»Schwing deine Pfoten!«, fauchte Dorn. »Ich war seit dem Morgengrauen nicht mehr beim Trupp. Stachel wird sonst misstrauisch werden.«
Er hastete vorneweg durch den Wald, er war so gereizt, dass seine Haut kribbelte. Er hätte Nuss auch mit freundlichen Worten beschwatzen können, mitzukommen, aber der große Pavian hatte allzu deutlich klargemacht, dass er nicht sonderlich erpicht darauf war.
»Das ist absurd«, maulte Nuss, als sie am Rand der offenen Ebene entlangrobbten und sich vor den Sturmböen duckten. »Du bringst uns beide noch um.«
»Hast du eine bessere Idee?« Dorn landete mit einem Sprung im hohen Gras, der Wind riss und zerrte an seinem Fell. Die Grashalme peitschten in sein Gesicht, er musste niesen und ausspucken. Mit einem Blick über seine Schulter versicherte er sich, ob Nuss noch hinter ihm war. Das war er, aber die breite Stirn des verwahrlosten Pavians war mürrisch verzogen.
»Warum das Großmaul?«, grummelte Nuss. »Er wird uns nicht helfen.«
»Heldenmut ist mein Freund, vergiss das nicht.«
Nuss schnaubte. »Er ist Stachels Freund. Glaub nur nicht, dass er sich auf deine Seite schlägt.«
Auch Dorn spürte ein Körnchen Zweifel in sich. Er erinnerte sich nur zu gut an Heldenmuts andächtige Bewunderung, als Stachel ihm die Lebensweise der Paviane beigebracht hatte. Aber mir ging es nicht anders, ermahnte er sich. Stachel hat uns alle getäuscht.
Er schüttelte sich. Ich muss Heldenmut vertrauen. »Er wird auf unserer Seite sein – sobald wir ihm die Wahrheit gesagt haben.«
»Na klar. Das heißt, wenn wir ihn überhaupt finden«, betonte Nuss. »Du kannst von mir aus den ganzen Tag in der Savanne herumsuchen – ich für meinen Teil mache erst einmal ein Nickerchen. Pass auf, dass du auf deinem Weg ins Langbaumlager nicht davongeweht wirst.« Nuss zuckte noch einmal verächtlich mit seinem Schwanz und verzog sich in den Schutz eines Baobabs.
Dorn musste zugeben, dass der dicke Baumstamm guten Schutz bot und sehr verführerisch aussah. Aber er strafte Nuss mit einem bösen Blick, als dieser es sich gemütlich machte. Ein wenig Hilfe wäre nett …
Er wollte Nuss gerade sagen, was er von seiner Einstellung hielt, als die Erde unter seinen Pfoten anfing zu beben.
Dorn sprang zum Baobab und packte Nuss am Arm. »Da kommt jemand!«
»Lass mich!« Nuss wehrte ihn mit der Pfote ab. »Ich habe mich gerade erst hingesetzt.«
Dorn schüttelte ihn. »Wir müssen weiter!«
Er zerrte den widerstrebenden Nuss auf die Füße, rannte wieder in das hohe Gras und duckte sich. Nuss warf sich unwillig neben ihm zu Boden, richtete sich aber gleich wieder ein wenig auf, um über das wogende Grasmeer zu spähen.
Ein einzelnes Zebra galoppierte einen Abhang hinunter. Es verdrehte vor Entsetzen die Augen, sodass man das Weiße darin sah, und es atmete in rauen, kehligen Stößen. Der Schweiß rann ihm in Strömen über Brust und Flanken.
Nur einen Augenblick später kamen die Fleischfresser. Löwen, dachte Dorn. Es ist verloren. Die goldenen Körper der Riesenkatzen waren stark und geschmeidig. Man sah ihnen kaum die Anstrengung an. Drei anmutige Löwinnen näherten sich dem Zebra von der Seite, während ein besonders stark aussehender Löwe mit narbiger Nase das Beutetier vor sich hertrieb. Von rechts sprangen zwei Junge herbei und schnitten ihm den Fluchtweg ab: Das eine war schon halb erwachsen, das andere viel jünger.
Als die Jungen näher kamen, stockte Dorn fast der Atem. Der halb erwachsene Löwe war Heldenmut.
