Aurora hatte sich den Abstieg einfacher vorgestellt. Als sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend den sonnenverbrannten Pfad hinunterstapfte, knickten ihre Beine immer wieder ein und taten weh. Hinter sich hörte sie Fels’ vorsichtige Schritte und vor ihr schlitterte Silberhorn mit ihren kurzen Beinen über das Geröll. Über ihnen brannte die gleißende Sonne, die brütende Hitze war erbarmungslos.
Niemand sprach. Fels und Silberhorn konzentrierten sich auf den Weg und Aurora wälzte die Worte des alten Geiers in ihrem Kopf hin und her. Es fiel ihr schwer, sie zu akzeptieren. Wie sollte das möglich sein? Und wieso habe ich überhaupt seine Worte verstanden? Ihre Schritte wurden weder leichter, noch wurde der Geröllpfad unter ihren Füßen sicherer. Wieso sollte der Große Geist in mir wohnen?
»Also, was ist dort oben geschehen, Aurora?«, fragte Fels. »Du warst sehr lange weg.«
Aurora öffnete ihr Maul und machte es wieder zu. Sie war noch nicht bereit, es jemandem zu erzählen, erst musste sie es selbst richtig begreifen.
»Alles in Ordnung, Aurora?« Silberhorn warf ihr einen Blick über die Schulter zu.
»Es ist schwierig zu erklären«, sagte Aurora langsam, »und noch schwieriger zu verstehen. Oben auf dem Berggipfel war ein alter Geier. Und ein Teich.«
»Noch ein Geier«, schnaubte Silberhorn. »Tut mir leid, aber ich finde diese Vögel einfach gruselig. Aber um den Teich beneide ich dich.« Sie sah bedauernd am Berghang hoch, der durch die Hitze ganz rissig geworden war.
»Ich auch.« Fels blies eine Staubwolke auf. »War der Große Geist dort oben?«
»Nicht direkt. Aber … ich weiß jetzt, dass der Große Geist bei uns ist.« Als sie die Worte aussprach, ließ der Schmerz über Monds Tod plötzlich ein wenig nach. »Das jedenfalls ist gewiss.«
Als sie die tiefer gelegenen Abhänge erreicht hatte, blieb Aurora stehen und zupfte an ein paar spröden Grasbüscheln, die zwischen den Felsen wuchsen. Bei ihrem Aufstieg hatten sie die meisten Bäume bereits abgerupft, deshalb war sie froh, doch noch etwas zu essen zu finden.
Fels riss ein Büschel Gras mitsamt der Wurzel heraus. »Es ist hart und trocken«, sagte er und kniff beim Kauen seine grünen Augen zusammen, »aber es ist Nahrung.«
»Seht nur, dort unten sind ein paar Büsche mit schöneren Blättern«, sagte Silberhorn. Sie machte eine halbe Drehung und zeigte mit ihrem Horn in die Richtung. »Genau d–« Sie stockte und schnaubte erschrocken, als ihre Füße ins Rutschen kamen.
Aurora warf ihren Rüssel aus, aber als sie ihn um Silberhorns Schwanz wickelte, kam plötzlich alles ins Wanken. Sie fiel ebenfalls – aber es war ihr Kopf, der ins Trudeln und Taumeln geriet und direkt in Silberhorns Erinnerung landete.
Um sie herum herrschte blauschwarze Nacht und vor ihr stand Dickhaut. Sie sah nur seine Hüften und seinen steifen, zuckenden Schwanz, aber er sprach mit jemandem im Unterholz. Aurora reckte den Hals, um die Gestalt in den Büschen zu sehen, aber es gelang ihr nicht.
Doch sie hörte ihre Stimmen. Sie wusste, worüber sie sprachen. Sie musste versuchen, sie aufzuhalten. Er war Silberhorns Anführer, aber sie konnte versuchen –
Aurora rang nach Luft. Sie war nicht den Abhang hinuntergestürzt. Sie kniete auf dem steinigen Untergrund, der heiße Staub war in ihren Rüssel gedrungen. Neben ihr ragten dunkle, konturenlose Gestalten auf, Silhouetten vor der flimmernden Sonne. Sie blinzelte. Neben ihr kniete Fels, er hatte seinen Rüssel auf ihre Stirn gelegt. Neben ihm stand Silberhorn und sah sie erschrocken an.
