Aurora sah dem Nashorn mit hoch erhobenem Kopf entgegen. Ihre Beine zitterten, denn ihr war nur allzu bewusst, wie eng der Felsenpfad war. Sollte das Nashorn angreifen, hätte sie keine Möglichkeit zur Flucht. Zum Glück war Mond schon auf dem Weg ins Land der Ahnen. Sie wollte das Nashorn so lange aufhalten, bis er dort angekommen war und zwischen den schützenden Gebeinen seiner Vorfahren vielleicht ein Versteck gefunden hatte.
Nur über meine Leiche wird es in seine Nähe kommen.
Der Wind heulte durch die hohle Gasse und riss Geröll und Sand mit sich, der sich mit jeder neuen Bö in Auroras Augen und Hautfalten festsetzte. Sie achtete nicht auf den beißenden Schmerz, sondern richtete ihren Blick fest auf die tiefschwarzen Augen des Nashorns. Es war eine junge Nashornkuh, die bei Weitem nicht so gefährlich aussah wie Dickhaut. Aber trotzdem war sie ein Nashorn und Nashörner durfte man nicht unterschätzen.
»Du bist uns den ganzen Tag gefolgt.« Aurora spreizte bedrohlich ihre Ohren. »Was willst du?«
Zu ihrer Überraschung senkte das Nashorn den Blick und trat von einem Huf auf den anderen. Durch diese demütige Haltung wirkte es zwischen den riesigen Felswänden beinahe klein.
Aurora senkte ihren Rüssel. Das hatte sie nicht erwartet. Es war, als würde sie keinem Feind, sondern ihresgleichen begegnen.
»Ich wollte …«, murmelte das Nashorn und machte eine verlegene Pause. »Ich wollte euch etwas fragen.«
»Uns etwas fragen?« Aurora wedelte verwirrt mit ihren Ohren. »Wir dachten, du wolltest uns angreifen.«
Das Nashorn zuckte zusammen. »Nein! Das würde ich niemals tun!«
»Ach so«, sagte Aurora ruhig. Die Anspannung fiel langsam von ihr ab.
»Ich wollte dir keine Angst machen«, sagte das Nashorn, dessen Oberlippe ängstlich zuckte. »Ich bin euch gefolgt, weil ich mir schon dachte, dass ihr in das Land eurer Ahnen wollt.« Sie schluckte und schaute Aurora an. »Ich weiß, dass dies für Elefanten ein heiliger Ort ist. Ich weiß, dass er für euch etwas Besonderes ist. Aber ich bitte dich – darf ich mit euch gehen?«
Auroras Ohren entspannten sich. Sie hatte noch nie gehört, dass ein anderes Tier gewagt hatte, diesen Ort aufzusuchen, aber ihr war auch nicht bekannt, dass dies nicht erlaubt war. Sie antwortete nicht gleich, versuchte, Zeit zu gewinnen. »Warum?«
Das junge Nashorn blickte zur Seite und starrte lange die Felswände an, seine Kehle arbeitete. Schließlich sagte es heiser: »Ich habe etwas Schlimmes getan. Bitte frag mich nicht, was es ist. Ich kann es dir nicht erzählen, aber es tut mir schrecklich leid.« Es schluckte. »Ich habe gehofft, dass ich vielleicht … wenn ich die Gebeine der Großen Eltern besuche … es ein bisschen wiedergutmachen kann.«
Aurora empfand unwillkürlich Mitleid mit dem Nashorn. »Das ist eine gute Idee«, sagte sie freundlich. »Was auch immer passiert oder falsch gelaufen ist, ein Besuch im Land der Ahnen wird dir helfen.«
Die Mine des Nashorns hellte sich sichtbar auf. »Danke, äh …?«
»Ich heiße Aurora«, sagte Aurora. »Aurora von der Wandererfamilie.«
»Danke, Aurora Wanderer. Ich heiße Silberhorn.«
»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Silberhorn.« Aurora merkte überrascht, dass sie wirklich so fühlte. »Und nun folge mir. Wir sind bald da.«
Aurora, der jetzt viel leichter ums Herz war, führte das Nashorn das letzte Stück des Wegs bis über die Passhöhe. Vor ihnen öffnete sich das Tal. Silberhorn hielt vor Staunen die Luft an.
