Einen solchen Regen hatte er noch nie erlebt. Dorn stapfte unbeholfen durch den tiefen Schlamm, fort von der Wasserstelle. Sein Fell war durchnässt, das Wasser rann über seine Stirn und in seine Augen. Voller Hektik wischte er es weg, wieder und wieder. Sogar seine Nasenlöcher waren voll Wasser.
Was war geschehen? Was war geschehen?
Große Mutter war gestorben. Das war geschehen. Doch ganz gleich, wie oft er sich dies sagte, es kam ihm immer noch unwirklich vor. Wie? Warum?
Das spielte für ihn keine Rolle mehr. Die Große Mutter von Bravelands war tot und sie konnte Dorn nicht mehr helfen.
Er war zur Wasserstelle gekommen, um ihren Rat einzuholen, sie um ihre Hilfe, ihre Weisheit zu bitten – denn es gab sonst niemanden, der ihm hätte helfen können. Große Mutter hätte gewusst, wie er sich gegenüber Stachel Kronblatt verhalten sollte. Die Verbrechen, die Stachel begangen hatte, waren ungeheuerlich, für ein normales Wesen unfassbar. Der teuflische Pavian hatte Borke Kronblatt ermordet, er hatte ihr mit einem Stein den Schädel eingeschlagen. Und er hatte Borkes Nachfolger Raff vergiftet – mit Skorpiongift –, um sich an die Spitze des Lichtwald-Trupps setzen zu können.
Dorn hatte ihm in gerechtem Zorn seine Untaten vorgehalten, doch Stachel hatte nur gelacht. Sein Grinsen verfolgte Dorn bis zu diesem Augenblick, genau wie die Gewissheit, dass niemand ihn richten würde. Siehst du nun, wie weit ich gehen werde in meiner Mission, den Lichtwald zu bewahren?
Siehst du nun, wie weit ich gehen werde …?
Dorn hatte genau gewusst, was Stachel damit gemeint hatte: Er würde nicht zögern, auch ihn umzubringen, sollte er versuchen, ihn vor dem Trupp zu entlarven. Dorn hatte nur eine Möglichkeit gesehen, Stachel aufzuhalten – einen einzigen Ort, wo er um Hilfe hätte bitten können.
Und nun war Große Mutter tot. Und Dorn war ganz und gar auf sich gestellt.
*
Das trübe Tageslicht wurde von einer grauen Abenddämmerung abgelöst. Durch die Zweige der Langbäume fielen keine Goldstrahlen wie sonst bei Sonnenuntergang. Dorn kauerte auf dem aufgeweichten Erdboden der Ratslichtung, der Schlamm saugte sich förmlich in sein Fell, als wollte er eine zweite Haut bilden. Die Mitglieder des Lichtwald-Trupps hatten sich vor dem Kronstein versammelt. Ihnen gegenüber, zu beiden Seiten des breiten, fahlen Felsens, standen die Ratsmitglieder mit ihrem Gefolge. Alle Paviane, vom Kind bis zum greisen Ratsmitglied, waren durchnässt und niedergeschlagen. Alle, außer Stachel Kronblatt. Er konnte zwar den Regen nicht stoppen und war bestimmt nicht erfreut über sein nasses Fell, aber er saß immerhin auf dem Kronstein.
»Was denkst du, wie es jetzt weitergehen wird, Dorn?«, flüsterte Matsch Tiefblatt.
Dorn drückte seinen Arm. Sein bester Freund war schon immer schmächtig gewesen, aber nun, wo er bis auf die Haut durchnässt war, sah er magerer aus denn je. »Ich weiß es nicht, Matsch«, sagte er leise. »So etwas ist noch nie geschehen.«
»Ich begrüße euch.« Stachels gebieterische Stimme ließ alle aufhorchen. Nachdem das ängstliche Geschnatter verklungen war, blickte er ernst und feierlich in die Runde. »Ihr wisst, dass ich mich gewöhnlich nur mit den Mitgliedern meines Rats hier versammle, doch die aktuellen Ereignisse in Bravelands, sind ohne Beispiel. Niemals – nicht in der gesamten Geschichte dieses Landes – ist ein Großer Anführer ermordet worden.«
Stachel blickte zum Himmel empor und schloss seine Augen, als suche er Hilfe vom Großen Geist. »Wir müssen erörtern, was das für uns bedeutet – für den ganzen Lichtwald-Trupp.«
Die Paviane reckten die Hälse, sie warteten begierig auf Stachels weisen Rat. In ihren Augen lag Besorgnis, aber auch Achtung und Vertrauen. Dorn fröstelte. Vor gerade mal einem Tag habe ich ihn noch genauso angesehen.
