Die aufgehende Sonne trödelte noch hinter dem Horizont, war nur ein verschwommener Streifen aus Rosa und Gold am purpurnen Himmelsrand, doch schon jetzt war die Hitze unerträglich. Heldenmuts Haut juckte vom Schweiß. Was ist aus den kalten Nächten und den kühlen, erfrischenden Morgen geworden?, fragte er sich wehmütig. Haben die älteren Löwen jemals so ein Wetter erlebt?
Mutter hätte es mir sagen können. Aber dafür ist es jetzt zu spät.
Warmer Gazellenduft zog in seine Nase, bevor er die Herde zu Gesicht bekam, die ein gutes Stück entfernt in der Nähe des Waldrands graste. Dann und wann stieß er Wagemut mit der Schulter an, aber die beiden Löwen sagten nichts. Es gab nichts mehr zu sagen.
Sie hatten die ganze Nacht zusammengerollt neben ihrer toten Mutter verbracht. Heldenmut hatte schlecht geschlafen, lange Zeit wach gelegen und zum bleichen Halbmond hinaufgesehen. War er doch einmal eingeschlafen war, weckten ihn Albträume. Titan stand über ihm, das Maul zum tödlichen Biss geöffnet. Er rutschte von einem hohen Baum im Langbaumlager und fiel endlos in die Tiefe, wo der Tod ihn erwartete. Er hatte Eifer zwischen seinen Pranken und der junge Löwe blickte ihm entsetzt und todtraurig in die Augen …
Er merkte Wagemut an, dass es ihr nicht viel besser ergangen war. Beim ersten Morgenlicht war Flinks Körper kalt und steif gewesen. Heldenmut hatte ein letztes Mal ihr Gesicht liebkost und ihren Duft eingeatmet, den er kannte wie seinen eigenen. Er würde ihn niemals mehr riechen.
Und ein Versprechen war ein Versprechen, vor allem, wenn es einem Sterbenden gegeben worden war: Wagemut und er mussten wohl oder übel zum Titanrudel zurückkehren. Heldenmut hatte geglaubt, ein neues und besseres Zuhause gefunden zu haben, aber das war über Nacht für immer verloren gegangen. Loyal Eidbrecher.
Was hatte Loyal getan? Und warum hatte er es vor Heldenmut geheim gehalten? Weil einen Eid zu brechen das Schlimmste ist, das ein Löwe tun kann, sagte eine leise Stimme in seinem Kopf.
Heldenmut räusperte sich, seine Kehle war wie ausgetrocknet. »Was hat Mutter wohl gemeint, als sie über Loyal sprach?«
Wagemut wirkte benommen, als wäre sie in Gedanken weit fort von Bravelands. »Was?«
»Was denkst du, was Loyal getan hat, dass Mutter ihn so gehasst hat?«
Wagemut seufzte. Sie sah erschöpft aus, ihre Schnurrhaare hingen nach unten. »Ich weiß es nicht. Und ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Wenn Mutter meinte, wir sollen uns von ihm fernhalten, ist das für mich Grund genug. Vergiss ihn einfach, Heldenmut.«
Sie überquerten einen Hügel und kamen in Sichtweite des Titanrudels. Heldenmut kam es vor, als würde sich etwas Schweres an seine Beine klammern, als wollten sich seine Krallen in die Erde graben und ihn wegziehen. Titan und die jungen Löwen waren nicht da. Bestimmt führten sie wieder etwas Schreckliches im Schilde, aber wenigstens musste er Titan nicht sofort gegenübertreten.
Die Löwinnen waren wach. Sie putzten und streckten sich, um sich für die morgendliche Jagd vorzubereiten. Wendig und Schlitzohr verschlangen die Reste eines Kudus, Leichtsinn lag mit halb geschlossenen Augen gähnend in ihrer Nähe. Gloria stand auf ihren Hinterbeinen und schärfte ihre Krallen am Stamm einer Akazie. Kaltschnauze trottete hinter Royal her und schlug auf ihren Schwanz, den sie zu seinem großen Vergnügen immer wieder wegschnippte. Arglist stand auf dem höchsten Punkt der Erhebung und sah ihnen mit zusammengekniffenen Augen entgegen.
Wagemut ging direkt zu Gloria, sank neben ihrer Freundin ins Gras und schloss ihre Augen. Gloria zog ihre Krallen ein und sprang auf alle viere. »Was ist los, Wagemut?«
Heldenmut legte sich neben seine Schwester und seine Schnauze auf die Pfoten. »Sie ist müde«, sagte er. »Unsere Mutter …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
»Oh, Heldenmut. Es tut mir so leid.« Gloria leckte zärtlich Wagemuts Kopf.
