Ja«, murmelte sie und fühlte sich alles andere als cool.
Gemeinsam näherten sie sich gemäßigten Schrittes dem Van. Als sie davorstanden, drückte sich Tatum dagegen und versuchte, die Tür zu öffnen, die jedoch abgeschlossen war. Zoe ging um den Wagen herum und warf einen Blick hinein. Die hinteren Fenster waren abgedunkelt, und man konnte nicht das Geringste erkennen. Tatum trat neben sie und starrte den Wagen an.
»Kein Blut, kein Formaldehyd, nicht einmal eine Mitgliedskarte für den Klub der Serienmörder.«
Zoe nickte deprimiert. »Lassen Sie uns reingehen.«
»Und was dann?«
»Na ja … Ich war ja schon mal hier und könnte behaupten, dass ich noch ein paar Fragen habe.«
Tatum sah nicht zufrieden aus, aber sie zuckte mit den Achseln. Was blieb ihnen denn anderes übrig? Wenn sie Martinez jetzt anriefen, würden sie nichts anderes erreichen, als dass man sie wieder bat, die Stadt zu verlassen.
Sie betrat die Werkstatt und schaute sich rasch um. Clifford Sorenson saß hinter seinem Schreibtisch und las Zeitung. Als Tatum dann hereinkam, ließ Clifford die Zeitung sinken und sah sie erstaunt an.
»Hallo«, sagte er. »Sie sind die Frau vom FBI, nicht wahr?«
Zoe schluckte schwer. »Ganz genau. Und das ist Agent Gray, mein Partner.«
Clifford nickte Tatum zu. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er leicht unterkühlt.
»Ich habe nur noch ein paar Fragen«, erwiderte Zoe. »Hätten Sie eine Minute Zeit?«
»Sicher.« Clifford faltete die Hände. Er bot ihnen weder einen Stuhl noch einen Kaffee an. Offensichtlich waren sie nicht erwünscht.
»Mir wäre es lieber, wenn uns niemand hören kann«, sagte Zoe vorsichtig. »Sind wir allein, oder ist Ihr Bruder in der Nähe?«
»Hier sind nur Sie beide und ich«, antwortete Clifford. »Mein Bruder ist bei einem Kunden.«
Zoe nickte und spürte einen Hauch von Zufriedenheit. Sie waren also tatsächlich Brüder. »Gut. Ich wollte nur noch einmal kurz den Zeitablauf für die Zeit vor dem Verschwinden Ihrer Verlobten bestätigen. Sie waren mit Ihren Freunden angeln, richtig?«
»Ganz genau.«
»Nur mit Ihren Freunden? Sonst war niemand dabei?«
»Nein, da waren nur meine Freunde.«
»Der Grund, aus dem ich Sie das frage, ist, dass Erinnerungen manchmal unabsichtlich verfälscht werden, insbesondere nach langer Zeit. Hat Ihr Bruder Sie mal bei einem Angelausflug begleitet?«
»Manchmal schon. Aber an diesem Tag nicht. Und ich erinnere mich ganz genau, schließlich war es der schlimmste Tag meines Lebens.«
Ach ja? War er wirklich schlimmer als die Tage, die Sie mit Ihrer toten Schwester im Haus eingesperrt waren?
»Erinnern Sie sich noch daran, warum er Sie nicht begleitet hat?«
Clifford kniff die Augen zusammen. »So langsam habe ich den Eindruck, dass Sie auf etwas Bestimmtes hinauswollen, Agent. Versuchen Sie wieder einmal, mir den Mord anzuhängen? Vielleicht rufe ich lieber meinen Anwalt an.«
»War Susan Warner eine Kundin von Ihnen?«, fragte Zoe verzweifelt.
