Der Sonnenuntergang hatte eine fast gewalttätige Kraft, als wollte er den trostlosen, grauen Tag abgelten. Seine verglühenden Strahlen färbten die Wolkenbank violett, orange und flammend gelb. Der Sturm aber wütete weiter und drückte Auroras Ohren flach an ihren Kopf.
Das abgebrochene Stück vom Stoßzahn der Großen Mutter, das Aurora immer noch im Rüssel hielt, fühlte sich schwer an. Die Wanderung war lang und ermüdend und sie kamen nur langsam voran, da sie mit jedem Schritt gegen den peitschenden Wind ankämpfen mussten. Die Stelle, von der der Pfad abging, der sie zu ihrem Ziel führen sollte, war noch lange nicht erreicht.
Mond strauchelte und stützte sich mit seinem Rüssel an ihr ab. »’tschuldigung, Aurora«, gähnte er.
»Wir sollten etwas schlafen.«
»Ich bin nicht müde …«, sagte Mond, doch seine Worte gingen in einem neuen Gähnen unter.
»Der Wind ist einfach zu stark.« Aurora strich zärtlich über seine Ohren. »Komm. Ich glaube, ich höre ein Plätschern – wir wollen etwas trinken. Ich muss mich jedenfalls ausruhen, auch wenn du noch die ganze Nacht durchlaufen kannst.«
Mond richtete sich stolz auf, doch dann erstarrte er und klappte seine Ohren nach vorn. »Was war das?«
Aurora hatte es auch gehört. Der Wind trug ein fernes Trompeten zu ihnen herüber. Sie blieb stehen und lauschte. Das Geräusch ebbte im Wind auf und ab und ließ sich nur schwer orten.
»Ist das ein Nashorn?«, hauchte Mond. »Nashörner sind gefährlich, hat Mutter gesagt.«
Aurora verneinte. »Keine Sorge, Mond, das ist kein Nashorn. Das ist ein Elefant – ein einzelner Elefantenbulle, glaube ich.« Monds Miene hellte sich auf, aber sie sagte: »Auch Elefantenbullen können gefährlich werden! Wir kommen ihm lieber nicht zu nahe, einverstanden?«
»Einverstanden, Aurora. Wenn du meinst.« Mond nickte folgsam. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich brav sein werde.«
Aurora musste heimlich schmunzeln. Sie ging mit dem kleinen Elefanten über ein rissiges Stück Land. Das Wasserrauschen war jetzt so laut, dass es sogar das Tosen des Windes übertönte, dann wurde der Boden unter ihren Füßen weicher und hier und dort wuchsen saftige Grasbüschel. Nach der anstrengenden Wanderung war das eine Erholung für Auroras schmerzende Füße. Über ihr im dichten Blattwerk der Fieberbäume hatten sich Hunderte Reiher zum Schlafen niedergelassen. Darunter floss ein angeschwollener, reißender Bach.
In der windgeschützten, grasbewachsenen Senke mischten sich allerlei Gerüche. Aurora reckte unsicher ihren Rüssel. Schaudernd erkannte sie den moschusartigen, scharfen Fleischgeruch von Löwen. Hoffentlich waren sie nicht in der Nähe. Vielleicht verweilte ihr Geruch einfach noch im feuchten Blattwerk und in der relativen Stille.
Mond planschte mit seinen Zehen schon in der schnellen Strömung. Aurora sog einen Rüssel voll Wasser ein und spritzte es dankbar in ihr Maul. Es schmeckte frisch und klar und wunderbar.
Nun setzte Mond seinen ganzen Fuß ins Wasser, sodass ein Sprühregen aufspritzte. Er kicherte. »Es ist kalt!«
»Natürlich ist es kalt. Sieh nur!« Aurora streckte ihren Rüssel aus und spritzte ihn mit Wasser voll.
Mond quiekte und trompetete vergnügt, seine Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Aurora freute sich, dass sie ihn ablenken konnte, und spielte noch eine Weile, bis er genug hatte. Dann machten sich die beiden daran, dass süße Gras abzurupfen und zarte, dornige Zweige abzureißen.
Schließlich fiel Mond der Zweig, an dem er gerade kaute, aus dem Maul. Seine Augenlider wurden schwer und er gähnte laut. Aurora schlang ihren Rüssel um seinen Hals.
»Zeit zu schlafen«, sagte sie leise.