Arglist kam herbei, ihr Schwanz zuckte verärgert. »Was heckt ihr drei aus? Geht jagen!« Sie sah Heldenmut und Wagemut an. »Ich habe genau gesehen, dass ihr euch gestern davongemacht habt. Wenn ich das Titan erzähle, wird er schnell herausbekommen, was ihr wieder ausheckt. Wo ist eure elende Mutter?«
Gloria und Heldenmut erhoben sich, aber Wagemut blieb, wo sie war, und hielt ihre Augen fest geschlossen. »Was ist los mit ihr?«, fragte Arglist ungeduldig und hob eine Pranke, um ihr einen Klaps zu geben.
»Sie geht heute nicht auf die Jagd«, brauste Heldenmut auf. »Unsere Mutter ist tot und Wagemut muss sich ausruhen. Lass sie in Ruhe!«
Wagemut öffnete beunruhigt die Augen, aber Arglist zuckte nur wegwerfend mit den Ohren. »Dann sind wir Flink also endlich los?«, sagte sie gedehnt. »Wenigstens muss das Rudel diese Last nicht länger ertragen.«
Heldenmuts Nackenhaare sträubten sich, er spreizte seine Krallen. »Eine Last?«, fauchte er. »Du hast sie geblendet! Kannst du sie nicht endlich in Ruhe lassen? Du warst eifersüchtig auf Flink, weil du nicht halb so gut jagen kannst, wie sie es konnte. Und du nicht halb so gut für Kaltschnauze sorgen kannst, wie sie es für uns konnte!«
Gloria und die anderen Löwinnen sahen ihn fassungslos an. Wagemut hatte sich aufgesetzt, ihr Schwanz zuckte unruhig. »Heldenmut, sei still«, knurrte sie.
Arglist spannte ihre Muskeln an und wölbte ihre Schultern. »Nimm dich in Acht, Heldenmut«, zischte sie. »Dein Leben hängt am Wort meines Sohnes.«
Wagemut duckte sich unterwürfig. »Er meint es nicht so, Arglist. Er ist aufgewühlt.« Sie sah Heldenmut warnend ab. »Ich kann heute nicht jagen. Aber Heldenmut – du jagst doch für mich mit? Arglist, er bringt heute die doppelte Beute mit. Um meine Schwäche auszugleichen.«
Heldenmuts Blut kochte beinahe vor Verlangen, Arglist an die Kehle zu springen oder ihr mit den Krallen die Augen auszukratzen. Egal, was geschähe, es wäre die größte Befriedigung, ihr dieses höhnische Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen.
Aber Wagemut sah ihn flehend an.
»Natürlich«, murmelte er und zog seine Krallen ein. »Ich gehe jetzt jagen.«
»Das rate ich dir auch«, sagte Arglist höhnisch. »Und Titan wird es auch erfahren, Gallantbalg. Glaube nicht, dass wir dir irgendetwas durchgehen lassen.«
Als die rundliche Löwin davonstolzierte, knurrte Wagemut ungehalten. »Dummer Junge. Kannst du ausnahmsweise mal versuchen, sie nicht zu provozieren?« Sie legte wieder ihren Kopf auf die Pfoten. »Es würde mich umbringen, wenn ich dich auch noch verlieren würde.«
»Es tut mir leid.« Heldenmut leckte über ihren Kopf.
Es tat ihm wirklich leid, aber nur, weil er Wagemut keine Probleme machen wollte. Sein Blut kochte vor Wut, er konnte unmöglich hierbleiben. Mit einem Schlag seines Schwanzes schlenderte er aus dem Lager. Die Blicke der anderen Löwinnen brannten in seinem Rücken.
Von Arglist nehme ich keine Befehle entgegen.
Und ich muss unbedingt mit Loyal sprechen.
*
Seine Wut lenkte ihn von der kochenden Hitze ab, die mit der aufsteigenden Sonne immer schlimmer wurde. Im flirrenden Dunst kam schließlich der kleine Felsenhügel in Sicht. Loyal kauerte dicht an den Felsen über einer toten Gazelle.
»Heldenmut!«, rief der große Löwe erfreut. Er ließ von dem Tier ab und trottete herbei. Doch als er Heldenmuts Blick auffing, hielt er mitten im Gang inne. Dann senkte er sein großes, von goldenen Strähnen durchzogenes Haupt.
