KAPITEL 4

Kiana

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Eine Woche kam Aiven nun schon mit mir auf unsere Touren. Ich wollte es nicht zugeben, aber es machte Spaß, mit ihm zusammen um die Wette zu reiten und mir Wortgefechte mit ihm zu liefern.

Aiven war nicht nur ein arroganter, gut aussehender Mistkerl, sondern auch humorvoll, hatte Wortwitz und konnte über sich selbst lachen. Für einen Polopony-Reiter saß er bemerkenswert gut im Sattel und jammerte auch nach einer Woche noch nicht über Muskelkater.

Okay, ich hatte es auch nicht anders erwartet, denn er schien wirklich durchtrainiert zu sein. Zumindest wenn ich von seinem Sixpack auf den Rest seines Körpers schließen konnte.

"Hier oben können wir ein bisschen über die Mauern springen, wenn du willst", sagte ich, weil ich keine Lust hatte, weiter über meine wirren Gedanken zu grübeln.

"Willst du mich loswerden?", fragte er mit hochgezogener Augenbraue, als ich auf die kleinen weißen Steinmauern deutete, die dort die verschiedenen Felder von damals unterteilten. 

"Stell dich nicht so an", sagte ich und verdrehte die Augen. Ich drückte meine Beine in Lenas Bauch und sie wechselte beinahe augenblicklich in den Galopp. In einem kleinen Rechtsbogen steuerte ich auf die erste kleine Mauer zu und drückte die Schenkel zusammen, damit Lena die Mauer nahm.

Problemlos sprang sie darüber, und ich wendete in einem großen Bogen, um den Sprung zurück zu machen.

"Siehst du, ein Kinderspiel", sagte ich. "Reite mir einfach nach!"

"Ich schaff das schon allein", brummte er und trieb seine Stute ebenfalls in den Galopp. So richtig willig war sie nicht.

Aber ich wollte ihn und seine Ponypolo-Club-Fähigkeiten nicht infrage stellen, also blieb ich, wo ich war.

Zumindest so lange, bis sein Pferd vor der Mauer einen Haken schlug und er zu Boden krachte. Er flog geradeaus weiter, während das Pferd zurück zu mir kam.

Für einen Moment saß ich einfach nur da und bewunderte dieses Wunder der Physik, von dem ich im Schulunterricht so oft gehört hatte, von dem ich aber niemals gedacht hätte, es in meinem Erwachsenenleben mal wiederzusehen. Dynamik der geradlinigen Bewegungen.

Dann stöhnte Aiven schmerzerfüllt auf und ich wurde zurück in die Realität gerissen.

"Aiven!", rief ich und trieb Lena an, um schnellstmöglich bei ihm zu sein.

Ich sprang noch vom laufenden Pferd ab und landete neben ihm, wo ich sofort auf die Knie ging.

"Alles okay?"

Er stöhnte wieder und rollte ein Stück zur Seite und zurück.

"Vielleicht solltest du ruhig liegen bleiben und ich hole einen Arzt?"

"Ich glaube nicht", murmelte er so leise, dass ich mein Ohr dichter bringen musste, um ihn zu verstehen. Doch anders als erwartet griff er einfach in meinen Nacken und zog mich noch näher.

Und dann küsste er mich. Ohne Zögern. Ohne Vorwarnung. Er presste einfach seine Lippen auf meine, küsste mich mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erstarren ließ.

Und um ganz ehrlich zu sein … Aiven küsste verdammt gut. Seine Lippen fühlten sich unglaublich weich auf meinen an und standen im starken Kontrast zu dem leichten Kratzen seines Bartes.

Es fühlte sich so gut an, dass ich den Kuss erwiderte und schließlich sogar meine Lippen einen Spaltbreit öffnete.

Und dann war da er, sein Geschmack nach Minze, Kaffee und der Limonade, die er vorhin erst getrunken hatte. Ein Kribbeln fuhr durch meinen Körper.

Doch etwas in mir zwang mich dazu, nachzudenken, und da erst fiel mir wieder ein, dass Aiven gerade gestürzt war.

Widerwillig löste ich meine Lippen von seinen.

Seine Augen waren nur einen Spaltbreit geöffnet, genauso wie seine Lippen, als ich auf ihn hinabsah.

"Alles okay?"

Ein träges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das völlig unangebrachte Schmetterlinge in meinem Bauch aufscheuchte.

"Jetzt schon. Gute Mund-zu-Mund-Beatmung, Schwester Kiana."

Ich verdrehte die Augen. "Du hast mich zu diesem Kuss gezwungen!", beschwerte ich mich. "Und jetzt ernsthaft? Alles okay?", fragte ich erneut und machte mich vorsichtig von ihm frei.

Das Letzte, was ich brauchen konnte, war ein Unfall gleich am Anfang meiner Karriere.

"Es wird schon", sagte er. Aber ich sah, dass er das Gesicht verzog, als er sich zum Sitzen aufrichtete.

Doch gerade als ich darüber nachdachte, einen Arzt zu rufen, lächelte er schief.

"Hätte ich das gewusst, wäre ich schon früher vom Pferd gefallen."

"Hey!" Ich schlug ihm auf die Schulter, da er aber schmerzhaft das Gesicht verzog, verkniff ich mir weitere Beschwerden und half ihm lieber auf die Beine.

Er reckte sich unter meinen besorgten Blicken.

"Schau nicht so, Pferdemädchen, ich werde es überleben", sagte er dann und humpelte in Richtung der grasenden Pferde.