Die Geierdame kreischte und erhob sich mit schweren Flügelschlägen. Dann ließ sie sich auf einem dünnen, vom Wind gebeugten Eisenholzbaum am Abhang des Berges nieder. Ihre Krallen waren noch immer um das Stück vom Stoßzahn der Großen Mutter gekrümmt.
»Dort hinauf?«, fragte Silberhorn zweifelnd. Der Weg war immer steiler geworden und die staubige Erde unter ihren Füßen hatte sich in felsiges Geröll verwandelt. Die jetzt vor ihnen liegende Steigung war jedoch noch steiler und führte geradewegs nach oben. »Wann haben wir das letzte Mal etwas getrunken? Ich sehe kein Wasser dort oben.«
Der Himmel war immer noch eisklar. Jetzt sahen sie auch, dass der Nebel, den sie von unten gesehen hatten, nichts weiter als eine Wolke aus Steinstaub war, die von einer leichten Brise am Berghang aufgewirbelt wurde. Der feine Staub drang in jede Hautfalte, was ihrer Stimmung nicht gerade förderlich war.
»Wir schaffen das«, sagte Fels. Er starrte den Berg wie einen gegnerischen Elefantenbullen an, seine Ohren waren weit aufgeklappt und sein Rüssel hoch erhoben.
Silberhorn schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Ich will nach Hause. Der Überfall der Löwen und so …« Sie verstummte und sah Aurora mitfühlend an.
Aurora hörte kaum zu. Sie dachte an Monds kleinen, verwundeten Körper, den sie dürftig mit den spärlichen Stöcken und Zweigen bedeckt hatten, die sie hatten finden können. Es war ihr sehr schwergefallen, ihn dort allein zu lassen.
Fels sah sie freundlich aus grünen Augen an. »Ihr seid jetzt in Sicherheit, ich bin bei euch«, brummte er. »Die Löwen sind weggerannt. Wenn wir zusammenbleiben, wagt es niemand, uns anzugreifen.«
Aurora pustete mit ihrem Rüssel ein wenig von dem fahlen Staub auf. Hätte ich Fels nur früher gerufen, dachte sie. Hätte ich …
Die Geierdame kreischte, als wollte sie die Gruppe zur Eile antreiben.
»Aurora muss herausfinden, was es mit dem Großen Geist auf sich hat«, sagte Fels. »Und das geht nur, wenn wir weitergehen, Silberhorn.«
Auroras Augen brannten, aber sie war so ausgetrocknet, dass keine Tränen kamen. Gib mir deine Kraft, Große Mutter, dachte sie. Bitte lass diese Reise nicht umsonst gewesen sein. Wir haben zu viel verloren.
Sie blinzelte mit juckenden Augenlidern und setzte einen Fuß auf die Steigung. Sie holte zitternd Luft und sagte: »Wir gehen weiter.«
Sie stapfte bergauf und folgte einem breiten Pfad, der bis zum blauen Gipfel anstieg. Es war ein beschwerlicher Weg und unter ihren Füßen löste sich immer wieder Geröll. Ein loser Stein rutschte unter Auroras Füßen weg, sie schlingerte nach vorn, stolperte und konnte sich gerade noch am blanken Felsen festhalten. Ich muss aufpassen, dass ich nicht hinunterstürze.
Ihre missliche Situation war jedoch nichts im Vergleich zu Monds Schicksal. Ich muss weiter. Für ihn.
Etwas Warmes und Starkes hielt sie am Rücken fest. »Vorsicht«, sagte Fels. »Ist alles in Ordnung?«
»Danke«, keuchte sie. Sie fühlte sich noch ein bisschen zitterig, aber sein Rüssel gab ihr Halt und sie schluckte. Noch ein Schritt. Und noch einer. Genau wie ich es Silberhorn gesagt habe.
Die Geierdame flog stets vor ihnen. Manchmal kreiste sie in die Höhe und ließ sich wieder fallen, dann wieder setzte sie sich auf einen hohen Felsen oder einen verkrüppelten Baum und wartete. Der breite Weg, der jetzt noch steiler nach oben führte, wurde beinahe zu einer senkrechten Wand, durch deren gemaserte Felsen ein schmaler Spalt verlief. Einen Augenblick lang dachte – hoffte – Aurora, sie hätten das Ende ihrer Reise erreicht, doch die Geierdame schlug mit ihren schwarzen Flügeln und führte sie durch den Spalt. Die Elefanten und das Nashorn quetschten sich hinter ihr durch, wobei Steine ihre Schultern aufschürften.
