KAPITEL 75
Zoe hatte Teile des Kampfs durch das Fenster gesehen und begriffen, dass ihnen keine Zeit mehr blieb. Sie war bereits ausgestiegen und lief zur Haustür, als sie mitbekam, wie Tatum die Waffe sinken ließ. Sie wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. Wahrscheinlich hatte er vor, Zeit zu schinden und auf die Polizei zu warten, die hoffentlich bald eintraf. Möglicherweise war das auch die beste Vorgehensweise … aber Zoe war sich da nicht so sicher.
Niemand konnte einschätzen, wie sich Jeffrey Alston unter Druck verhalten würde. Er konnte dann nicht mehr klar denken. Es war möglich, dass er beschloss, Tatum, Laura und die Kinder zu erschießen und die Flucht zu ergreifen. Vielleicht schnitt er Laura auch einfach die Kehle durch, um sie loszuwerden, oder er tötete sie versehentlich.
Zoe zwang sich, ruhiger zu werden und nachzudenken. Sie hatte die letzten zwei Wochen das Profil dieses Mannes erstellt und wusste, wie er tickte, was er wollte, wonach er sich sehnte.
Nach und nach schmiedete sie einen Plan.
Erleichtert stellte sie fest, dass die Haustür nicht abgeschlossen war. Als sie sie aufdrückte, drehte sich Jeffrey kurz zu ihr um, sah dann wieder zu Tatum hinüber, der wie gebannt auf dem Boden saß, und starrte sie abermals an.
»Ich bin unbewaffnet«, sagte sie schnell und betrat mit erhobenen Händen das Haus. »Ich schließe jetzt die Tür.«
Sie musste ihm das Gefühl geben, weiterhin die Kontrolle zu haben. Er musste sich beruhigen. Im Augenblick war er unberechenbar, gefährlich, eine tickende Zeitbombe. Ganz bedächtig ließ sie die rechte Hand sinken und drückte die Tür zu.
»Ich schlitze sie auf«, drohte Jeffrey, dessen Blick immer hin und her zuckte. »Legen Sie die Waffe auf den Boden.«
»Ich habe keine Waffe.«
»Und ob Sie eine haben. Sie sind beide Polizisten.« Sein Blick wanderte zu Tatum, der sich kaum merklich bewegt zu haben schien. »Bleiben Sie, wo Sie sind.«
»Ich bin keine Polizistin«, korrigierte Zoe ihn. »Ich bin Psychologin.«
Jeffrey schnaubte. »Das kaufe ich Ihnen nicht ab.«
Er wollte Kontrolle. Bei ihm drehte sich alles um Kontrolle und Einsamkeit. Insbesondere, wenn es um Frauen ging. Das war es, was seine Fantasien befeuerte, und diese Fantasien diktierten sein Handeln. Er träumte von einer toten Frau, deren Körper nie verweste und die ihm Gesellschaft leistete. Dieser Wunschtraum hatte ihn wieder und wieder angetrieben. Sie musste sich irgendwie in diese Fantasie einschleichen, damit sie ihm die Kontrolle abnehmen konnte.
»Ich bin unbewaffnet«, wiederholte sie. »Ich werde es Ihnen zeigen.«
Langsam knöpfte sie den obersten Knopf ihrer Bluse auf, dann den darunter.
»Sie sollten die Frau gehen lassen«, sagte sie. »Sie wollen doch nicht ins Gefängnis.«
»Ich gehe so oder so ins Gefängnis. Vielleicht sollte ich ihr einfach so die Kehle durchschneiden.«
»Wenn Sie sie töten, können Sie sie nicht mehr mitnehmen. Die Polizei ist auf dem Weg hierher. Sie werden keine Zeit mehr haben, sie in den Wagen zu bringen.« Sie knöpfte ihre Bluse immer weiter auf und ließ sie schließlich auf den Boden fallen. Dabei sah sie ihm in die Augen und hielt Ausschau nach Erregung, doch davon war nichts zu sehen. Er interessierte sich nicht für Zoe. Sie redete, widersprach ihm, war am Leben. Er bevorzugte es, wenn seine Frauen tot waren und den Mund hielten.
»Sie werden sich nicht einmal fünf Minuten lang mit ihr amüsieren können.« Zoe redete weiter, zog den Reißverschluss ihres Rockes auf und ließ ihn ganz langsam zu Boden gleiten. Jeffrey stand ungerührt da und starrte sie an, als wäre sie nur ein Möbelstück.
Das war ein Mann mit einer ungezügelten Fantasie. Sie musste ihm etwas geben, womit er arbeiten konnte.
»Ich möchte Ihnen einen anderen Vorschlag machen«, sagte sie.
»Halten Sie den Mund.«
»Nehmen Sie stattdessen mich. Ich werde mich nicht wehren. Sie müssen mich nicht zu Ihrem Wagen tragen. Ich begleite Sie freiwillig.« Sie richtete sich auf und stand nun in BH und Slip vor ihm. Nun konnte er klar und deutlich erkennen, dass sie unbewaffnet war, und sie musste nicht weitermachen.
Sie tat es trotzdem und griff nach dem BH-Verschluss.
»Der Mann da vorn«, Zoe deutete mit dem Kinn auf Tatum, »er hat Handschellen dabei. Sie können mir damit die Hände auf dem Rücken fesseln, um sicherzustellen, dass ich keine Dummheiten mache.«
Als sie eine kleine Bewegung machte, um auf Tatum zuzugehen, legte Jeffrey die Hand fester um das Messer und knirschte mit den Zähnen. Zoe blieb sofort stehen.