»Ist sie gestorben?« Er schloss seine Augen und stupste sacht gegen Heldenmuts Nase. »Es tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr du deine Mutter geliebt hast.«
Heldenmut zuckte zusammen und riss seinen Kopf zurück. »Fass mich nicht an!«
»Wie? Ich wollte nicht …«
»Ich habe Mutter von dir erzählt.«
Loyal erstarrte und über sein narbiges Gesicht huschte ein argwöhnischer Blick. »Und was hat sie gesagt?«
»Dass du ein Eidbrecher bist. Eines der letzten Dinge, die sie sagte, war, dass ich mich von dir fernhalten soll.«
Loyal schwieg. Er drehte sich um und sah zum südlichen Horizont, sodass Heldenmut sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Du hast gewusst, dass sie das sagen würde«, sagte Heldenmut. »Deshalb sollte ich ihr nichts von dir erzählen.«
Loyal schaute ihn nicht an. »Heldenmut, das verstehst du nicht«, murmelte er.
»Ich muss wissen, was du getan hast«, bohrte Heldenmut weiter. »Was für einen Eid hast du gebrochen?«
Loyals krummer Schwanz zuckte. »Du bist noch nicht so weit, das zu erfahren«, knurrte er wütend. »Noch nicht.«
»Du wolltest, dass wir bei dir wohnen. Aber wie soll das gehen, wenn wir dir nicht vertrauen können?«
Endlich drehte Loyal sich wieder um und kam näher. »Hör mir zu«, sagte er angespannt. »Du musst etwas essen. Du bist erschöpft. Iss und ruh dich aus, dann geht es dir wieder besser.«
Heldenmuts Fell kribbelte. »Hör auf, mir zu sagen, was ich tun soll«, fauchte er. »Von einem Eidbrecher nehme ich keine Befehle entgegen!«
Loyals Mähne sträubte sich und seine Augen wurden zu Schlitzen. Heldenmut trat einen Schritt zurück, denn ihm wurde plötzlich gewahr, wie riesengroß der Löwe war. Seine Schultern waren breit wie die Schultern von Titan und jede Pranke war so groß wie alle vier Pfoten von Heldenmut zusammen. Die zackige Narbe unter seinem linken Auge ließ ihn wie das wilde, unberechenbare Böse aussehen.
»Deine Mutter hatte recht«, knurrte Loyal. »Ja! Ich bin ein Eidbrecher. Ich habe entgegen meinem Wort gehandelt und viel Schmerz verursacht. Aber ich werde es niemals bereuen, nicht, solange ich lebe. Ganz gleich, was die anderen Löwen – auch du – von mir halten.«
Heldenmut ließ nicht locker. »Du warst es doch, der mit sagte, dass ein Eid etwas Heiliges ist!«
Ein leises Ächzen löste sich aus Loyals Kehle. »Eines Tages werde ich dir erzählen, was geschehen ist, und dann wirst du mich verstehen. Aber nicht jetzt.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Gazelle. »Und nun genug davon. Geh und iss.«
Heldenmut sah ihn schwer atmend an. »Ich möchte nicht mit einem Eidbrecher zusammen fressen.«
Loyal blinzelte bekümmert. »Heldenmut –«
Aber Heldenmut war schon aufgesprungen, rannte davon und ließ Loyal allein beim Felsenhügel zurück. Er rannte, bis ihm die Lungen in der Gluthitze schmerzten, bis er den stechenden Schmerz in seinem Herzen nicht mehr spürte.
*
»Ich kann so nicht weitermachen«, sagte er zu Stachel.
Heldenmut hatte das Kronblatt auf einem ockerbraunen Felsvorsprung gefunden, von dem aus er über das Grasland blickte. Er befand sich unweit des Abhangs, wo die Hyänen gelebt hatten, bis Titan sie vernichtet hatte. Schon beim Anblick seines alten Freundes und Lehrers hatte sich die Beklemmung in seiner Kehle gelöst. Seine Geschichte war wie ein Wasserfall aus ihm herausgesprudelt. Stachel hatte ihn immer am besten verstanden.
Nachdenklich strich sich der Pavian über die Narbe an seiner Schnauze, während Heldenmut aufgewühlt hin und her schritt. »Erinnerst du dich daran, was ich dir über Titan gesagt habe?«, fragte er.