Sie schob Mond unter ihren Rüssel, verstaute das Fragment vom Stoßzahn der Großen Mutter unter ihrem Bein und legte sich hin. Mond kuschelte sich an sie und legte seinen warmen Kopf an ihre Flanke.
»Meinst du, meine Mama vermisst mich?«, fragte er kleinmütig.
»Bestimmt«, antwortete Aurora leise. »Ich vermisse sie auch. Und Regen und Komet und Wolke und Dämmerung auch. Aber weißt du was?«
»Was?«, flüsterte Mond.
»Wir werden bald wieder bei ihnen sein. Und dann wird Stern dich mit ihrem Rüssel einkuscheln und dich ganz lange nicht mehr von ihrer Seite lassen.« Aurora streichelte die borstigen Haare auf seinem Rücken. »Und du wirst richtig wütend werden, weil sie dich nicht zum Spielen fortlässt.«
»Ich werde bestimmt nicht wütend werden«, murmelte Mond. »Ich werde neben ihr bleiben. Für immer und ewig.«
Er kuschelte sich noch enger an sie, sie spürte seinen Herzschlag auf ihrer Haut. Auch ihre Augen wurden immer schwerer. Irgendwo über ihnen schwirrte ein Vogel und sang sein langes, schnurrendes Lied.
Mond schreckte auf. »Was war das?«
»Nur eine Nachtschwalbe«, beruhigte ihn Aurora. »Sie fliegen im Dunkeln. Hast du sie noch nie gehört?«
»Ich glaube nicht«, sagte Mond unsicher. »Um die Zeit schlafe ich meistens. Mit Mutter.«
»Du musst keine Angst vor ihnen haben.«
»Sind Nachtschwalben groß?«
»Nein, es sind kleine, braune Vögel«, erklärte Aurora. »Wenn einer auf deinem Rücken landen würde, würdest du es nicht einmal merken. Große Mutter konnte mit ihnen sprechen, so wie mit allen anderen Vögeln. Sie ließen sich immer auf ihrem Ohr nieder und erzählten ihr, was sie während der Nacht gesehen hatten.«
»Oh.« Mond schob seinen Kopf von einer Seite zur anderen und grub seine Wange in Auroras Bauch.
Kurz darauf setzte er sich wieder auf. »Was ist das?«
»Wo?«
»Dort drüben«, flüsterte Mond und zeigte mit seinem Rüssel. »Ich glaube, das ist ein Flusspferd.«
Tatsächlich ragte dort eine rundliche Form über dem Wasser auf, auf deren glatter, grauer Oberfläche sich das Mondlicht spiegelte. Bewegte sie sich …?
Dann erkannte sie einen gezackten Rand und eine löchrige Vertiefung. »Es ist nur ein Fels.«
»Ich mag ihn nicht.«
Über ihnen ertönte ein Kreischen, viel lauter als der Gesang der Nachtschwalbe, und diesmal schreckten beide zusammen.
»Was war das?«, wimmerte Mond.
»Nur ein Vogel«, sagte Aurora, war sich aber selbst nicht sicher. Auch ihr war das Geräusch unheimlich. Sie spähte zum Himmel hinauf, sah in der Dunkelheit aber nur die dahinjagenden Wolken.
Mond vergrub seinen Kopf in ihrer Seite. »Ich mag das nicht«, wiederholte er. »Ich will zu meiner Mutter. Ich will nach Hause!«
Wieder hörten sie ein fernes Heulen – eine Hyäne? Aurora zuckte zusammen. »Wir gehen bald nach Hause, versprochen«, sagte sie. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Dann kannst du vielleicht besser einschlafen.«
Sie spürte Monds eifriges Nicken.
»Also gut. Das ist eine Geschichte, die meine Mutter mir immer erzählte, als ich noch kleiner war als du.«
»So klein bin ich nicht«, sagte Mond und klang jetzt eher empört als verängstigt.
»Nein, natürlich nicht. Die Geschichte geht so: Zu einer Zeit, als die ersten Elefanten durch Bravelands wanderten und die Gräser zu wachsen begannen, gab es einmal einen kleinen Elefanten, der hieß Wolke. Wolke war so tapfer, dass sie –«
»He«, murmelte Mond in ihre Flanke hinein, »ich will, dass Wolke ein Er ist.«
»Gut. Wolke war so tapfer, dass er niemals Angst hatte, nicht vor Löwen und auch nicht vor Krokodilen. Und er war so klug, dass er die Sprache der Vögel verstand, genau wie unsere Große Mutter. Und er war so stark, dass er jeden Baum, der über den Wanderweg der Familie fiel, einfach hochhob und zur Seite warf. Und seine Mutter und seine Tanten und seine Cousinen und seine Großmutter waren sehr stolz auf ihn und sie liebten ihn über alles.«
»Und er liebte sie.« Mond hatte sich etwas beruhigt und seine Ohren aufmerksam aufgeklappt.