Hinter der Felswand öffnete sich ein schmaler Pfad, der sich weiter hinaufschlängelte. Zu beiden Seiten erhoben sich steile Felshänge, die fast das gesamte Sonnenlicht aussperrten. Kein anderes Lebewesen außer ihnen störte die düstere Landschaft – nicht einmal Eidechsen oder Käfer waren zu sehen. Die Kameraden gingen im Halbdunkel weiter, hoch über ihnen die Geierdame. Aurora sah hilflos zu ihr hinauf. Wie lange müssen wir noch durchhalten?
»Es ist schön, mit dir und Silberhorn unterwegs zu sein.« Fels’ kollernde Stimme hallte von den Felswänden wider. »Fast, als hätte ich wieder eine Herde.«
Aurora nahm an, dass Fels, wie alle Elefantenbullen, seine Herde im Alter von ungefähr vierzehn Jahren verlassen hatte. Nur die Elefantenkühe blieben ihr ganzes Leben lang bei ihren Familien. Brocken, ihr Bruder, war schon so lange fort, dass sich Aurora kaum noch an ihn erinnerte. Und Mond wird all das niemals erleben, dachte sie mit wiederaufflackernder Trauer. Er wird nie mit seinen Brüdern wandern oder sich eine Gefährtin suchen.
Sie durfte nicht ständig an ihren Verlust denken, sonst würde sie sich vor lauter Elend einfach nur noch hinlegen wollen. Sie räusperte sich. »Willst du mir von deiner Herde erzählen?«, fragte sie Fels.
»Ich bin in der Trekkerfamilie geboren worden«, erzählte er. »Sie lebt am Rand von Bravelands, genau am anderen Ende dieses Berges. Dort ist das Land flach und noch trockener als in der Savanne.« Er klang wehmütig. »Ich vermisse sie, aber ich habe neue Brüder gefunden, die alle in meinem Alter sind. Wir sind zu fünft und manchmal reisen wir auch zusammen. Donner – er ist der Älteste in unserer Gegend – macht uns das Leben nicht immer leicht. Aber wir haben Spaß miteinander.«
»Das klingt schön«, sagte Aurora. Sie bogen um eine scharfe Kurve. »Hast du –« Überrascht sprach sie nicht weiter.
Auf sämtlichen Felsen und Felsvorsprüngen und auf den nackten Ästen der skelettartigen Bäume hockten Geier, es waren Hunderte. Der Pfad öffnete sich zu einem Kreis, der unter den vielen Vögeln jedoch kaum zu sehen war. Alle waren still und hatten ihre Knopfaugen auf Aurora gerichtet. Auf dem höchsten Felsen saß die Geierdame, die sie hergeführt hatte. Sie hatte das Stoßzahnfragment von Großer Mutter immer noch in ihren Krallen.
Silberhorn, die gerade um die Ecke bog, schnaubte beunruhigt. Sie senkte ihr Horn und scharrte auf dem steinigen Boden. »Oh, ich wusste, dass wir nicht hätten kommen sollen!«
Fels spreizte seine Ohren und schritt auf die Geier zu. Seine langen, beigen Stoßzähne schwenkten hin und her. Die Geier rührten sich nicht. Ihre glänzenden, schwarzen Augen waren auf Aurora gerichtet. Sie waren die Botschafter der Großen Mutter, dachte diese. Vielleicht haben sie auch für mich eine Botschaft?
»Es ist gut«, sagte sie und stupste Silberhorn sanft mit dem Rüssel an. »Sie werden uns nichts tun.«
Das Nashorn wimmerte, hob aber sein Horn ein wenig in die Höhe. Fels stand still wie ein Berg.
Die Geierdame stieß einen befehlenden Schrei aus, die anderen antworteten in einem ohrenbetäubenden Chor. Sie erhoben sich auf riesigen, schwarzen Flügeln in die Luft und stürzten auf Aurora und ihre Kameraden nieder. Aurora zuckte zurück und kniff die Augen zusammen. Niemand berührte sie, sie spürte nur den Wind der sie umschwirrenden Flügel. Als sie die Augen wieder aufschlug, war die Luft ein einziges schwarzes Durcheinander aus rauschenden Federn.
»Weg hier«, trompetete Fels. Silberhorn kauerte sich neben Aurora.