»Mango!«, rief Stachel und winkte mit seiner langfingrigen Pfote. »Du hast dich umgehört. Erzähle uns, was du erfahren hast.«
Mango Hochblatt stürzte durch den Schlamm nach vorn und räusperte sich. »Mein Kronblatt, niemand weiß genau, was geschehen ist. Aber viele Tiere sagen, die Krokodile hätten Große Mutter getötet. Diese Bestien haben Zahnabdrücke auf ihrem Körper hinterlassen.«
»Das ist abscheulich!«, schrie Moos Mittelblatt.
»Diese Bestien!«, rief Blüte Heilblatt bewegt.
Stachel spreizte seine Pfoten. »Was ist von Kreaturen anderes zu erwarten, die den Großen Anführer nicht anerkennen?«
»Sie halten sich nicht einmal an das Gesetz!«, schrie Splitter Mittelblatt erregt. »Töte nur, um zu überleben. Das haben wir schon als Kinder auf den Bäuchen unserer Mütter gelernt.«
Aus den Reihen der Ratsmitglieder schlurfte Käfer Hochblatt nach vorn. Er war alt und gebeugt und verbreitete einen Hauch von vergorenen Früchten, aber die Paviane verstummten ehrfürchtig, als er sprach. »Ich habe gehört, dass in der Massenpanik an der Wasserstelle viele gestorben sind«, sagte er mit seiner nörgelnden Stimme. »Es wundert nicht, dass in dieser Situation eine Panik ausbricht – aber das wird in nächster Zeit sicherlich noch häufiger passieren.«
Stachel nickte nachdenklich. »Die Tiere von Bravelands haben keine Orientierung«, murmelte er.
»Und niemand weiß, wer der nächste Große Anführer werden wird«, betonte Mango. »Große Mutter hatte keine Zeit mehr, den Großen Geist an ihren Nachfolger zu übergeben, das ist noch nie geschehen. Was sollen wir tun?«
Moos meldete sich mit ängstlicher Stimme zu Wort und sagte leise: »Vielleicht ist der Große Geist mit ihr gestorben.«
Ein Tumult brach los. Manche Paviane jaulten entsetzt, andere trommelten auf den schlammigen Boden, Kinder fingen an zu weinen.
»Ruhe, Ruhe!« Stachel schlug auf den Kronstein und erhob sich zu seiner ganzen Größe. »Mein Trupp! Andere Tiere mögen in Panik geraten wie aufgescheuchte Ameisen, doch wir sind Paviane! Wir bleiben ruhig und bewahren unsere Würde!«
Der Trubel legte sich. Die Mütter beruhigten ihre Babys und Moos murmelte beschämt: »Tut mir leid, Stachel.«
Stachel wandte sich an den neben ihm stehenden Pavian, die Mutter von Matsch. »Was sagt unser Sternblatt? Was sagen ihr die Mondsteine?«
Sternblatts weiß gestreiftes Gesicht war sanft und ernst. Sogar Dorn wurde ruhiger, als sie methodisch die Mondsteine vor sich auslegte, von denen jeder eine andere Farbe hatte: Es gab hellblaue, grüne oder orangefarbene Steine. Manche waren durchscheinend und funkelten im Licht der Dämmerung. Andere wieder waren dunkel und glatt. Ein Stein war zerbrochen und zeigte an seinen nach innen gewölbten Bruchstellen funkelnde Kristalle. Sternblatt hob einen Stein nach dem anderen hoch und prüfte sie mit hoch konzentriertem Blick.
Schließlich blickte sie auf, sie war ernst wie immer, wenn sie die Mondsteine deutete. Dorn sah besorgt zu Matsch hinüber, der zuversichtlich nickte.
»Stachel hat uns zu Recht zur Ruhe ermahnt«, verkündete Sternblatt. »Der Große Geist wird einen neuen Großen Anführer finden – dies sagen die Steine unmissverständlich.«
»Nun, das ist eine gute Nachricht«, knurrte Mango.
»Aber wenn es ein Tier wird, das uns nicht gewogen ist?«, fragte Knospe Mittelblatt besorgt. »Wenn es zum Beispiel ein Gepard wird?«
»Oder eine Hyäne«, quiekte Moos.
Sternblatt warf ihr einen milden, doch strengen Blick zu. »Der Große Geist trifft immer eine weise Wahl.«
»Das mag sein«, sagte Käfer, »aber ich muss sagen, dass jedes Tier seine Vorurteile hat und …«
Die Diskussion drehte sich nun um die Frage, welche möglichen Großen Anführer welche Vorteile brächten. Dorn hörte nicht mehr zu. Er sah zu Beere Hochblatt hinüber, die neben ihrem Vater Stachel saß und bisher noch nichts gesagt hatte. Sie lauschte den Argumenten mehr oder weniger besorgt, machte aber vor allem einen traurigen und verletzten Eindruck. Und ich weiß auch, warum, dachte Dorn zerknirscht.