»Natürlich liebte er sie. Eines Abends, nach einer langen, langen Wanderung, hatte sich Wolkes ganze Familie schlafen gelegt, nur Wolke war noch wach und betrachtete den Sternenhimmel. Und da fiel ein Stern herab. Hast du schon einmal gesehen, wie ein Stern vom Himmel fällt?«
Mond nickte und stupste dabei Auroras Bauch an. »Ein Mal«, sagte er. »Mutter hat ihn auch gesehen.«
»Ja, aber als du ihn gesehen hast, ist er weit fort von dir heruntergefallen, stimmt’s?« Aurora streichelte mit ihrer Rüsselspitze sein zuckendes Ohr. »Der Stern, den Wolke sah, war groß und hell. Als er herunterfiel, gab es einen lauten Knall, daher wusste Wolke, dass er ganz in der Nähe gelandet war. Vielleicht nicht weiter als hinter dem nächsten Hügel …«
»Und hat Wolke ihn gefunden?«, fragte Mond.
»Nun, er flüsterte seiner Mutter ins Ohr, dass er gleich wiederkäme und sie sich keine Sorgen machen müsste. Und dann wanderte er über die Ebene zu dem Stern.«
Mond hob seinen Kopf und spähte in die Dunkelheit. »Aurora«, flüsterte er, seine Stimme klang ein wenig schrill. »Aurora, da drüben ist ein Nashorn.«
»Es ist nur ein Felsen«, beruhigte ihn Aurora und lächelte. »Genau wie bei dem Flusspferd.«
»Aurora!« flüsterte Mond angsterfüllt und zeigte mit seinem Rüssel in die Dunkelheit.
Im fahlen Mondlicht zeichnete sich undeutlich eine Form ab. Sie befand sich ein ganzes Stück entfernt neben dem Pfad. Sie war groß und still und hatte eine Wölbung, die wirklich wie der Buckel eines Nashorns aussah.
War die Form vorher schon da gewesen? Aurora war sich nicht sicher.
Sie glaubte nicht.
War es ein Felsbrocken? Dann hätte sie aber hören müssen, wie er auf den Pfad rollte, auch auf diesem aufgeweichten Boden. Und außerdem war er dafür eigentlich zu groß. Aurora wollte Mond gerade etwas Beruhigendes zuflüstern – da drehte die Gestalt ihren Kopf, sodass das Mondlicht darauffiel.
Es war eindeutig ein Kopf. Aurora erkannte die büscheligen Ohren und das unverwechselbare, lange Horn eines Nashorns. Das Blut gefror in ihren Adern.
»Ich sehe nach«, sagte sie leise, um einen festen Tonfall bemüht. »Du bleibst hier, Mond. Wenn ich trompete, rennst du weg. Dann rennst du so schnell du kannst.«
»Nein, bleib hier.« Mond schlang seinen Rüssel um Auroras Bein, aber sie schüttelte ihn sanft ab.
»Es wird nichts passieren«, sagte sie und versuchte, dabei genauso fest und ruhig zu sprechen, wie sie es von Großer Mutter gekannt hatte. »Ich werde still und flink wie ein Leopard sein.« Doch es war unmöglich, lautlos zu gehen. Schilfrohr und Gras knisterten und raschelten unter ihren Füßen. Aurora zuckte bei jedem Schritt zusammen, Furcht flutete durch ihre Adern. Als sie sich dem Pfad näherte und der Boden dürr und trocken wurde, knirschten ihre Schritte auf dem sandigen Grund und klackerten lose Steinchen unter ihren Füßen. Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen.
Das Nashorn rührte sich nicht. Es lag auf seinem Bauch, das Kinn ruhte auf dem Boden, seine Oberlippe bebte beim Schnarchen.
Wenigstens war es nicht so groß wie die anderen Nashörner, die sie schon gesehen hatte. Es war ungefähr so groß wie sie, noch nicht voll ausgewachsen. Aurora sah sich um, entdeckte aber keine anderen Nashörner.
