Ich sitze lesend auf einer Bank im Vennelyst-Park, da klingelt mein Telefon. Hallo Schatz, Mutter hier, kreischt sie. Ich lege das Buch aus der Hand. Sie ruft aus Amtoft an, ich soll sie in den Herbstferien besuchen kommen. Ich krieg dich ja sonst nie zu Gesicht, seufzt sie. Ich sage, da übertreibe sie aber. Sie sagt, den Frauen in unserer Familie liegt Übertreibung im Blut. Übertreibung ist nichts Genetisches, murmelt ihr Mann im Hintergrund. Sie sagt zu ihm, so was lässt sich unmöglich kontrollieren, weil den jungen Menschen heutzutage ihr genetisches Erbe vollkommen egal ist. Ich sage, das liegt daran, dass ich ein gesunder, gut funktionierender Mensch bin, der sich nach abgeschlossener Erziehung und einer hervorragenden Kindheit jetzt sein eigenes Leben aufgebaut hat. Seine Mutter braucht man immer, sagt meine Mutter. Natürlich, sage ich, füge aber hinzu, sie solle sich freuen, dass das seine Grenzen hat. Ich blicke zur Ostsee hinunter, wo ein junger Mann im Rollstuhl die Enten füttert. Stell dir vor, ich hätte eine Entwicklungsstörung oder das Down-Syndrom oder wäre vom Hals abwärts gelähmt, sage ich. Meine Mutter sagt, gelähmte Menschen können ein sehr erfülltes Leben haben, und Kinder mit Down-Syndrom sind so niedlich. Ich frage, ob ich mich jetzt auch noch dafür entschuldigen soll, dass ich kein Down-Syndrom habe. Sie sagt, das eigentliche Problem ist, dass ich niemals zu Besuch komme. Sag niemals nie, sage ich. Meine Mutter seufzt. Ich sage, sie soll sich glücklich schätzen, dass ich ein normal funktionierendes Individuum mit gesunden Interessen und einer natürlichen Befähigung zu tiefgehenden Beziehungen bin. Na ja, das mit den tiefgehenden Beziehungen funktioniert wohl nicht so gut, sagt meine Mutter. Ich sage, das liegt wahrscheinlich daran, dass meine Eltern sich haben scheiden lassen und ich in der Kindheit immer wieder Verrat und Verlust erlebt und daher Probleme damit habe, Verbindungen zu anderen Menschen zu knüpfen. Das möchte sie nicht glauben. Meine Mutter sagt, wenn sie irgendwann mal nur noch ein verblasstes Foto an der Wand ist, dann werde ich schon sehen, wie ich sie vermisse. Ganz ohne Zweifel, sage ich. Der Mann im Rollstuhl fährt langsam vom Wasser weg, vier Enten folgen ihm in einer kleinen Prozession. Ich sage zu meiner Mutter, wenn sie mir ein nicht allzu großes Foto gibt, finde ich sicher einen Platz an der Sonne dafür, wo es würdevoll verblassen kann.