»Wartet.« Aurora fühlte sich seltsam ruhig. Große Mutter hatte diesen riesigen, finsteren Vögeln vertraut und das würde sie ebenfalls.
Die Geier teilten sich, sodass Aurora aus der schwirrenden Wolke heraustreten konnte. Doch als Fels ihr folgen wollte, schossen die Geier vor ihm herab und versperrten ihm den Weg.
Die Geierdame legte das Stück vom Stoßzahn der Großen Mutter auf den felsigen Weg. Dort verharrte sie einen Augenblick und sah Aurora an. Dann erhob sie sich zum Flug und schraubte sich weit über den Berg hinauf.
»Ich verstehe«, sagte Aurora leise. Sie drehte sich zu den anderen um, die von den sie umschwirrenden schwarzen Flügeln halb verdeckt waren. »Ich muss allein weiter.«
»Nein!«, bellte Silberhorn erschrocken. »Das ist eine Falle!«
Fels kollerte frustriert und versuchte, zu ihr durchzudringen, aber die Geier drängten ihn flügelschlagend zurück.
»Wartet hier«, rief Aurora. »Sie lassen euch in Ruhe, wenn sie sehen, dass ihr mir nicht folgt.«
»Aber wohin bringen sie dich?«, brüllte Fels.
»Sie müssen mir etwas zeigen.« Aurora wusste nicht, was es war, aber sie war sich ihrer Sache sicher. Irgendetwas trug sie zu diesem Berggipfel, wie ein im Wind schaukelndes Blatt. An Umkehr war nicht zu denken.
»Aurora!« Sie blieb stehen und hörte die verzweifelten Schreie ihrer Freunde, doch sie ging weiter und blieb nur kurz stehen, um das Stück vom Stoßzahn der Großen Mutter aufzuheben. Es war glatt und fühlte sich kühl und vertraut an. Es gab ihr Sicherheit.
Sie kletterte den schmalen Pfad weiter hinauf und hechelte vor Durst. Sie war allein, doch ihr war, als würde neben ihr eine warme, starke Gestalt gehen, die sie fast zu sehen meinte. Ach, Große Mutter, dachte sie. Bleibe bei mir.
Der Pfad wurde sogar noch steiler, war zum Glück aber weniger geröllig. Aurora spürte neue Kräfte und kletterte mit sicheren Schritten noch ein bisschen schneller, bis sie endlich schwer atmend den Gipfel erreichte.
Hier oben wehte ein leichter Wind, der an ihren Ohren zupfte. Nach der gleißenden Hitze des Aufstiegs fühlte er sich wohlig kühl an. Aurora stockte der Atem. Unter ihr lag Bravelands, erstreckte sich in alle Richtungen – die dunkelgrünen Wälder, die blassgoldenen Grasebenen, das diesige Blaugrün ferner Berge. Sie erkannte die Wasserstelle als einen dunkelblauen Fleck und das sie umgebende üppige Smaragdgrün. Dort unten jagten und grasten, spielten und schliefen und liebten die verschiedensten Tiere, jedes auf seinem eigenen kleinen Stück Land. Und keines konnte diese ganze Vielfalt überblicken.
Aber Aurora konnte all das auf einmal sehen. Und es war wunderschön.
Lange betrachtete sie das Land und ließ sich den Wind ins Gesicht blasen, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie suchte die große Weite ab und versuchte auszumachen, wo ihre Familie sein musste und wo Große Mutter und Mond ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Nur widerstrebend drehte sie sich schließlich um und sah über den gezackten Bergkamm.
Über ihr ragte eine Wand aus zerklüfteten, grauen Felsen auf. Auf ihrer obersten Kante saß die Geierdame, die sie kannte. Als diese Auroras Blick bemerkte, warf sie sich in die Luft und verschwand zwischen zwei Felsen. Aurora nahm all ihren Mut zusammen und folgte ihr.
Die Fläche zwischen den Felsen war beinahe kreisförmig, aber viel kleiner als das Land der Ahnen und frei von Gras, Blättern und Blumen. Auf der flachen Oberfläche glitzerten graue und weiße Kieselsteine, die im Sonnenlicht fast blendeten. Genau in der Mitte befand sich eine runde, kleine Vertiefung. Die Geierdame segelte hinab und ließ sich an deren Rand nieder. Sie zog ihre Schultern hoch und stieß einen unheimlichen Schrei aus.