»Großmaul«, flüsterte Nuss. »Wie praktisch. Mach ihn auf dich aufmerksam.«
Doch Dorn merkte plötzlich, wie sein Mut sank. Er hatte noch nie gesehen, wie Heldenmut ein ausgewachsenes Huftier jagte, deshalb kannte er auch diesen Gesichtsausdruck noch nicht: die Fangzähne entblößt, die Ohren aufgestellt und die glitzernden Augen allein auf die Beute fixiert. Der junge Löwe sah entschlossen, blutdurstig und absolut todbringend aus.
Das Zebra änderte seine Richtung und wich zur Seite aus, um seine Verfolger abzuschütteln. Dorn erkannte mit Schrecken das Muster seiner geschwungenen Streifen. »Das ist Schönfreund«, zischte er Nuss zu. »Stachel und ich haben ihn kurz vor der Großen Versammlung besucht.«
Schönfreund wich wieder aus und schoss an den Pavianen vorbei, seine Augen starr vor Entsetzen. Die donnernden Hufe wirbelten rote Staubwolken auf, die vom Wind davongetragen wurden. Aber Dorn sah, dass seine Beine vor Erschöpfung zitterten. Es war ein Anblick, der fast nicht zu ertragen war.
Bitte mach, dass er davonkommt!
Aber die Löwen brachten ihre Verfolgung zum Ende. Sie schwenkten ab, ohne ihr Tempo zu verlangsamen. Die Löwinnen hielten auf ihn zu, während die Jungen sich an seine Flanken hefteten. Als Schönfreund noch einmal kehrtmachen wollte, verzögerte er nur ganz kurz seinen Hufschlag und fand den Weg von einer muskulösen Löwin versperrt.
Dieser Augenblick des Zögerns war sein Ende. Eine gelbbraune Löwin stürzte sich auf ihn und grub ihre Krallen in seine Hinterbeine. Schönfreund stolperte und wankte. Er trat mit seinen Hinterhufen aus und versuchte, sie abzuschütteln, aber seine Vorderbeine gaben nach, und er knickte ein. Die anderen Löwen warfen sich über ihn und drückten ihn zu Boden. Heldenmut war ganz vorne mit dabei. Dorn sah, wie er sich mit aufgerissenem Maul auf die frei liegende Kehle des Zebras stürzte.
Dorn blickte zur Seite. Er vernahm ein kurzes, verzweifeltes Wiehern, das gleich wieder erstarb. Danach war nur noch das triumphierende Brüllen der Löwen zu hören.
Dorn schluckte. Über die Ebene legte sich Schweigen. Schönfreund trat noch einmal mit seinen bebenden Beinen um sich dann erstarrte er und sank zu Boden. Es war vorbei.
Nuss zitterte am ganzen Leib, sein Atem ging in schnellen, ängstlichen Stößen.
»Kaltschnauze!« Heldenmuts vertrautes Brüllen hallte über die Ebene. »Kaltschnauze, komm her!«
Dorn spähte zu dem erlegten Zebra hinüber. Die Löwen hatten sich erhoben und ließen es am Boden liegen, langsam entfernten sie sich von der Stelle. Kaltschnauze – Dorn erkannte ihn jetzt, es war das kleine Löwenjunge, das Heldenmut einmal vor den Geparden gerettet hatte – war während der Jagd wohl zurückgefallen. Nun tapste er mit erwartungsvoll erhobenem Schwanz auf das Rudel zu.
»Was machen die da?«, flüsterte Nuss völlig außer sich. »Das Zebra ist noch nicht einmal tot!«
Ein Grauen fuhr Dorn in die Glieder. Nuss hatte recht. Schönfreunds blutbefleckte Rippen pulsieren unter seinen flachen Atemstößen und das eine Bein zuckte noch. Seine glasigen Augen zeigten immer noch einen Funken Leben.
Dorn wurde übel. Er wusste natürlich, dass Löwen jagten und töteten. Aber sie folgten demselben Gesetz wie alle Tiere von Bravelands: Töte nur, um zu überleben. Warum hatten sie Schönfreund gerissen und sich dann nicht über ihn hergemacht? Waren sie nach der Jagd nicht schrecklich gierig und heißhungrig?
Am schlimmsten war, dass Heldenmut völlig gelassen wirkte, er rief noch einmal nach Kaltschnauze und zuckte mit seinem Schwanz. Der Heldenmut, den Dorn gekannt hatte, hätte Schönfreund niemals leiden lassen. Hatte das Leben mit den Löwen ihn so sehr verändert?