»Aurora, was ist passiert?«, fragte Fels besorgt. Aurora zuckte zusammen und entzog sich seiner Berührung. Sie sah Silberhorn entsetzt an.
»Ich weiß, was du getan hast«, flüsterte sie. Ihre Stimme kam ihr rau und fremd vor.
Silberhorns Ohren flatterten. »W…was meinst du?«
Aurora kam wieder auf die Füße, ihre Vorderbeine schrammten über den rauen, steinigen Pfad. Ihr Herz brannte vor Wut.
»Du hast es gewusst!«, schrie sie. »Du hast gewusst, was passieren würde, und du hast es nicht verhindert!«
Silberhorn verkrampfte sich erschrocken.
»Was?« Fels sprang wieder auf die Füße. »Aurora, wovon sprichst du?«
»Ich habe es gesehen, als ich dich berührt habe!«, krächzte Aurora. »Silberhorn, du hast Dickhaut nicht aufgehalten. Du hast bei dem Mord mitgemacht! Wie konntest du nur?«
»Ich – ich –«, stammelte Silberhorn und blinzelte heftig. »Es tut mir leid, ich –«
Aurora gab Silberhorn einen Stoß, sodass sie vom Pfad abkam, dann rannte sie davon.
»Aurora!«, trompetete Fels hinter ihr, dann hörte sie, wie er Silberhorn barsch anwies, zurückzubleiben.
Hinter ihr polterten schwere Schritte, und sie hörte, wie das Geröll rutschte und prasselte. »Aurora! Aurora! Warte!«
Sie konnte weder anhalten, noch hatte sie genug Luft, um zu antworten. Ihr eigenes Gewicht trug sie den steilen Hang hinab und ihre Füße bewegten sich schneller und immer schneller.
»Aurora, sag mir, was passiert ist, damit ich dir helfen kann!«, röhrte Fels.
Aurora donnerte weiter hinab, es war ihr gleich, dass sie nicht anhalten konnte. Sie wollte nur noch vor dem davonlaufen, was sie in Silberhorns Erinnerung gesehen hatte.
Plötzlich klang die Erde unter ihren Vorderfüßen seltsam hohl. Bevor sie recht verstand, was passierte, hörte sie ein ohrenbetäubendes Krachen, das von den Felswänden des Tals widerhallte.
Schließlich stemmte Aurora ihre Füße in den Boden und spannte ihre Beine an. Mit einem Ruck kam sie zum Stehen, aber ihr ganzer Körper wankte vor und zurück. Schwer atmend starrte sie zum Berg hinauf. Die Risse im Boden wuchsen entlang des Berghangs, wurden immer breiter und krachten schließlich auseinander. Felsstücke lösten sich und stürzten nach unten, und dann geschah das Unmögliche: Der Berg erzitterte und ein großer Teil von ihm löste sich ab.
Aurora machte einen Schritt nach hinten und starrte nach oben. Als hätte eine unsichtbare, riesige Klaue den Berg gepackt und auseinandergerissen, löste sich ein Teil des Abhangs und begann, nach unten zu rutschen. Mächtige Felsbrocken donnerten auf sie zu, und ihr war klar, dass ein großer Teil des Berges in wenigen Augenblicken folgen würde. Geröll prasselte über ihre Füße, aber sie spürte es kaum, als ihre Beine getroffen wurden. Eine Wolke aus weißem Staub stieg auf und verwandelte die Sonne in einen milchweißen Fleck.
Starr vor Schreck konnte Aurora nur hilflos zuschauen, wie die Felsen in wilden Sprüngen immer näher kamen. Ihr Atem stockte und sie war unfähig, sich zu bewegen.