»Jetzt rufe ich definitiv meinen Anwalt an.«
»Wir bezichtigen Sie nicht des Mordes an Ihrer Verlobten, Sir«, schaltete sich Tatum leise ein. »Aber wir haben einen Verdächtigen, und es würde uns helfen, wenn Sie unsere Fragen beantworten.«
»Wirklich?«, entgegnete Clifford. »Denn auf mich macht es den Eindruck, als würden sich Ihre Fragen nur um mich drehen.«
Zoes Magen zog sich zusammen, während sie die verhärteten Züge des Mannes anstarrte. Wie sicher war sie sich, dass sein Bruder und nicht er der Mörder war? Denn wenn sie sich irrte und ihm sagte, was sie wussten, dann verriet er ihnen möglicherweise, wo sich sein Bruder aufhielt, und verschwand, sobald sie gegangen waren. Die klügste Vorgehensweise wäre gewesen, mit Martinez zu reden. Ihn davon zu überzeugen, dass sie hier genug Gründe zum Handeln vorliegen hatten. Sich einen Durchsuchungsbeschluss zu besorgen und die Brüder beschatten zu lassen.
Das einzige Problem dabei war ihr ungutes Gefühl, dass Jeffrey längst auf der Suche nach einem neuen Opfer war. Es möglicherweise bereits gefunden hatte. Schlimmstenfalls blieben ihnen nur Stunden, bis eine weitere Frau den Tod fand. Oder Minuten.
Aber mehr als dieses ungute Gefühl hatte sie nicht. Nach allem, was sie wussten, konnte genauso gut Clifford der Mörder sein. Oder die Brüder arbeiteten zusammen. Vielleicht waren sie auch beide unschuldig. Wollte sie den Fall wirklich in Gefahr bringen, indem sie ihre Karten auf den Tisch legte?
Sie warf Tatum einen besorgten Blick zu. Er wirkte ganz ruhig und nickte ihr kaum merklich zu. Offensichtlich vertraute er ihr.
Zoe wandte sich wieder an Clifford Sorenson. »Sir, wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Bruder Ihre Verlobte getötet hat.«
Er riss die Augen auf. Dann griff er nach seinem Telefon und wählte eine Nummer. »Ich rufe meinen Anwalt an«, sagte er. »Und danach rede ich mit meinem Bruder, damit er ebenfalls mit seinem Anwalt spricht. Sie haben doch nicht alle Tassen im Schrank …«
»Denken Sie doch mal zurück«, bat Zoe ihn hastig. »Hat Jeffrey Sie sonst immer auf Ihre Angelausflüge begleitet? Sie sagten vor zwei Wochen, Sie würden mehrmals die Woche mit ihm angeln gehen. Aber an diesem Abend ist er nicht mitgekommen, nicht wahr? Und wo war er in der Woche, als Ihre Verlobte vermisst wurde und bevor man die Leiche gefunden hat?« Sie bemerkte, dass er verharrte und seine Hand zitterte. »Haben Sie ihn in der Zeit überhaupt gesehen? Ich bezweifle es. Was glauben Sie, wo er war? Was war wichtiger, als seinen Bruder zu unterstützen und bei der Suche zu helfen?«
Sorenson sah aus, als wäre ihm übel, und sie wusste, dass ihm gerade jetzt aufging, dass sein Bruder bei der Leiche seiner Verlobten gewesen sein konnte.
»Erinnern Sie sich, was Sie mir erzählt haben? Veronika hat zu Ihnen gesagt, dass einige Äpfel nicht weit vom Stamm fallen. Damit bezog sie sich nicht auf Ihren Vater und Sie. Sie meinte Ihren Bruder und Ihre Mutter. Wir kennen Ihre Familiengeschichte, Mr Sorenson. Wir wissen von der Krankheit Ihrer Mutter. Hat Jeffrey angefangen, seltsame Dinge zu Veronika zu sagen? Hat er ihr mit seinem irrationalen Benehmen Angst eingejagt? Das würde auch erklären, warum sie so angespannt war und nicht allein gelassen werden wollte. Hatte Jeffrey einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung? War er nach dem, was mit Ihrer Schwester passiert war, normal? Oder geriet er manchmal in Schwierigkeiten? Hatte er jemals eine Freundin? Haben Sie je eine seiner Freundinnen kennengelernt? Können Sie sich wirklich sicher sein, dass Ihr Bruder die Tat nicht begangen hat, Mr Sorenson?«
Das alles waren nur Vermutungen und Ahnungen, aber seine Miene ließ erkennen, dass sie mit einigem – oder vielleicht sogar dem Großteil davon ins Schwarze getroffen hatte. Ganz langsam ließ er den Telefonhörer wieder sinken. Zoe wusste, dass der Schock nachlassen würde, dass er in ein oder zwei Minuten wieder logisch denken und versuchen würde, rationale Antworten auf all ihre Fragen zu finden. Sie musste jetzt zuschlagen, solange das Eisen noch heiß war.