Der große Löwe, über dessen Maul drei lange Narben liefen, nahm plötzlich Witterung auf und ging ein paar Schritte auf die Stelle zu, wo Dorn und Nuss im hohen Gras kauerten. Seine Schultern spannten sich.
»Paviane!«, brüllte er. »Kommt, jeder von uns muss heute ein Tier töten. Jagt sie!«
Heldenmut reagierte als Erster von den sechs Löwen. Mit einem heiseren Knurren spurtete er in ihre Richtung. Dorn erstarrte, als wäre er wie der Baobab im Erdboden verwurzelt. Wollte sein Freund ihn etwa jagen?
Nuss zerrte Dorn am Arm. »Beweg dich, du Narr!«
Dorn taumelte, seine Pfote schrammte über einen Stein, dann holte ihn die Realität ein. Keuchend rannte er los und rannte neben Nuss auf das Waldstück zu. Mit einem Blick nach hinten stellte er fest, dass Heldenmut ihnen knapp auf den Fersen war.
Der Atem brannte in Dorns Lungen und seine Muskeln fühlten sich schwer und ungelenk an. Es war ein Albtraum! Tief in seinem Herzen wollte er nicht glauben, dass sein alter Freund ihn jagte. Doch mit jedem donnernden Schritt, den er hinter sich hörte, wusste er, was ihn erwartete: Heldenmuts scharfe Krallen in seinem Rücken, Heldenmuts Gewicht, das ihn zu Boden drückte, Heldenmuts Fangzähne, die sich in seine Kehle bohrten …
»Auf die Bäume«, krächzte Nuss. »Dem Großen Geist sei Dank, dass er ein lausiger Kletterer ist.«
Dorn erlebte zum ersten Mal, wie es war, von einem Fleischfresser gejagt zu werden. Bilder blitzten durch seinen Kopf: Schönfreunds Gesichtsausdruck, seine rollenden Augen, die aufgerissenen, roten Nüstern, der stumme Entsetzensschrei, und ihm war klar, dass er jetzt genauso aussah. Er kam sich beinahe von seinem Körper losgelöst vor, als würde er alles von oben betrachten. Heldenmut wird mich töten. Mein Freund, mein Kamerad, Heldenmut …
In der Nähe des Waldes lagen überall Haufen von Windbruch, abgerissenene Äste, ineinander verhedderte Zweige, heruntergefallene Früchte. Dorn stach sich an etwas Spitzem, doch obwohl Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll, rannte er weiter. Vor ihm lag das kühle Grün des Waldes, es war schon ganz nah. Mit einem letzten, verzweifelten Sprung landeten sie zwischen den Bäumen.
»Klettern!«, kreischte Nuss.
Dorn reckte sich nach einem Ast, der jedoch durch eine plötzliche Windbö außer Reichweite geriet. Er wimmerte verzweifelt und versuchte es noch einmal. Diesmal gelang es ihm, sich festzuhalten. Blätter schlugen in sein Gesicht. Es war unmöglich, diesem unberechenbaren Wind auszuweichen. Jetzt blutete auch seine Schnauze, warm tropfte es herab, aber das kümmerte ihn nicht. Mit einem Satz bekam er einen wild schwankenden Ast zu fassen. Um sein Leben fürchtend, packte er ihn und schwang sich hinauf. Seine Pfoten zitterten so stark, dass er sich kaum festhalten konnte.
Die beiden Paviane zogen sich nun von einem schwankenden Ast zum nächsten bis in den Baumwipfel hinauf.
»Weiter hinein!«, schrie Nuss.
Holzsplitter und zerbrochene Äste schlugen ihnen ins Gesicht, als sie in wahnwitzigen Sprüngen von Baum zu Baum sprangen. Eigentlich hätten sie tiefer im Wald etwas Schutz vor dem Sturm finden sollen, aber sie befanden sich so hoch im Blätterdach, das es kaum einen Unterschied machte. In einer besonders starken Sturmbö schnellte plötzlich ein Ast nach oben und Dorn hing nur noch an ein paar dünnen Zweigen. Nuss ergriff seinen Arm und zerrte ihn hoch, dann sprangen beide weiter.
Unter dem Wipfel eines Maulfeigenbaums machte Dorn schließlich halt. Auch Nuss sank schwer atmend gegen den Baumstamm. Dorn teilte das Blattwerk vorsichtig auseinander und spähte nach unten. Er nahm eine Bewegung am Boden wahr und sein Atem stockte. Doch dann merkte er, dass es sich nur um ein Warzenschwein handelte, das im Unterholz rumorte. Von Heldenmut war nichts zu sehen.