Etwas Großes rammte Aurora und der hinabstürzende Berghang kam wieder in ihren Blick. Zuerst dachte sie, der Bergrutsch hätte sie erfasst und sie sei bereits tot. Dann spürte sie den warmen Körper von Fels. Sie bekam kaum noch Luft. Ein Felsbrocken schoss krachend an ihr vorüber, so dicht, dass sie seinen Luftzug spürte. Überall quollen fahle Staubwolken auf.
»Weg!«, schrie Fels durch das Getöse.
Hustend und schnaubend rannten sie los. Fels schob sie vor sich her, drängte sie erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Wieder schoss ein Felsbrocken vorbei und furchte eine lange Narbe in die raue Bergflanke.
Ein dicker Stein traf Auroras Hüfte und brachte sie zum Stolpern. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, der lauter war als jedes Unwetter. Aurora und Fels kamen halb rennend, halb rutschend den Berg hinunter, so als würden sie von ihm getragen werden. Dann verschwand mit einem Mal der Boden unter ihren Füßen.
Ich falle! Vor ihr hatte sich eine Spalte geöffnet, sie purzelte hinein. Halt suchend, schlug sie mit ihrem Rüssel um sich, ihre Füße strampelten hilflos gegen die Seitenwände der Spalte.
Sie prallte mit ihrer Flanke auf eine abschüssige Felsnase und kam ins Rutschen. Dann schlug sie mit einem markerschütternden Knall auf dem Boden auf. Fels landete neben ihr, seine Beine ruderten ins Leere und seine graue Haut war vom Staub beinahe weiß.
Aurora war wie betäubt. Sie rang nach Luft und ihre Ohren dröhnten vom Brüllen des Berges. Immer noch fielen Steine herab, einer traf ihren Rüssel, der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, brachte sie aber wieder zur Besinnung. Sie rappelte sich auf. Sie befanden sich in einem steil abfallenden Felseinschnitt, doch ein Stück weiter oben sah sie eine vom Wetter ausgewaschene, flache Felsnische.
»Dort drüben!«, trompetete Aurora über das Tosen des Erdrutsches hinweg und gestikulierte mit ihrem verletzten Rüssel. Sie wusste nicht, ob Fels sie hörte – er antwortete mit einem Brüllen, das sie nicht verstand –, aber er musste auf denselben Gedanken gekommen sein, denn unter dem ständig herabprasselndem Geröll stapfte er mit ihr zu der Nische.
Zu zweit kauerten sie unter dem Felsüberhang und drückten sich an die Rückseite der kleinen Höhle, als neue Steinschauer auf sie niederprasselten und Staubwolken aufwirbelten. Aurora musste husten, ihre Augen brannten und tränten.
Endlich verstummte das dahinjagende Durcheinander der herabsausenden Steine und langsam senkten sich auch die Staubwolken. Es war immer noch unmöglich, irgendetwas genauer zu erkennen, aber wenigstens rutschte der Berg nicht weiter ab. Fels reckte seinen Hals und spähte zum Berghang hinauf.
»Warum ist der Berg auseinandergebrochen?«, fragte er schwer atmend. »Glaubst du, dass der Große Geist böse auf Silberhorn ist?«
Aurora nieste, die Luft war immer noch staubig und ihr Maul und ihr Rüssel fühlten sich kratzig an. »Der Große Geist würde keinen Berg einstürzen lassen, um ein einzelnes Tier zu strafen«, sagte sie. »Ich glaube, das ist passiert, weil die Erde so ausgetrocknet ist.« Und mein verrückter Lauf den Berg hinunter wird auch dazu beigetragen haben.
»Nun, es wäre besser nicht passiert«, sagte Fels und stakste vorsichtig bis in die Mitte der Felsspalte. »Ich weiß nicht, wie wir hier wieder herauskommen sollen.«
Die Schlucht hatte sich in kürzester Zeit vollständig verändert. Die beiden Elefanten waren in eine enge, leere Furche gefallen, die jetzt mit Felsbrocken, Steinsplittern und abgebrochenen Bäumen übersät war. Aurora verließ der Mut. Der Abhang, den sie hinabgerutscht waren, war von einer gewaltigen Schutthalde versperrt.