Seite an Seite gingen die neuen Gefährtinnen über die weitläufige, grasbewachsene Ebene. Gleich darauf legte sich der Wind. Immer noch jagten Wolken über den Himmel, doch hier in dem Hochtal wiegte sich das üppige Gras in einer warmen, leichten Brise und die Blumen entfalteten ungestört ihre Blüten. Statt des Heulens des Windes vernahm man hier nur das Singen der Vögel und das Summen der Bienen.
Aurora atmete tief die würzige Luft ein. Hier war es so friedlich, trotz – oder vielleicht wegen – der sonnengebleichten Gebeine, die überall im Gras verstreut waren.
Silberhorn neigte ihr Horn und sah sich ehrfürchtig um. »Es ist so schön«, murmelte sie mit vor Ehrfurcht bebender Stimme. »So viele Gebeine … Stammen sie alle von den Großen Anführern?«
»Nicht nur«, belehrte Aurora sie. »Spürt ein Elefant, dass sein Ende naht, macht er sich auf in das Land der Ahnen. Wenn er es nicht schafft, bringt seine Familie seine Gebeine. Wir gedenken hier aller Elefanten, die uns verlassen mussten.«
»Oh«, flüsterte Silberhorn. Ihr Blick verweilte auf einem Skelett in ihrer Nähe, dessen Stoßzähne gen Himmel gerichtet waren. »Nashörner haben keine Tradition dieser Art. Es ist bestimmt … schön.«
»Das ist es.« Auroras Blick schweifte über das Tal. »Und hier ist es ungefährlich. Ah, Mond, da bist du ja.«
Ihr kleiner Cousin wartete am schattigen Wiesenrand und saugte nervös an seiner Rüsselspitze, den Blick starr auf das Nashorn gerichtet. Aurora winkte ihn herbei und er kam langsam näher. Seine Cousine streckte ihren Rüssel aus und zog ihn zu sich heran.
»Es ist gut, Mond«, sagte sie und streichelte seine Ohren. »Das ist Silberhorn. Sie wollte uns keine Angst machen. Sie möchte nur die Großen Anführer besuchen.« Sie wandte sich dem Nashorn zu. »Das ist mein Cousin Mond.«
»Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Mond.« Silberhorn neigte ihr Horn.
Mond sah sie aus großen Augen an, entspannte sich aber wieder. Linkisch neigte er seinen Kopf, dann ging er ein paar Schritte zur Seite und beobachtete Silberhorn durch seine Wimpern.
»Er wird sich an dich gewöhnen«, flüsterte Aurora.
»Hoffentlich«, sagte Silberhorn bekümmert. »Ich wollte ihm keine Angst machen.«
Aurora, die den Stoßzahnsplitter der Großen Mutter immer noch vorsichtig umfangen hielt, zeigte mit ihrem Rüssel auf den Kastanienbaum in der Mitte der Ebene. Sein breites Kronendach stand in voller Blüte, seine länglichen, grünen Blätter verschwanden beinahe unter der rosaroten Pracht. »Siehst du diese Blüten, Silberhorn? Das ist der Mutterbaum. Dort liegen die Gebeine aller Großen Anführer. Wenn meine Familie das nächste Mal hierherreist, werden wir die Gebeine der Großen Mutter dort ablegen, damit sie bei den anderen ruhen kann.« Die Gebeine der Großen Mutter … Aurora stockte der Atem bei diesem Gedanken und sie musste heftig blinzeln. »Willst du jetzt zu ihnen gehen?«
Silberhorn nickte. Sie sah zu dem Baum hinüber, dann watschelte sie auf ihn zu, das Horn ehrfürchtig gesenkt. Mond ließ sie nicht aus den Augen, er hatte sich wieder in den Schutz der Felswände zurückgezogen.
Aurora legte das Stoßzahnfragment vorsichtig ins Gras. »Ich bin gleich zurück, versprochen«, flüsterte sie. »Du wirst sicher verstehen, dass ich zuerst meine Mutter besuchen möchte.«
Die ersehnten Gebeine lagen am Rand der Hochebene. Über den Knochen wucherte Gras und überall wuchsen zarte Veilchen, aber das Gras war nicht so hoch, dass es den großen Schädel und das Rückgrat vollständig bedeckte. Aurora schob es vorsichtig mit dem Rüssel auseinander und legte die gebleichten, weißen Rippen ihrer Mutter frei.