»Wenn Sie mich an einen sicheren Ort gebracht haben, können Sie mir die Schlinge um den Hals legen und sie zuziehen.«
Sie schob sich den linken BH-Träger von der Schulter. Inzwischen hatte sie eine Gänsehaut auf den Armen, wusste aber nicht, ob es an der Kälte oder an ihrer Angst lag. Der rechte Träger rutschte ebenfalls herunter.
»Sobald ich nicht mehr zapple, können Sie sich mit mir amüsieren. Nicht nur einmal. Vielleicht sogar zweimal. Es ist so lange her, nicht wahr?«
Seine Augen flackerten, und er öffnete leicht die Lippen. Doch er presste Laura weiterhin das Messer an den Hals. Zoe zog den BH aus und hörte das Rascheln, als er auf dem Boden landete.
»Und dann können Sie tun, was Sie tun müssen, damit es Bestand hat. Damit unsere Beziehung von Dauer ist. Denn das ist es, was Sie wirklich wollen, stimmt’s? Dass nachts jemand an Ihrer Seite liegt. Dass Sie morgens nicht allein am Frühstückstisch sitzen.«
Sie machte einen Schritt auf Tatum zu. Dann einen weiteren.
»Jemanden, der Sie bedingungslos liebt. Könnten Sie da jemand Besseren als mich finden? Ist sie wirklich besser als ich?«
Seine Messerhand wankte.
»Können Sie es schon sehen, Jeffrey? Dieser Mund, für immer erstarrt, meine Haut kalt, meine Arme und Beine so postiert, wie immer Sie es wollen? Können Sie sich das bereits ausmalen?«
Der nächste Schritt, und noch einer. Dabei sah sie Jeffrey die ganze Zeit in die Augen und bewegte sich langsam und gemächlich. Sie hoffte inständig, dass Jeffrey stehen blieb. Und dass die Glock, die an ihrem Hintern in ihrem Slip steckte, nicht herausrutschte.
»Wir könnten jeden Tag zusammen sein. Sie würden mich anziehen. Mich streicheln. Mich küssen. Endlich gäbe es jemanden in Ihrem Leben. Jemanden, der nie mehr weggeht.«
Sie machte noch einen Schritt, und die Waffe rutschte ein Stück nach unten. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, aber die Glock fiel nicht heraus; der Saum hielt. Ganz langsam ging sie weiter.
»All die anderen waren nur Fehler. Ich bin es, auf die Sie gewartet haben.«
Sie hatte Tatum und die Kinder erreicht.
Jeffrey schluckte schwer. »Sie!«, brüllte er Tatum an. »Legen Sie ihr die Handschellen an. Aber ganz langsam!«
Zoe wartete und hörte, wie sich Tatum in ihrem Rücken bewegte. Sie spürte das kalte Metall der Handschellen am linken Handgelenk. Danach bewegte sich die Waffe in ihrem Slip. Tatum legte ihr die zweite Handschelle an.
Sie machte einen Schritt nach vorn und achtete darauf, Tatum mit ihrem Körper zu verbergen.
»Endlich werden wir beide jemanden haben, den wir lieben können. Kommen Sie, Jeffrey. Lassen Sie uns gehen, bevor die Polizei hier eintrifft.«
Er nickte leicht und ließ das Messer sinken. Zoe machte einen Schritt auf ihn zu.
Dann ging sie zu Boden.
Noch, während sie fiel, wurden drei Schüsse schnell nacheinander abgefeuert. Zoe kam mit der Schulter hart auf dem Boden auf, da sie ihren Sturz mit gefesselten Händen nicht abfangen konnte. Schmerz zuckte durch ihren Arm, und sie schmeckte Blut, weil sie sich auf die Zunge gebissen hatte.
Sie spürte, wie jemand ihre Hände nahm; danach klickte es. Die Handschelle verschwand von ihrem rechten Handgelenk, und sie drehte sich um.
Tatum reichte ihr den Schlüssel, und sie versuchte, die zweite Handschelle aufzuschließen. Das war nicht einfach. Ihre Finger zitterten.
Sirenen heulten ganz in der Nähe, und Zoe war den Tränen nahe. Doch sie schloss endlich die Handschelle auf, entfernte sie, stand auf, eilte zu der Frau und zerrte ihr den Knebel aus dem Mund. Laura rang keuchend nach Luft und fing an zu schluchzen.
»Meine Kinder«, wimmerte sie.
»Keine Sorge«, versuchte Zoe, sie zu beruhigen. »Es geht ihnen gut.« Sie untersuchte schnell Lauras Hals. Die Wunde blutete zwar, war jedoch nicht tief, sondern eher ein Kratzer.
Tatum hockte neben Jeffrey. Fast hätte Zoe ihn wütend angeschrien. Sie mussten die Familie losbinden. Dann sah sie, dass Jeffrey Blut hustete. Er war noch am Leben. Tatum riss dem Mann das Hemd auf, griff sich ein Stück Stoff und drückte es auf Jeffreys blutenden Bauch.
Zoe sah Tatum blinzelnd an, aber er konzentrierte sich auf Jeffrey, nicht auf sie. »Sie sollten sich was anziehen. Die halbe Chicagoer Polizei wird gleich hier sein.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Zoe mit gepresster Stimme und bedeckte ihre Brüste mit einem Arm. »Sie haben aus meiner Bluse gerade einen Wundverband gemacht.«
Tatum starrte den Stoff in seinen Händen verwirrt an. »Entschuldigung.« Er räusperte sich. »Das war eine schöne Bluse.«