»Vielleicht können wir ein paar von den Dingern zur Seite schieben.« Fels schlang seinen Rüssel um einen weiter unten liegenden Felsbrocken, stemmte seine Beine in den Boden und zog mit aller Kraft. Der Brocken bewegte sich unmerklich, aber der Steinhaufen darüber bewegte sich ebenfalls und ein paar kleinere Steine rutschten nach.
»Halt.« Aurora berührte mit ihrem Rüssel seine Schulter. »Die anderen Steine fallen uns auf den Kopf.«
Fels trat einen Schritt zurück. Gemeinsam betrachteten sie den Steinhaufen. Die Steine waren wild übereinandergefallen. Es gab große, schwere Steine, die auf kleinen, leichten balancierten. Der größte Felsbrocken lag fast ganz oben und schwankte gefährlich. Es sah aus, als könnte ihn der leiseste Windhauch zum Absturz bringen. Hoch oben sah Aurora die abgerutschte Bergflanke, ein klaffendes Loch, das wie der Stumpf eines abgebrochenen Stoßzahns aussah.
»Wir müssen versuchen, hinaufzuklettern«, sagte Fels und setzte versuchsweise einen Fuß auf einen der Steine. Aber unter seinem Gewicht kam der Stein ins Rutschen und die weiter oben liegenden Brocken wackelten gefährlich.
»Ich bin leichter als du«, sagte Aurora. »Lass mich mal probieren.«
Sie setzte einen Fuß auf den niedrigsten Felsbrocken, dann den nächsten. Er hielt, aber der darüberliegende Felsbrocken war besonders groß. Sie streckte ihren Vorderfuß aus, doch schon kamen die Steine wieder ins Rutschen, und es regnete Sand und Geröll.
»Komm sofort runter!«, rief Fels scharf.
Die Felsen oberhalb von Aurora knirschten unheimlich. Zitternd schwang sie mit einem Bein nach hinten. Ihr Fußballen schwebte über dem Boden, dann stemmte sie sich mit dem anderen Bein ab und sprang wieder zurück. Fels zog sie weg, beide keuchten vor Angst.
»Wartet«, rief eine vertraute Stimme, die aber irgendwie gedämpft und verzerrt klang.
Aurora stellte ihre Ohren auf. Hinter dem Schuttberg hörte sie ein angestrengtes Grunzen, dann bebten und bewegten sich die Steine und ein dünner Staubstrahl rieselte herab.
Der oberste Felsbrocken wurde kraftvoll zur Seite geschoben. Er wankte, dann fiel er und blieb in einer Schieflage an der Felswand liegen. In der so entstandenen Lücke tauchte ein gehörnter Kopf auf. Der nächste Stein rollte herab, dann noch einer und schließlich war Silberhorn ganz zu sehen. Sie spähte von der Spitze des Steinhaufens herunter, sie war völlig verdreckt und ihre Hautfalten waren über und über von Staub und Sand bedeckt.
»Geht es euch gut?« Silberhorns Stimme klang ängstlich und sehr besorgt. Kaum vorzustellen, dass dieses Nashorn nichts getan hatte, um Dickhauts Plan zu verhindern.
Silberhorn senkte ihren Kopf und machte sich wieder an die Arbeit, sie schob Felsbrocken zur Seite und schaffte sich nach und nach einen Weg nach unten. Als sie die wackeligen Steine an der Spitze weggeschoben hatte, konnten Fels und Aurora ihr helfen und auch die unteren Steine wegrollen.
Endlich war der Weg so breit und eben, dass sie hinaufklettern konnten. Als Aurora sich keuchend über den Rand zog, kratzte sie sich an den Steinen den Bauch auf, stand aber wieder auf sicherem Boden.