Sie kroch zu Mond zurück. »Das Nashorn schläft«, flüsterte sie. »Es weiß nicht, dass wir hier sind.«
Mond stieß einen zittrigen, erleichterten Seufzer aus. »Vielleicht sollten wir gehen, bevor es aufwacht.«
»Nein, aber wir gehen, bevor es hell wird. Wir lassen das Nashorn in Ruhe und das Nashorn lässt uns in Ruhe.«
Aurora legte sich wieder hin und der kleine Elefant kuschelte sich an ihre Seite. »Es ist spät«, flüsterte sie. »Schau dort, wo die Wolken sich geteilt haben. Dort siehst du den Mond, kleiner Mond.«
»Kleine Aurora«, murmelte Mond.
»Der große Mond sieht auf den kleinen Mond herab«, sagte Aurora in einem leisen, träumerischen Ton. »Denk nur, was der große Mond alles sehen kann, überall in Bravelands.«
Monds Atmen wurde tiefer und langsamer und auch ihre Augen wurden schwer. Der Mond verschwand wieder hinter den dahinjagenden Wolken und hinterließ eine hellsilbrige Spur. Aurora hoffte, dass der Fluss der Sterne nicht bedeckt war. Sie blickte gern zu ihm hoch, wenn sie nicht schlafen konnte. Dann betrachtete sie seinen glitzernden Strom und folgte seinem gewölbten Pfad von einem Horizont zum anderen. Die silbernen Wolken, die nebelhaft durch ihr Sichtfeld wirbelten, waren nicht das Gleiche.
Sie beruhigten sie nicht, wie es die Sterne gewöhnlich taten …
*
Aurora wurde mit einem Ruck wach. Vom Fluss kam ein platschendes Geräusch. Fahles Tageslicht fiel durch die stürmischen Wolken und Mond spielte vergnügt am aufgewühlten Wasser.
»Endlich bist du wach, Aurora!«, quiekte er. »Das Nashorn ist fort!«
Aurora schaute am Ufer entlang. Es lag verlassen da. Dem Großen Geist sei Dank.
Mit ihrer Rüsselspitze tastete sie nach dem Stoßzahnfragment. Es lag immer noch neben ihr im Gras. Erleichtert riss sie ein Büschel Gras aus und schob es sich in das Maul.
Wasser spritzte ihr ins Gesicht; es war so kalt, dass ihr die Luft wegblieb.
»Das kriegst du von gestern zurück!«, kreischte Mond und hüpfte wieder zurück.
Aurora schüttelte das Wasser aus ihren Ohren und lachte. Dann füllte sie ihren Rüssel und nahm die Verfolgung auf. Mond rannte rüsselschwingend davon, und Aurora tat, als ob sie ihn verfehlt hätte, und spritzte das ganze Wasser über das Gras.
»Ich habe gewonnen!«, schrie Mond.
»Ja, du hast gewonnen«, stimmte Aurora zu und ringelte ihren Rüssel um seinen Rüssel.
Nachdem sie genug Gras und grüne Zweige gefressen hatten, holte Aurora den Stoßzahn, und sie machten sich wieder auf den Weg. Der Wind kam ihr noch stärker vor als am Tag zuvor. In der offenen Ebene der Savanne musste Aurora sich ihm richtig entgegenstemmen und Mond so gut es ging mit ihrem Körper schützen. Staub flog in ihre Augen, und es wurde auch nicht besser, als der Pfad steiler wurde. Von fern hörte sie wieder das Schmettern des Elefantenbullen. Und auch der schwache Geruch von Löwen streifte manchmal ihren Rüssel, doch bei dem starken Wind war es gut möglich, dass sie sehr weit entfernt waren.
Aurora konnte schlecht abschätzen, wie spät es war, denn die Sonne wurde von dicken, stürmenden Wolken verdeckt. So mussten die beiden jungen Elefanten auf gut Glück weiterstapfen und mühsam einen Fuß vor den anderen setzen. Das üppige, grüne Ufer und der süße Geschmack des Wassers verblichen zu einer fernen Erinnerung. Armer Mond, dachte Aurora, für ihn ist das bestimmt besonders schwierig.
Ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass sie nicht einmal fragen konnte, ob er müde war. Sie blieb einfach stehen, damit er sich ausruhen konnte. Erschöpft lehnte er sich an sie. Aurora prüfte währenddessen den Pfad, den sie gekommen waren, und versuchte auszumachen, wie viel sie geschafft hatten.