»Ich glaube, wir sind in Sicherheit.« Schnaufend ließ er sich auf einen Ast plumpsen.
Nuss sah ihn böse an, sein Atem rasselte. »Ich … habe dir doch gesagt … dass es eine blöde Idee ist. Ich habe doch gesagt, dass wir dem Großmaul nicht trauen können.«
»Ja.« Dorn sank vor Kummer und Erschöpfung in sich zusammen. »Du hattest recht.«
Sein Magen rotierte. Heldenmut war sein Freund gewesen. Sie waren zusammen aufgewachsen. Dieser grausame Mörder hatte mit dem Heldenmut, den er gekannt hatte, nichts gemeinsam. Dorn begriff nicht, wie er sich so sehr hatte verändern können, und das so plötzlich. Doch was er gesehen hatte, ließ sich nicht leugnen. Nuss rappelte sich mühsam auf und stützte sich mit einer Pfote am Baumstamm ab. »So viel zu deiner Idee, Stachel loszuwerden«, keuchte er und machte sich auf den Weg nach unten. »Das war nichts als riesige Zeitverschwendung.«
»Warte!«, rief Dorn und kletterte vorsichtig hinter Nuss her. Aber erst, als er fast unten angekommen war, traute er sich, auf den moosigen Waldboden zu hüpfen. Er fühlte sich viel schwächer und verletzlicher als zu Beginn dieses Tages.
»Ich brauche deine Hilfe, Nuss. Bitte. Du bist der Einzige, der die Wahrheit kennt.«
Nuss zuckte mit den Achseln und schlurfte zwischen den Bäumen davon. »Das kannst du vergessen«, knurrte er und kratzte sich seinen dreckigen Pelz. »Und wenn du wieder so eine tolle Idee hast, brauchst du gar nicht erst fragen.«
»Wie du willst«, murmelte Dorn und blieb enttäuscht stehen.
Er sah, wie Nuss in den grünen Schatten des Waldes verschwand, dann seufzte er tief und kehrte wieder zur Savanne zurück. Er versuchte sich einzureden, dass er die Hilfe von Nuss nicht nötig habe. Dieser Pavian hatte schon immer Ärger gemacht.
Hätte er sich nur nicht so allein gefühlt.
Kein Nuss. Kein Heldenmut, dachte er und hockte sich neben einen Termitenhügel. Kein Plan.
Keine Hoffnung?
Vielleicht. Trotzdem musste er es versuchen.
Der Rückweg zum Lichtwald-Trupp kam ihm viel, viel länger vor, als er in Erinnerung hatte. Als er schließlich erschöpft über den Rand der Senke trottete, blieb er stehen, eine Pfote halb zum Gruß erhoben.
Er vernahm leises Jaulen und Wehklagen, aber es klang gedämpft, als versuchten verzweifelte Paviane, leise zu sein, wo sie doch vor Wut und Schmerz schreien wollten. Dorns Kehle schnürte sich zusammen. Was war passiert?
Von Furcht getrieben, rannte er los und landete mitten in seinem Trupp.
Lilly Mittelblatt, ihr Baby im Arm, drehte ihm ihr gequältes Gesicht zu. Sternblatt hockte vor einem hervorstehenden Felsen, in jeder Hand einen Mondstein haltend, und murmelte vor sich hin. Die Heilblätter-Paviane Blüte und Blume beugten sich über ein klägliches Häufchen Fell, dass zusammengekauert im kurzen Gras lag.
»Da bist du endlich!«, schrie Matsch. Er rannte zu Dorn und packte ihn an der Schulter. »Du bist zurück, dem Großen Geist sei Dank!«
Dorn sah von Matschs gepeinigtem Gesicht zu der reglosen Gestalt am Boden. Er machte noch einen Schritt auf sie zu, obwohl seine Pfoten plötzlich so schwer wurden, dass er sie kaum anzuheben vermochte. Die Gestalt war ein Pavianweibchen. Ihr Fell war blutbefleckt, und er konnte nicht erkennen, ob sie atmete.
Selbst im verhangenen Licht des Nachmittags schimmerten goldene Strähnen in ihrem sonst glanzlosen Fell.
»Dorn.« Matsch zog beschwörend an seinem Arm. »Beere ist verletzt!«