Er fühlte sich schrecklich schuldig, weil er am Abend zuvor ihre Gefühle so sehr verletzt hatte. Wenn sie nur seine wahren Beweggründe kennen würde. Dorn hatte ihr gesagt, dass sie sich nicht mehr sehen sollten, obwohl er das in Wirklichkeit gar nicht wollte. Ich habe es getan, um dich zu schützen, Beere.
Um ihrer Sicherheit willen hatte Dorn so getan, als sei ihre Zugehörigkeit zu einer unterschiedlichen Rangstufe der Grund dafür. Er hatte ihr gesagt, sie dürften die Regeln des Trupps nicht länger verletzen, sie müssten die Gesetze und Bräuche achten, nach denen ein Hochblatt niemals eine Beziehung zu einem Mittelblatt eingehen durfte.
Beere verachtete ihn wahrscheinlich dafür, aber ihm war nichts anderes übrig geblieben. Dorn wusste nur zu gut, wozu Stachel fähig war. Wenn er herausfände, dass seine Tochter ausgerechnet mit jenem Pavian befreundet war, der über seine Verbrechen Bescheid wusste, oder wenn Dorn sich aus Versehen verplappern würde, wäre Beere in schrecklicher Gefahr. Stachel liebte seine Tochter, aber vor allem liebte er sich selbst.
»Dorn«, flüsterte Matsch, »was habt ihr beide eigentlich? Beere hat noch kein einziges Mal mit dir gesprochen, seitdem du wieder da bist.«
»Nichts.« Dorn schüttelte sich. Er ärgerte sich, dass er Beere so unverhohlen angestarrt hatte.
»Das ist meine Schuld, stimmt’s?« Matsch rieb sich am Kopf und stöhnte. »Du bist wegen mir durchgefallen. Hätte ich dich bei der Dritten Hochtat nicht besiegt, wärst du jetzt ein Hochblatt.«
»Nein«, sagte Dorn bestimmt. »Das hat wirklich nichts damit zu tun.«
»Ich fühle mich so schlecht und –«
»Ach, du musst dich nicht schlecht fühlen!« Dorn war froh, dass Matsch unterbrochen wurde. Es war Gras Hochblatt. Der große Pavian, der wie immer an einem Grashalm kaute, betrachtete Matsch geringschätzig und zugleich belustigt. Sein dürrer Freund Fliege grinste gemein und bleckte seinen abgebrochenen Zahn. Beide hatten wie Dorn zu Stachels Gefolge gehört, als dieser noch das Ratsmitglied Stachel Hochblatt gewesen war.
»Ja, du musst dich wirklich nicht schlecht fühlen, Matsch«, höhnte Fliege. »Du hast Dorn nicht besiegt – er hat extra aufgegeben, damit du gewinnst.«
»Das hat doch jeder gesehen«, grinste Gras.
»Das sind Hyänenköttel, was ihr da redet«, fauchte Dorn mit einem kurzen Blick auf Matschs schockierte Miene. »Matsch, hör nicht auf sie. Du hast offen und ehrlich gesiegt.«
Fliege kicherte. »Heikles Thema, Dorn?«
Gras johlte und schlug sich auf die Schenkel. Dorn blitzte die beiden böse an. Die Sache war nur, dass sie die Wahrheit sagten. Er hatte tatsächlich aufgegeben. Hätte Matsch diese letzte Hochtat verloren, hätte er für immer das elende Dasein eines Tiefwurz führen, also das Lager putzen und von allen anderen Paviane Befehle annehmen müssen.
Aber das durfte Matsch niemals erfahren.
»Haut ab, ihr Mistdrescher!«, knurrte er das grinsende Pärchen an.
»Und wer wird uns – autsch!« Gras fasste sich an den Kopf und taumelte nach hinten. Eine unreife Mango hatte ihn an der Stirn getroffen.
Dorn sah sich erstaunt um. Schon zischte die nächste Frucht durch die Luft, und plötzlich war der Platz voll von Geschossen, die wahllos die Paviane und die umstehenden Bäume trafen.
Dorn und die anderen sprangen auf. Von den geheimnisvollen Angreifern war nichts zu sehen, aber in den Bäumen schwankten, knirschten und knacksten die Äste.
»Ich rieche Affen!«, kreischte Matsch.
Die Paviane brachen in wütendes Geheul aus. »Affen!«, wiederholte Mango.
»Dort!«, schrie Dorn. »In den Büschen!«
Fangzahn fauchte wütend. »Diese kleinen, miesen … es ist eine ganze Meute!«
Die Affen flitzten schreiend und kreischend durch die Bäume. Dorn erkannte sie sofort an ihrem grünbraunen Fell und den schwarzen Gesichtern mit dem weißen Haarkranz.
»Das sind die grünen Meerkatzen, die uns schon einmal überfallen haben!«, rief er.
Stachel sprang wutentbrannt vom Kronstein.
»Lasst sie nicht entkommen«, kreischte er. »Hochblätter – nein, alle, hinter ihnen her!«