In der Ferne schimmerte eine unförmige Gestalt, die rasch näher kam.
Aurora erschrak so sehr, dass sie wie von einem Huf getroffen zusammenzuckte. »Was?«
Mond drehte sich erschöpft um und folgte ihrem Blick. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. »Das Nashorn«, schnaufte er. »Warum folgt es uns?«
»Ich weiß nicht.« Nun bekam auch Aurora es mit der Angst zu tun. Mond sah aus, als würde er gleich in Panik ausbrechen. Ganz ruhig bleiben, sagte sie sich streng und kitzelte ihn am Ohr. »Keine Sorge. Es hat zufällig denselben Weg wie wir.«
Sie eilten weiter und versuchten trotz des Windes, noch schneller voranzukommen. Der Trampelpfad führte eine Weile genau geradeaus, der Felsen, der den Abzweig markierte, war gut zu erkennen. Als sie abbogen, verlor sich der neue Pfad in bläulicher Ferne und verschwand hinter nebelverhangenen Hügeln. Aurora sah zurück, auch das Nashorn war an dem Wegzeichen abgebogen.
Warum tut es das? Was will es hier?
Der Pfad führte nun steil bergauf und wurde zunehmend schmaler. Die Felsen zu beiden Seiten rückten immer näher zusammen, sodass sie schließlich hintereinander gehen mussten. Wenigstens wurde Mond auf diese Weise ein wenig vor dem scharfen Sand und den herumwirbelnden Steinen geschützt. Von den nackten Felsen hallten das Heulen des Windes und das Prasseln herabfallender Steine wider, doch hinter ihnen waren noch lautere Geräusche. Aurora hörte ein Poltern wie von Felsbrocken, die so groß waren, dass selbst dieser Sturm sie nicht hätte bewegen können. Außerdem war ein rhythmisches Knirschen zu hören, das eindeutig von Schritten herrührte.
Aurora wurde es immer unheimlicher zumute und sie beschleunigte ihre Schritte.
Je höher sie kamen, desto dichter wurde der Nebel, die graue Feuchtigkeit setzte sich in ihre Hautfalten. Nachdem sie mehrere Höhenrücken überwunden hatten, führte sie der Felsenpfad endlich über den richtigen Pass. Sie blieb stehen.
Aurora erinnerte sich, dass der Pfad ab diesem Punkt wieder nach unten abfiel, die Felswände plötzlich wieder weiter wurden und sich auf eine grasbewachsene, von Knochen übersäte Ebene hin öffneten: das Land der Ahnen. Wollte das Nashorn etwa auch dorthin? Die Ebene war ein Heiligtum der Elefanten, was hatte ein Nashorn bei den Gebeinen toter Elefanten zu suchen? Aurora war sich sicher, dass der Pfad nirgendwo anders hinführte.
Sie straffte ihre Schultern und stupste Mond an, damit er sich an ihr vorbeiquetschte.
»Mond, geh weiter«, sagte sie. »Ich warte hier kurz, aber du gehst den Pfad bis in das Tal hinunter. Erinnerst du dich? Dort bist du in Sicherheit.«
Mond nickte. Er warf einen Blick zurück, auch er hatte das Nashorn gehört.
»Sei vorsichtig, Aurora«, flüsterte er, dann trottete er weiter bergauf.
Aurora wartete, der trostlose Wind jammerte und heulte. Ihr Herz flatterte wie ein Madenhacker. Weiter unten machte der Pfad eine Kurve und verschwand hinter einer Felsplatte, die ihr die Sicht versperrte. Aber sie hörte ein Grunzen und das Stapfen von schweren Schritten.
Dann tauchte das Nashorn auf. Es war ein Weibchen. Die Augen auf den Boden geheftet, schnaufte es mit seinem schweren Körper den steilen Pfad hinauf. Aurora hatte richtig vermutet – es war kaum größer und wahrscheinlich auch nicht älter als sie. Aber mit seinem massiven Leib und dem spitzen Horn sah es trotzdem gefährlich aus. Gib mir Mut, Große Mutter.
Jetzt oder nie, dachte Aurora und trat dem Nashorn in den Weg. Sie erhob zornig ihren Rüssel und breitete ihre Ohren aus.
»Warum folgst du uns?«
Das Nashorn blieb stehen, seine schwarzen Augen glitzerten. Es reckte seinen Kopf und sein langes Horn schimmerte im fahlen Licht.