Aurora stemmte sich gegen den anpeitschenden Wind und bahnte sich einen Weg über das Grasland. Von hinten, dort, wo die Wasserstelle lag, hörte sie einen entrüsteten Aufschrei, doch sie zwang sich zum Weitergehen. Sie konnte sowieso nichts daran ändern, genauso wenig, wie sie die starken Windstöße beenden konnte, die an ihren Ohren und ihrem Schwanz zerrten. Für sie zählte jetzt nur eins.
Stolpernd blieb sie an einem Gebüsch mit langen, gekräuselten Blättern stehen, die im Wind wild hin und her peitschten. Sie ließ sich auf die Knie sinken und tastete mit ihrem Rüssel das Wurzelwerk ab.
Wo ist es?
Die empfindliche Rüsselspitze berührte einen glatten, gekrümmten Gegenstand. Sie rollte ihren Rüssel darum und zog ihn hervor. Traurig betrachtete Aurora den gehobenen Schatz. Ein helles, reinweißes, am Ende schartiges Gebilde: ein Stück vom Stoßzahn der Großen Mutter.
Am Tag zuvor war der Baobabbaum, unter dem die Elefanten rasteten, voll erblüht. Aurora, wie betäubt von der unerwarteten Schönheit, hatte einen mit cremeweißen Blüten übersäten Zweig abgebrochen, ihn zur Wasserstelle getragen und damit den toten Körper von Großer Mutter geschmückt.
In dem Augenblick, als sie ihn auf den Ästen abgelegt hatte, fielen ein paar Blüten auf dem sandigen Erdboden. Bei dem Versuch, sie aufzufangen, war ihr Rüssel auf etwas gestoßen, das vom Matsch halb verdeckt gewesen war: die abgebrochene, zersplitterte Spitze vom Stoßzahn der Großen Mutter. Der neuerliche Schmerz hatte Aurora fast das Herz gebrochen.
Nun drehte Aurora das Stück des Stoßzahns vorsichtig um.
Nichts. Immer noch nichts.
Aber eigentlich müsste sie etwas sehen! Sie konnte doch Knochen lesen. Nicht nur die ihrer Vorfahren – das konnten alle Elefanten. Als Aurora den Schädel des ermordeten Pavianführers Borke Kronblatt berührt hatte, hatte sich das Bild seines Mörders in ihren Kopf gedrängt.
Warum sprach der Stoßzahn der Großen Mutter nicht zu ihr?
Aurora sehnte sich danach, noch einmal mit ihrer Großmutter zu sprechen. Seit ihrem Tod waren erst wenige Tage verstrichen, und doch gab es so vieles, was Aurora die alte, weise Stammesälteste hätte fragen wollen. Dinge, von denen sie bereute, sie nicht früher angesprochen zu haben. Aber wie hätte ich das wissen können? Keiner hat das geahnt. Von der Wasserstelle tönte ein Chor von lärmenden Jubelschreien herüber. Aurora ergriff das Stoßzahnfragment und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon. Ich hoffe, dass Regen mir verzeiht, dachte sie. Aber ich muss fort.
Der Wind in ihrem Rücken trug ihr den Geruch der Herden an der Wasserstelle zu. Doch der Wind war launisch, mal blies er böig, mal wirbelte er, mal traf er Aurora unversehens von der Seite und brachte sie zum Stolpern. Als die Elefantenfamilie das letzte Mal hier gewesen war, hatten ihre stampfenden Füße Wolken von rotem Staub aufgewirbelt. Jetzt bestand das Gelände aus pappigem, eintrocknendem Matsch, der an Auroras Füßen klebte und ihr das Gehen erschwerte. Das Gras war wie zugekleistert vom Schlamm. Aurora kniff die Augen zusammen, um sie vor dem peitschenden Wind zu schützen, und sah sich verzweifelt nach der markanten, grauen Felsplatte um, dem einzigen Anhaltspunkt, der ihr sagte, wo sie den Weg verlassen musste.
Aurora konnte sie nicht sehen. Etwas mutlos trottete sie weiter. Jetzt, da sie allein war, erschien ihr der Weg viel weiter als in ihrer Erinnerung. Hin und wieder blieb sie stehen, legte den Stoßzahn von Großer Mutter ab und knabberte ein bisschen vom lehmverkrusteten Gras oder riss einen blätterigen Ast aus einem Gebüsch, aber sie wollte keine Zeit verlieren. Immer noch rasten dicke, graue Wolken über den Himmel, doch am östlichen Horizont war ein tiefgoldener Streifen zu sehen, der immer länger werdende Schatten warf.
Hinter sich hörte Aurora ein schmatzendes Geräusch. Erschrocken drehte sie sich um. Es klang genauso wie das Geräusch, das ihre Füße machten, wenn sie durch tiefen Matsch stapfte. Aurora holte tief Luft und spähte ins Halbdunkel, doch im Gegenlicht der gleißenden Abendsonne waren die Bäume, Büsche und Hügel zu verwirrenden und unheimlichen Silhouetten geworden. Es war so schwierig, sich zurechtzufinden, wenn die Familie nicht da war, um ihr zu helfen.
Aurora fasste den Stoßzahn noch fester und trottete mit klopfendem Herzen rasch weiter.
Ihre Ohren zuckten. Jetzt war sie sich sicher, dass es Schritte waren, die sie hinter sich hörte. Und sobald sie schneller ging, wurden es die Schritte auch.
Aurora stürzte zu einer Gruppe von Dornenbäumen. Sie rutschte auf einer Wurzel aus und ließ dabei beinahe den Stoßzahn fallen, dann stolperte sie weiter. Die Schritte, die sie verfolgten, waren zu schwer für eine Gazelle oder eine Antilope, es war aber auch nicht der gleichmäßige Hufschlag eines Zebras oder einer Giraffe. War es womöglich ein Nashorn? Sie schluckte. Oder ein Fleischfresser? Aber ein einzelner Fleischfresser würde niemals einen Elefanten angreifen …
Oder doch?