»Ich bin zurück«, sagte sie leise. »Wahrscheinlich hast du mich nicht so bald wieder erwartet.«
Ihre eigenen Knochen schmerzten vor Trauer. Es war schon lange her, dass ihre Mutter von Löwen getötet worden war – sie war damals noch ganz klein gewesen –, trotzdem vermisste Aurora sie sehr. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern würde.
»Mama«, flüsterte sie, »ich brauche deine Hilfe. Die Familie glaubt, ich sei die Große Mutter, aber ich weiß, dass ich das nicht bin. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Trotz ihres Verlangens zögerte Aurora, die Gebeine ihrer Mutter zu berühren. Beim letzten Mal hatte sie statt einer schönen Erinnerung eine schreckliche Vision erhalten: eine brennende, rote Landschaft, eine Wasserstelle, die sich in Blut verwandelte, ganz Bravelands schaurig zerstört. Und inmitten der unheilvollen Flammen schritt ein riesiger Löwe, auf dessen Rücken ein unheimlicher, tückisch aussehender Pavian ritt. Die Vision hatte sie tief erschüttert.
Viel später hatte sie erfahren, dass der seltsame Pavian der Mörder von Borke Kronblatt war. Doch selbst jetzt, wo sich die Vision des blutbefleckten Wassers auf die denkbar schlimmste Art und Weise erfüllt hatte, hatte Aurora keine Ahnung, was der Rest der Vision bedeutete oder warum sie ausgerechnet ihr erschienen war. Würde sie wieder so etwas Schreckliches sehen, wenn sie jetzt die Gebeine ihrer Mutter berührte? Oder sogar etwas noch Schlimmeres?
Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden. Aurora holte tief Luft und legte ihren Rüssel an den Schädel ihrer Mutter.
Grasland breitete sich um sie aus, flach und leer, wohin sie auch blickte. Keine Tiere, keine Vögel. Die sonnengefleckten Halme wiegten sich in einer sanften Brise, wellten sich grün und golden soweit Auroras Blick reichte.
Und in der Mitte, geradeaus vor ihr, stand ein Baum.
Es war eine Akazie, deren Kronendach höher war als alles, was Aurora bis dahin gesehen hatte. Sie ging näher heran, ihre Füße lautlos auf dem Gras.
Der Baumstamm erhob sich gerade und hoch in die Luft und seine Äste reckten sich dunkel gegen den strahlend blauen Himmel.
Im Gegenlicht zeichnete sich schemenhaft etwas ab, das ihr seltsam und fehl am Platz vorkam. Hoch oben nahm sie einen riesigen Schatten wahr. Aurora kniff ihre Augen zusammen und versuchte herauszufinden, was das war.
Und dann erkannte sie es: die gedrungene Gestalt eines Nashorns. Es balancierte dort oben auf eine unmögliche Art und Weise, jedes Bein auf einem anderen Ast abgestützt.
Dann begann der Baum zu wackeln. Er grollte und bebte und seine dicken Äste bogen sich und schwankten unter den Füßen des Nashorns wild hin und her. »Pass auf!«, wollte Aurora rufen, aber kein Laut drang aus ihrem Maul.
Sich der Gefahr nicht bewusst, hob das Nashorn seinen schweren Kopf in Richtung Sonne. Unter seinen Füßen knickten und knackten die Äste, doch das Nashorn blieb dort, sein Horn hoch erhoben, den Blick der blendenden, weißen Sonne zugewandt –
Die Vision verblasste. Taumelnd wich Aurora vom Schädel der Mutter zurück.
Die Vision war nicht so grauenerregend gewesen wie die letzte, aber verwirrend war sie allemal. War Silberhorn das Nashorn? War sie in Gefahr? Mama, ich verstehe es nicht!
Benommen tapste Aurora zu der Stelle zurück, wo sie das Stoßzahnfragment der Großen Mutter abgelegt hatte, und ging damit zum großen Kastanienbaum. Mond löste sich aus seinem Versteck und folgte ihr auf den Fersen.