Heldenmut nickte. »Dass ich ihn wie einen Skorpion schlagen kann, wenn die Zeit gekommen ist. Dass ich ihn beobachten und abwarten soll. Aber ich glaube, ich halte das nicht länger aus!« Er fuhr mit seinen Krallen über die rissige Erde, sodass Staub aufwirbelte. »Mein Vater sagte, ich wäre eines Tages so stark, dass ich jeden in Bravelands besiegen könnte. Aber ich werde erst in einem Jahr ganz ausgewachsen sein. Jetzt habe ich noch nicht einmal eine Mähne. Wird Titan mich überhaupt noch ein Jahr lang leben lassen? Und wenn, wie wird die Welt in einem Jahr aussehen?«
Stachel streichelte die Nase des Löwen. »Armer Heldenmut«, sagte er sanft. »Der Lichtwald-Trupp und ich werden immer für dich da sein. Auch wenn du kein Pavian bist, du bist einer von uns.«
Heldenmut presste sein Maul in Stachels Pfote. »Ich möchte etwas gegen Titan unternehmen, jetzt sofort«, knurrte er. »Aber ich weiß nicht, was.«
Stachel setzte sich abrupt auf die Hinterbeine. Seine bernsteinfarbenen Augen glänzten. »Da ist etwas, dass du bereits tun kannst!«, sagte er. »Du kannst dich auf den richtigen Zeitpunkt vorbereiten. Du musst stark und mächtig sein.«
»Ich weiß«, platzte Heldenmut heraus, aber Stachel brachte ihn mit erhobenem Finger zum Schweigen.
»Macht ist nicht nur eine Frage von Muskeln und Krallen«, sagte er. »Macht hängt auch von Verbündeten ab. Titan weiß das. Deshalb hat er diese jungen Löwen in sein Rudel aufgenommen. Was du brauchst, Heldenmut, ist ein eigenes Rudel.«
»Das ist leicht gesagt«, grollte Heldenmut. »Titan hat mir mein Rudel weggenommen.«
»Er hat das Rudel deines Vaters weggenommen«, korrigierte ihn Stachel. »Was ist mit den Löwen, die vom Furchtlosrudel geflohen sind? Könntest du sie nicht fragen, sich dir anzuschließen?« Er lächelte, seine gelben Fangzähne blitzten. »Heldenmutrudel klingt doch gut?«
Heldenmut blinzelte überrascht. »Noch nie ist ein Rudel von einem Junglöwen angeführt worden.«
Stachel zuckte die Achseln. »Mag sein. Aber ist ein Junges jemals in einem Adlernest gefunden und von Pavianen aufgezogen worden? Nichts ist unmöglich, Sternenjunges.«
Heldenmut wurde leicht ums Herz, als hätte sich Stachel einen großen Teil der Last, die er allein getragen hatte, selbst aufgebürdet. Stachel hat immer eine Lösung!
Und Heldenmutrudel klang wirklich gut …
»So werde ich es machen«, platzte er heraus und straffte seine Schultern. »Immerhin habe ich Eifer Furchtlosrudel gerettet. Ich werde ihn suchen und fragen, ob er sich mir anschließen will!«
Stachel schmunzelte. »Gut«, sagte er fröhlich. Er pflückte einen Käfer aus einer Felskerbe und steckte sich ihn in die Schnauze. »Aber nun, mein Sternenjunges, muss ich dich um Hilfe bitten.«
»Jederzeit«, antwortete Heldenmut eifrig.
Stachels Miene wurde ernst. Er stützte sich mit einer Pfote auf Heldenmuts Nacken ab, als hätte ihn plötzlich eine große Müdigkeit ergriffen. »Noch brauche ich deine Hilfe nicht«, murmelte er. »Aber bald könnte es nötig sein.«
»Du musst mich nur fragen«, sagte Heldenmut nachdrücklich.
»Es wird schwierig sein«, seufzte Stachel. »Und vielleicht auch schmerzhaft. Ich werde viel von dir fordern müssen, mein Sternenjunges. Kann ich dir absolut vertrauen?«
Heldenmut presste seinen Kopf an den Kopf seines Lehrers und wünschte, er könnte ihm die Trauer und Erschöpfung aus dem Gesicht reiben. »Du bist immer für mich da gewesen, Stachel. Du hast für mich mehr getan, als man sich vorstellen kann.«
Stachels betrübte Miene hellte sich auf. Heldenmut leckte sein Gesicht und war überglücklich, dass er seinen alten Freund hatte aufheitern können.
»Ich werde alles tun, um dir zu helfen, Stachel Kronblatt. Alles, was du willst.«