Das dunkle Abendglühen war plötzlich erloschen und die Savanne war in ein nebelhaftes Zwielicht aus Grau und Blau getaucht. Über ihr jagten immer noch dunkle Wolken über den Himmel. Die Wolkendecke war so dicht, dass kein einziger Stern zu sehen war. Aurora fühlte sich sehr allein und hatte schreckliche Angst.
Die Dornenbäume standen nur wenige Rüssellängen abseits vom Pfad. Aurora schlüpfte zwischen zwei Bäume, änderte aber gleich wieder die Richtung und galoppierte schwerfällig durch die Baumgruppe hindurch, in der leisen Hoffnung, ihren Verfolger auf diese Weise abschütteln zu können. Hinter einem dichten Gebüsch blieb sie stehen und versuchte, ruhig zu atmen.
Der Wind heulte durch die Blätter. Und sie hörte schmatzende Schritte am Rand des Gehölzes.
Auroras Magen krampfte sich zusammen. Hoffentlich blies der Wind ihren Geruch in die andere Richtung. Oder würde der unsichtbare Feind Witterung aufnehmen und sie entdecken? Werde ich um mein Leben kämpfen müssen?
Ein herzerweichendes Jaulen erhob sich über den Wind. Es zog durch die Akazien und klang genauso verloren und einsam wie sie.
»Wo bist du?«
Aurora erstarrte. »Mond?«
Erschrocken eilte sie den Weg zwischen den stacheligen Bäumen zurück. In der Mitte des Wäldchens stand ihr kleiner Cousin und drehte sich panisch von einer Seite zur anderen.
»Hier bin ich, Mond!«, rief Aurora. Sie eilte zu ihm und umfing ihn mit ihrem Rüssel. Sein kleiner Körper bebte. »Es ist gut«, beruhigte sie ihn. »Ich bin ja da.«
Mond stieß seinen Kopf an ihren Hals und presste seine bebende Flanke an sie. »Ich konnte dich nicht finden«, wimmerte er.
Aurora schlug bestürzt mit ihren Ohren. »Warum bist du hier? Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«
»Ich habe dich weggehen sehen und bin dir nachgeschlichen«, sagte er mit wackeliger Stimme. »Niemand hat mich gesehen.«
Aurora drückte ihn noch fester an sich. »Ach, Mond. Das war keine gute Idee.«
»Aber ich musste dir nach. Wo gehst du denn hin?«
Sie strich mit ihrem Rüssel über seinen borstigen Rücken. »Ich muss etwas Wichtiges erledigen. Es tut mir leid, Mond, aber du musst zu deiner Mutter zurück.«
»Nein!« Mond starrte Aurora entsetzt an. »Bitte schick mich nicht zurück, Aurora. Bitte!«
Der aufsässige Zug um sein Maul war ihr nur zu gut bekannt, sie stöhnte innerlich. »Aber alle werden dich vermissen. Deine Mutter wird sich Sorgen machen.«
»Wirst du mich nicht vermissen, wenn ich zurückgehe?«
»Natürlich, aber …«
»Mit wem willst du spielen, wenn ich nicht mitkomme?«, drängelte Mond. »Wem willst du Geschichten erzählen?«
Aurora zögerte, ihre Gedanken überschlugen sich. Es war unmöglich. Er hätte nicht kommen dürfen, aber sie konnte ihn auch nicht den ganzen Weg zurückschicken – das war viel zu gefährlich und er würde sich womöglich verlaufen. Oder Fleischfresser würden ihm nachts auflauern und dann –
Und wenn sie ihn selbst zurückbrachte, würde Regen sie womöglich davon abhalten, ihrer Mission zu folgen.
Wenn die anderen davon ausgingen, dass sie und Mond zusammen ausgebüchst waren, würden sie sich vielleicht weniger sorgen. Ach, es war wirklich eine schwierige Entscheidung.
Mond sah zu ihr hoch und blinzelte. »Bitte, Aurora. Lass mich mitkommen. Ich werde auch ganz brav sein, fest versprochen.«
Aurora pustete resigniert aus. »Also gut.« Mir bleibt nichts anderes übrig. Ach, Stern, es tut mir so leid. »Aber du musst ganz brav sein und genau das tun, was ich dir sage.«
»Jau!«, jubelte Mond. »Das verspreche ich! Ich werde so brav sein, dass du mich nicht wiedererkennst.« Er stellte seine Ohren auf, hoppelte um sie herum und schwenkte dabei vergnügt Rüssel und Schwanz. Aurora musste unwillkürlich lächeln.
»Also, dann komm«, sagte sie.
Der Wind riss die Wolken auseinander und brachte einen Streifen des Himmels zum Vorschein, in dessen Mitte ein einzelner Stern funkelte. Gegen den hohen, schwarzen Himmel wirkte sein Licht beinahe grell. Die unregelmäßigen Umrisse der Akazien waren von einer zarten Silberlinie gesäumt. Mithilfe dieses schimmernden Lichts und ihrer eigenen Nachtsichtigkeit führte Aurora Mond wieder zum Hauptpfad zurück.
Sie blickte zu dem funkelnden Stern hinauf. Bist du das, Große Mutter? Sie schlang ihren Rüssel noch enger um das Stoßzahnfragment und drückte es an sich.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Mond und platschte in eine schlammige Pfütze hinein, sodass sternenglitzerndes Wasser hochspritzte. »Ist es ein schöner Ort?«
»Es ist ein wichtiger Ort«, erklärte Aurora. »Wir gehen zum Land der Ahnen.«