»Dem Großen Geist sei Dank«, rief sie atemlos. Fels kletterte als Nächster hinauf, auch er atmete schwer. Über seine Flanke verlief eine getrocknete Blutspur, aber ihr war klar, dass sie von Glück reden konnten, überhaupt noch am Leben zu sein. Silberhorn ließ ihren Kopf hängen und guckte verstohlen wie ein erschrecktes Kälbchen zu Aurora.
Aurora schluckte. »Du hast uns gerettet.«
»Natürlich«, sagte Silberhorn flehend, »ich verstehe, dass du böse auf mich bist. Aber bitte, lass es mich erklären.«
Aurora nickte steif. »Also gut. Aber das heißt nicht, dass ich dir verziehen habe.«
»Lasst uns erst Gras und Wasser suchen«, sagte Fels zu Aurora. »Meine Kehle fühlt sich an wie ein Buschbrand. Und du musst auch wieder zu Kräften kommen.«
»Beim Aufstieg sind wir an einem Bach vorbeigekommen«, grummelte Silberhorn. »Ich glaube, er müsste ganz in der Nähe sein.«
Aurora hob ihren staubigen Rüssel hoch und schnüffelte. Durch die Hitze und den Staub und die stechenden Ausdünstungen ihrer Kameraden nahm sie den süßen Duft von Wasser wahr. Sie drehte sich voller Verlangen um und machte sich eilig auf den Weg, Fels und Silberhorn folgten ihr.
Der Bach war nicht tief, aber das Wasser war frisch und klar. Die Elefanten tauchten ihre Rüssel ein und schnaubten erleichtert. Silberhorn stürzte sich mitten hinein und wälzte sich wohlig im Schlamm. Aurora kam es vor, als schmeckte das Wasser fast so süß wie das Wasser im Teich auf dem Berggipfel. Nun wälzten sich auch die beiden Elefanten im kühlen Nass und wirbelten so viel Schlamm auf, dass ihre Haut ganz davon bedeckt war. Dann rappelten sie sich auf und rissen gierig an den Zweigen der Dornenbäume, die das Ufer säumten.
Silberhorn schien keinen Appetit zu haben. Lustlos spielte sie mit ein paar Grashalmen, sah aber müde und angespannt aus. Als Aurora und Fels von den Bäumen genug hatten, räusperte sich das Nashorn und zuckte nervös mit dem kurzen Schwanz.
Aurora versuchte sich zu wappnen. »Du wolltest uns erzählen, was passiert ist«, erinnerte sie das Nashorn.
Silberhorn holte tief Luft. »Ich war gegen Dickhauts Plan«, jammerte sie. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er sagte, wir müssten alle mithelfen – wir müssten uns an Großer Mutter für die vielen Jahre der Demütigung rächen, die wir Nashörner erlitten hatten. Das waren seine Worte«, fügte sie eilig hinzu. »Ich habe mich nie gedemütigt gefühlt. Und ein paar andere aus unserer Herde sagten, sie würden das auch nicht so empfinden.«
Aurora wurde schwer ums Herz, wenn sie daran dachte, was gewesen wäre, wenn diese Nashörner an ihrer Ablehnung festgehalten hätten. »Also, was ist passiert?«
»Dickhaut … er sagte, es sei seine Bestimmung und jeder, der sich ihm widersetze, sei sein Feind und der Feind aller Nashörner. Er drohte, uns zu vertreiben – oder uns vorher zu töten.« Silberhorns Stimme sank zu einem Flüstern. »Deshalb bin ich abgehauen. Ein paar von den anderen stimmten seinem Plan zu, aber ich schlich mich nachts davon. Ich wollte niemanden ermorden.«
Aurora schluckte. »Du hast Große Mutter nicht gewarnt.«
»Das war falsch, ich weiß«, jammerte Silberhorn. »Ich hätte es tun müssen. Aber ich wollte weder meine Herde verraten noch Große Mutter töten.«
»Diese Sache mit der Demütigung ist Unsinn«, sagte Fels finster. »Die Nashörner waren eben nie die Großen Anführer. Genauso wenig wie irgendein anderes Tier. Warum wollte Dickhaut sich unbedingt rächen?«
»Weil ihm vor langer Zeit etwas zugestoßen war.« Silberhorn ließ ihren Kopf hängen. »Dickhaut und seine Gefährtin hatten ein Kalb, eine kleine Nashornkuh. Sie hieß Augenstern. Alle liebten Augenstern, sie war so lustig und so süß. Dickhaut liebte sie mehr als alles andere auf der Welt.« Sie schluckte. »Aber sie wurde krank. Richtig krank. Und obwohl Dickhaut so stolz war und die Elefanten nicht mochte, ging er zu Große Mutter und flehte sie um Hilfe an.«
»Bestimmt half sie ihm«, sagte Aurora beklommen.