»Eine Frau namens Susan Warner ist vor einigen Monaten ums Leben gekommen«, fuhr sie rasch fort. »Sie haben davon bestimmt in der Zeitung gelesen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass ihr Tod mit dem von Veronika in Verbindung steht. Und wir vermuten, dass sie Ihre Kundin gewesen ist und dass Ihr Bruder mehrmals etwas in ihrer Wohnung repariert hat. Könnten Sie das vielleicht nachschauen? Möglicherweise liegen wir ja auch völlig falsch. Vielleicht ist das alles ein großes Missverständnis.«
Clifford wandte sich seinem Laptop zu und fing an zu tippen, fast schon mechanisch und mit benommenem Gesichtsausdruck. Schließlich lehnte er sich zurück und sagte mit geknickter, tonloser Stimme: »Susan Warner war Kundin bei uns. Jeffrey ist dreimal in ihrer Wohnung gewesen.«
Zoes Gedanken überschlugen sich. Da waren so viele Fragen, die sie diesem Mann stellen wollte. Aber eine war wichtiger als alle anderen.
»Wo ist Ihr Bruder jetzt?«, verlangte sie zu erfahren.
»Ich … ich weiß es nicht. Er hat mir nicht gesagt, wo er hinfährt.«
»Sie sagten vorhin, er sei bei einem Kunden.«
»Davon ging ich aus. Aber er hat nicht mit mir darüber gesprochen.«
»Wir brauchen eine Liste aller Kunden, die Ihr Bruder in den letzten drei Monaten aufgesucht hat«, erklärte Tatum.
»Das könnten mehrere hundert Namen sein.«
»Sehen wir einfach mal nach, okay?«
Cliffords Kampfgeist war erloschen. Er zeigte ihnen, wie sie die Excel-Tabelle auf dem Laptop lesen konnten. Tatum setzte sich an den Computer und ging die Liste durch. Zoe wollte ihn schon daran hindern, merkte aber schnell, dass er die Daten besser durchschaute als sie. Für einen kräftigen FBI-Agenten konnte er erstaunlich gut mit dem Computer umgehen.
Die Liste bestand aus dreiundneunzig Namen.
»Er wird sie zu Hause überfallen«, sagte Zoe. »Was bedeutet, dass er es vermutlich auf eine alleinstehende Frau abgesehen hat.«
Tatum blendete die Männer aus, womit noch einundvierzig Namen übrig blieben.
»Glauben Sie, er hat es auf eine Frau mit Kindern abgesehen?«, wollte Tatum wissen.
»Gut möglich«, antwortete Zoe. »Aber das wird aus dieser Liste nicht hervorgehen.«
»Laura Summer«, warf Clifford ein. »Sie hat um einen Rabatt gebeten, weil sie alleinerziehende Mutter ist.«
Zoe sah sich den Eintrag an. »Er hat sie zweimal aufgesucht. Ich glaube, das ist sie.«
»Wir müssen auf Nummer sicher gehen«, erklärte Tatum.
Zoe rief die Telefonnummer an, die neben dem Namen stand, und lauschte auf das Klingeln. »Schicken Sie Martinez die Liste per E-Mail. Wir rufen ihn von unterwegs an und erklären ihm alles.«
Tatum nickte. »Hat Jeffrey ein Handy dabei?«, fragte er beim Tippen.
»Äh … Ja, sicher.«
»Dann brauchen wir seine Handynummer.«
Clifford schrieb die Nummer auf einen Zettel.
Zoe wartete und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Laura Summer ging nicht ans Telefon.
»Es geht keiner ran«, sagte sie.
Tatum schickte die Liste ab, stand auf und schnappte sich den Zettel mit Jeffreys Handynummer. »Na, dann los.«