Hinter Aurora echote ein Antwortschrei. Sie drehte sich schnell um und erstarrte.
Ein weiterer Geier hüpfte auf sie zu, seine Krallen klickten auf dem Felsboden. Er sah so alt aus, dass Aurora beinahe zurückgewichen wäre. Seine Augen waren milchig und blind und sein Gesicht war noch runzliger als das der anderen Geier. Seine Flügel waren dünn und zerzaust, und dort, wo die Federn ausgefallen waren, waren große kahle Stellen, aus denen ungleichmäßige, fahle Hautstellen hervorschauten.
Der alte Geier blieb direkt unter Auroras Rüssel stehen. Er reckte seinen Hals und klopfte mit seinem Schnabel hart gegen das Stoßzahnfragment, das sie umklammerte. Dann schlurfte er an ihr vorbei und klopfte gegen die Steine, die in der Mitte der Vertiefung lagen.
»Ich soll das hier hineinlegen?«
Der Geier klopfte wieder gegen die Steine.
Aurora stieg vorsichtig über sie und legte das Stoßzahnstück hin. Kaum berührte es die Kiesel, gluckerte plätschernd Wasser empor.
Es war ein herrliches Geräusch und irgendwie schien Auroras Durst allein vom Funkeln des Wassers gestillt zu werden. Staunend betrachtete sie das Schauspiel. Das Wasser brodelte noch stärker, schoss wie eine Fontäne über die Steine und färbte sie dunkelgrau. Als die Vertiefung gefüllt war, kam die schäumende Oberfläche zur Ruhe und glitzerte in Farben, die Aurora kaum erkannte: eine Palette von Blau bis Grün und einem Funken Gold. Sie zitterte vor Aufregung.
Der blinde Geier nickte Richtung Tümpel. Das war eine deutliche Aufforderung, der sie gern folgte. Aurora steckte ihren Rüssel in das Wasser und trank.
Hatte allein der Anblick des Wassers ihren Durst gestillt, so glaubte sie bei seinem Geschmack, nie mehr Durst empfinden zu müssen. Das Wasser war klar, kalt und süß, gewürzt mit einem Hauch von Bergluft. Aurora sog Rüssel um Rüssel in sich hinein. Ihr war, als würde das Wasser jeden Teil ihres Körpers überschwemmen, ihre Zehen, ihren Schwanz, ihren Rüssel, ihre Ohren. Und der Wasserspiegel des Teichs blieb immer gleich. Es umspülte den Rand der Vertiefung, aufgewühlt von der brodelnden Quelle an seinem Grund.
Als Aurora schließlich ihren Rüssel aus dem Wasser zog, hatte sie das Gefühl, stundenlang getrunken zu haben, obwohl der Sonnenstand sich nicht verändert hatte.
»Du bist aus einem bestimmten Grund hierhergebracht worden«, sagte der alte Geier.
Aurora fuhr ein Schrecken durch die Glieder. In das schnarrende Krächzen des Geiers waren Wörter eingeflochten, die sie so deutlich hörte, als hätten Fels oder Silberhorn sie ausgesprochen.
»Ich kann dich verstehen«, flüsterte sie fassungslos.
Der Geier zuckte mit seinen Flügelspitzen. »Hier und jetzt spricht der Große Geist durch uns«, sagte er. »Du hast eine lebenswichtige Aufgabe vor dir, Aurora Wanderer.«
»Ich?«, fragte Aurora erstaunt.
Der blinde Vogel neigte seinen runzeligen Kopf. »Große Mutter starb, bevor sie den Großen Geist weitergeben konnte. Das war eine große, unvorhersehbare Tragödie. Doch du, Aurora, warst die Erste, die den Körper der Großen Mutter fand. Du bist die, die sie am meisten geliebt und der sie am meisten vertraut hat. Und so ist der Große Geist auf dich übergegangen.«
Aurora wich zurück, ihre Augen weiteten sich. »Was? Aber ich kann nicht die Große Mutter sein – ich weiß, dass ich es nicht bin!«
»Das ist richtig«, sagte der Geier ruhig. »Du bist es nicht.« Er schlurfte näher, seine blinden Augen waren auf sie gerichtet. »Aber du trägst den Großen Geist so lange in dir, bis der neue Große Vater oder die neue Große Mutter bereit sind. Große Mutter ist zu früh gestorben. Du musst den neuen Anführer finden, und wenn die Zeit reif ist, wirst du den Großen Geist an ihn weitergeben.«
In Auroras Innerstem schien sich etwas zu verschieben, als würden Wolken auseinanderreißen und die fernen, klaren Hügel sichtbar werden. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Der Große Geist hatte sie gebraucht, aus diesem Grund.