Silberhorn schüttelte ihren schweren Kopf. »Sie sagte, sie könne ihm nicht helfen. Wenn der Große Geist entschieden habe, dass Augensterns Leben zu Ende sei, dann würde es enden. Augenstern wurde immer schwächer und schließlich starb sie.« Silberhorn starrte auf ihre Füße und scharrte im Staub. »Deshalb hat Dickhaut Große Mutter so gehasst.«
Aurora dachte an Monds kleinen, leblosen Körper und vor Kummer wurde ihr ganz eng ums Herz. Sie hätte alles darum gegeben, ihn zu retten. Was hätte sie empfunden, wenn sie um Hilfe gebeten und abgewiesen worden wäre?
»Bestimmt hätte Große Mutter Augenstern gerettet, wenn sie gekonnt hätte«, sagte sie verzweifelt.
Das Nashorn nickte. »Ich weiß«, sagte sie. »Das glaube ich auch. Und ich glaube, dass Dickhaut das in seinem Innersten ebenfalls wusste. Ich glaube nicht, dass er von allein auf den Gedanken gekommen wäre, sie umzubringen.«
»Das glaube ich doch«, sagte Fels heftig. »Weißt du es noch nicht? Dickhaut ist jetzt der Große Vater.«
Aurora und Silberhorn sahen ihn schockiert an.
»Das stimmt«, sagte Fels. »Es ging ihm nicht um Rache oder um sein verlorenes Kalb. Ich glaube, er hat Große Mutter umgebracht, weil er ihren Platz einnehmen wollte.«
Aurora war fassungslos vor Empörung. »Große Mutter ist von ihrem eigenen Mörder ersetzt worden?«
»Genau so ist es.« Fels schüttelte angewidert seinen Kopf. »Ich frage mich, warum der Große Geist ihn erwählt hat?«
Aurora sagte verbittert: »Das hat er nicht.«
Fels blinzelte verdutzt. »Und woher weißt du das?«
Weil ich den Großen Geist in mir trage, dachte Aurora. Aber wie soll ich das erklären? »Ein echter Großer Anführer hätte niemals das Gesetz gebrochen.«
Silberhorn scharrte mit den Hufen. »Aber der alte Dickhaut – der Dickhaut, den ich immer gekannt habe – hätte niemals Große Mutter getötet. Er war immer schlechter Laune, aber er hatte ein gutes Herz. Er hat sich in den vergangenen Monden verändert. Da war noch ein anderes Tier, mit dem er das alles ausgeheckt hat. Ich bin sicher, dass dieses ihn zu dem Mord überredet hat.«
Aurora dachte an die Vision, die sie vor einiger Zeit im Land der Ahnen gehabt hatte – das Nashorn, das auf einem windgeschüttelten Akazienbaum balancierte und sein Horn der Sonne zugewandt hatte, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, dass die Äste brechen und ihn zu Boden werfen würden.
War Dickhaut dieses Nashorn? Ganz bestimmt. Und das andere Tier hatte vielleicht von Augenstern gehört und sich seinen Schmerz zunutze gemacht und ihn so lange bearbeitet, bis Dickhaut davon überzeugt war, das Große Mutter sterben musste.
Und dieses Wesen ist der Baum, dachte Aurora bestürzt.
Sie haben Dickhaut benutzt – und werden ihn bald in sein Verderben stürzen.