Als Silberhorn die beiden Elefanten erblickte, zog sie sich schüchtern von den Gebeinen unter dem Baum zurück. Aurora musterte den klobigen Körper aus dem Augenwinkel. War das Nashorn aus ihrer Vision nicht viel größer gewesen? Aber das ließ sich nicht genau sagen. Aurora schluckte ihre Ratlosigkeit herunter und konzentrierte sich darauf, einen geeigneten Platz für das Stoßzahnstück zu finden.
»Aurora, was machst du da?« Mond stupste sie neugierig mit seinem Rüssel an.
»Ich habe den Stoßzahn von Große Mutter hierhergebracht, denn hier gehört er hin«, erklärte sie.
Zwischen den Gebeinen von zwei anderen Großen Anführern befand sich noch eine unberührte Fläche von weichem, grünem Gras. Aurora schob die Halme mit ihrer Rüsselspitze auseinander und legte das Stoßzahnstück nieder. Es schimmerte im Sonnenlicht und kam Aurora weißer als alle anderen Gebeine vor, die dort lagen. Wie die von Sternen umgebene Sonne.
Aurora hatte schon häufiger versucht, das Stoßzahnfragment zu deuten, es hatte ihr aber nie etwas mitgeteilt. Vielleicht funktionierte es jetzt, wo es zwischen den Großen Anführern lag, die ihrer Großmutter vorausgegangen waren? Aurora holte tief Luft und legte ihre Rüsselspitze auf die glatte Oberfläche des Stoßzahns.
Bitte, Große Mutter. Sag mir, wer der neue Große Anführer ist. Sag mir, was ich tun soll.
Nichts. Der Stoßzahn hätte ebenso gut ein Stein oder ein Stock sein können.
»Hat Große Mutter dir gesagt, wo der Große Geist ist?«, fragte Mond neugierig.
Stumm schüttelte Aurora ihren Kopf.
Monds Stimme kippte. »Aber wir sind den ganzen weiten Weg gelaufen!«
»Wir versuchen etwas anderes«, beruhigte sie ihn.
Vielleicht konnte ihr einer der anderen Großen Anführer helfen? Auroras Blick schweifte über das Gras, das unterhalb des rosa blühenden Baums wuchs. Etwas streifte ihre Erinnerung: ihr allererster Besuch im Land der Ahnen, als sie noch kleiner war als Mond jetzt. Große Mutter hatte sie hierhergebracht und ihr etwas ganz Besonderes gezeigt …
Da. Von den alten Gebeinen waren nur noch Bruchstücke vorhanden. Vorsichtig schob Aurora das Gras auseinander. Im Lauf der Jahre hatten sich die Wurzeln des Baums immer weiter ausgebreitet und waren über und um die Knochen herum gewachsen. Eine Wurzel hatte sich durch die Augenhöhle des Schädels gebohrt. Der Mutterbaum hatte diese Knochen eins mit der Ebene werden lassen.
»Die Gebeine der ersten Großen Mutter«, erklärte sie Mond mit leiser Stimme.
Er beugte sich vor, dann kniff er die Augen zusammen. »Sie sind ja zerbrochen.«
»Sie sind sehr alt«, sagte Aurora. »Sie liegen hier schon seit Urzeiten.«
Andächtig strich sie über die abgenutzten Knochen. Kannst du mich hören, erste Große Mutter? Aurora schloss flatternd ihre Augen und hoffte entgegen aller Hoffnung.
Und die erste Große Mutter hörte sie.
Dunkelheit. Sturmwolken und eng beieinanderstehende Bäume, deren dicke Äste wild hin und her schwankten.
Heulender Wind drückte Auroras Ohren flach an ihren Kopf, peitschte ihr ins Gesicht und gegen die Brust und drückte sie beinahe auf die Knie. Doch Aurora wusste, dass sich weiter vorne etwas sehr Wichtiges befand, etwas, das sie unbedingt sehen musste. Sie kniff ihre Augen zusammen, stemmte sich gegen den Sturm und kämpfte sich vorwärts.