»Und wie soll ich ihn finden?«, fragte sie leise. »Werde ich ihn erkennen? Wird es wieder ein Elefant sein?«
»Ich weiß es nicht. Keine Kreatur weiß das. Aber du wirst den wahren Anführer finden.« Er hüpfte um den Rand des Teiches herum. »Du besitzt bereits die Gabe, in die Zukunft zu sehen, doch das Wasser hat dir noch eine andere Gabe verliehen. Komm«, rief er der Geierdame zu.
Sie flatterte herab und hüpfte zu Aurora, dann neigte sie ihren kahlen Kopf. Aurora begriff sofort. Zaghaft legte sie ihre Rüsselspitze auf die zarte Kopfhaut des Geiers. Die Welt um sie herum kam in Bewegung und verschwamm.
Sie fliegt, ihre Flügel nehmen die warmen Windströme auf, die sie in das unendliche Blau hineintragen. Ihr Schwarm ruft ihr etwas zu, zeigt ihr die Tiere auf der Erde unten, und sie rufen ihren Namen: Windreiter. Unter ihr erstreckt sich das große, gelbe Grasmeer, nichts entgeht ihrem Blick. Weit unten wandern die Herden auf ihren angestammten Pfaden durch Bravelands.
Zu ihrer Linken befindet sich eine Gruppe von Schirmakazien, und darunter, halb in der Sonne, halb im Schatten, sonnen sich goldene Löwen. Sie neigt ihre Flügelspitzen und kreist weiter hinab.
Zwei Löwenjungen, das eine größer als das andere, balgen sich spielerisch im Gras, einen echten Kampf nachahmend, peitschen ihre Schwänze wild hin und her. Als sie näher fliegt, lassen sie voneinander ab. Das kleinere Junge rennt ein paar Schritte vor und sieht trotzig zu ihr hinauf. Seine goldenen Augen begegnen ihrem Blick.
Das Junge öffnet sein Maul und ein mächtiges Brüllen steigt auf, das jedes andere Geräusch auslöscht und die Luft um sie herum erschüttert. Erschrocken weicht sie zurück, ihre Flügel zittern.
Wieder spürte Aurora eine Bewegung. Sie war wieder auf dem Berg und stand mit ihren Füßen fest auf dem Boden. Sie zog ihren Rüssel vom Kopf der Geierdame. Sie begriff, dass sie in ihrer Erinnerung gewesen war. Ich war Windreiter.
Sie sah auf den Teich, doch das magische Wasser war verschwunden – und mit ihm der Stoßzahn der Großen Mutter. Aber wie …?
»Sie muss dir sehr vertraut haben, dass sie dir eine solche Gabe geschenkt hat«, sagte der alte Geier. »Nutze sie weise.« Er legte seine ausgefransten Flügel an und neigte seinen Kopf. »Die Zukunft von Bravelands hängt von dir ab.« Er schlurfte wieder nach hinten ins Halbdunkel.
»Warte«, rief Aurora. »Wie soll ich diesen neuen Großen Anführer erkennen? Wo soll ich ihn suchen? Wie werde ich es wissen?«
Der Geier drehte seinen dürren Hals nach hinten und stieß einen kurzen, heiseren Schrei aus. Doch sie verstand ihn nicht. Die Gabe, ihn zu verstehen, war mit dem wundersamen Teich verschwunden. Aurora sah ihm bestürzt nach, als er hinter den großen Felsen verschwand, die den Kreis einfassten. Nun verließ auch Windreiter sie mit brausenden Flügeln und schraubte sich höher und höher, bis sie nur noch ein schwarzer Punkt am Himmel war.
Aurora, deren Beine unter der Last ihrer neuen Verantwortung zitterten, verließ schlurfend den Steinkreis. Sie hielt noch einmal inne und schaute staunend auf Bravelands, das sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte, genau wie in Windreiters Erinnerung.
Aurora wusste nun, was sie tun musste, sie konnte sich nur nicht vorstellen wie.
Irgendwo in diesem weiten Land ist der neue Große Anführer.
Und nur ich kann ihn finden.