Dann kam etwas näher, etwas Großes und Starkes, das durch die Bäume brach, als wären sie einfache Zweige. Der Boden erzitterte, Äste knackten und knickten, Blätter fielen herab. Es war eine dunkle Gestalt, groß und vertraut und tröstend, deren Blick in die Ferne gerichtet war.
Freude strömte durch Aurora. »Große Mutter!«
Der schwere, vertraute Kopf drehte sich langsam um.
Und dann war der große Elefant verschwunden.
»Große Mutter!«, weinte Aurora. Sie war verlassen, verloren …
Plötzlich erblühte ein weißes Licht zwischen den Bäumen und Aurora stockte der Atem. Es schimmerte schöner als alles, was sie jemals gesehen hatte, und zum ersten Mal seit langer Zeit war Aurora von Frieden erfüllt …
Bis das Licht anfing zu schrumpfen.
»Nein«, wimmerte Aurora. »Bleib doch!«
Sie stolperte vorwärts. Das Licht veränderte sich und bekam die Form von ausgebreiteten Flügeln. Ein Vogel. Ein Vogel mit ungewöhnlich breiten, glänzenden Flügeln –
Sie taumelte, ihre Knie waren weich vor Schreck. Sie war wieder auf der Hochebene, die Sonne strahlte und eine sanfte Brise brachte das Gras zum Flirren.
»Aurora?« Silberhorn trottete beunruhigt auf sie zu.
»Was hast du gesehen?«, fragte Mond und rollte seinen Rüssel um den ihren. »Was ist passiert, Aurora?«
Aurora blinzelte und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. »Ich weiß es nicht – ich habe Große Mutter gesehen und einen Vogel … ich weiß es nicht«, erklärte sie verzweifelt. »Vielleicht ist der Große Geist irgendwo in der Luft und hält nach dem richtigen Großen Anführer Ausschau?«
Bevor Mond oder Silberhorn etwas sagen konnten, zerriss ein scharfer Schrei den Himmel, der von den Felswänden widerhallte. In der leichten Brise bewegte sich ein Schatten über die Ebene.
»Ein Vogel!«, rief Mond. »Genau, was du gesehen hast, Aurora! Das ist doch ein gutes Zeichen?«
Aurora spähte nach oben, ihr Herz schlug vor Hoffnung höher. Doch als der Vogel sich aus der gleißenden Sonne nach unten schraubte, schnürte sich Auroras Kehle zusammen. Es war eine Geierdame – ein Leichenfresser.
Die Geierdame kreischte auf Himmelszunge, der Sprache der Vögel, und jagte Aurora einen Schauer über den Rücken. Es war kein schöner Vogel. Die schwarzen Flügel waren riesig groß, das Gesicht fleckig und runzlig und der lange Hals beinahe vollständig kahl. Die drei Freunde wichen erschrocken zurück, als der Vogel seine breiten Flügel in Schräglage brachte und im Sturzflug unter dem Kastanienbaum landete.
Er machte ein paar ausholende Hüpfer über das Gras, wobei seine Krallen den Boden harkten. Mit einem Schrei des Triumphs packte er das Stoßzahnfragment von Große Mutter.
»Nein!«, schrie Aurora und sprang vor. »Nein! Bitte nimm es nicht weg!«
Der Geier beachtete sie nicht und flog mit seiner Beute himmelwärts. Aurora war außer sich. Der Vogel flog nun in unerreichbarer Höhe über ihren Köpfen und schoss oberhalb des schmalen Pfades, der den Eingang zum Land der Ahnen bildete, weiter in die Höhe. Aurora schluchzte verzweifelt, der Vogel stieß wieder seinen durchdringenden Schrei aus und drehte Kreise in der Luft.
»Er hat sie gestohlen!«, trompetete Mond und galoppierte hin und her und wedelte voller Zorn mit seinem Rüssel. »Er hat die Große Mutter gestohlen!«
»Aber warum?« Silberhorns dunkle Augen blitzten zornig. »Aurora, warum sollte ein Vogel so etwas tun?«
Aurora starrte wie versteinert zu dem Geier hinauf. Das Herz wollte ihr zerspringen. Warum sollte ein Vogel so etwas tun?
Und sie merkte, dass sie es bereits wusste.
»Wir müssen ihm folgen!«