Hinter der Netzhaut befindet sich ein Fotoalbum. Ich kann die Bilder nicht stoppen, sie halten niemals inne, sondern ziehen in einer endlosen Reihe weiter vorüber wie Dominosteine, die aber nicht umfallen, sondern sich im Gegenteil einer nach dem anderen aufrichten. Wie du im Garten hinter dem Haus sitzt, von Töpfen mit Kräutern und Pfennigbäumen umgeben, in der Sekunde, bevor du meinen Blick aus dem Fenster bemerkst. Ein Schnappschuss, wie deine Augen meinem Blick begegnen, ein kurzer Moment unter einer Straßenlaterne, und mich dazu bringen, mich als der Mensch zu fühlen, der ich gerne wäre. Abstrakte Gemälde von deinen speziellen Gedankengängen, Kinderzeichnungen von unseren Vorstellungen von der Zukunft. Ein Goldrahmen um das Bild von deinem Gesicht, während du deine Nichte betrachtest, und ich schaue dich an. Ein Foto mit den Kerngehäusen von Äpfeln, die du überall in der Wohnung herumstehen lässt wie Trophäen, du hast immer Äpfel gegessen, kleine rote Ananasäpfel, du hast immer nach Äpfeln geschmeckt und nach Äpfeln geduftet, manchmal kamst du mir selbst vor wie einer, du warst ein Apfel. Sechs Portionen Obst am Tag, du sprachst von Vitaminen, ich dachte an den Sündenfall. Eine Kohlezeichnung von meinem Gesicht, ich überlege, ob du mich so sahst oder ob du nur wünschtest, dass es mir ähnlich sehe. Halb fertige Skizzen von mit ganzem Herzen unternommenen Versuchen, Hunderte von Kodak-Momenten. Ein Foto von dir, wie du schläfst, dieser Frieden stimmt mich immer verwundert, es sieht aus, als würdest du dich etwas hingeben, an das niemand sonst zu glauben wagt. Dein Profil im Dunkeln, wie du im Fensterrahmen sitzt und in die Nacht hinausschaust, und deine weichen Wangen, du wirkst immer wie eine, die eben noch Blumen gepflückt hat, und ich bin überzeugt, du bist der normalste Mensch, dem ich jemals begegnet bin. Deine weit geöffneten Augen und mein Blick auf deinen Blick für Details und dein Sinn für Schönheit. Ein Klecksbild von den roten Flecken an deinem Hals, wenn du in Wut gerätst, ein Pastellgemälde in einer Kirche mit im Kirchenschiff widerhallender Musik aus tausend Orgelpfeifen. Das Foto deines nackten Körpers, der spät in der Nacht lang auf dem Küchenboden liegt, halb verdeckt von den Schatten einiger tanzender Küchengeräte, die von der Decke baumeln. Und deine zum Himmel gedrehten Augen, du bist eine wandelnde Abstraktion, du schwebst einen halben Meter über dem Boden und äußerst dich nur über Phänomene und Dinge, die sich nicht berühren lassen. Eine Bleistiftzeichnung, wie du im Lotussitz auf einem Flickenteppich sitzt und deine Hände mit nervtötender Seelenruhe der Sonne entgegenstreckst. Die Konturen deines Körpers hinter dem Vorhang einer Anprobekabine, die Art, wie du in dem Kleid herumwirbelst und dir selbst im Spiegel zulächelst, oder wie deine Tränen in einen Apfelkuchen tropfen, der nie fertig wurde. Ein Landschaftsgemälde von deiner Kindheit, eine naive Zeichnung mit Hunderten von Farben, das ist dein Blick auf die Welt. Ein Foto von dir, während du Musik machst, ein Sonnenstrahl lässt dein Saxophon so aufblitzen, dass es scheint, als hättest du die Arme voll Gold. Ein Drachenfestival, von einem Flachdach in Vogelperspektive gesehen, du stehst direkt unter dem von weißen Wolken bedeckten Himmel, er ist voller Leinen und von tanzenden Drachen erobert, sie fliegen auf, schweben hernieder. Ich suche das selbstvergessene Glitzern in deinen Augen, dein leichtes Rucken an der Leine, während du den Eroberungszug des Drachens im Himmelsraum verfolgst. Der langwierige Cartoon von unseren Auseinandersetzungen, wir sind eindimensionale Figuren, ich glaube, du bist Daisy Duck, die unablässig wegen irgendwas beleidigt ist. Deine Denkblasen sind leer, in unseren Sprechblasen gibt es nichts als Blitze und Gewitterwolken und Äxte. Und dann wieder du mit deinem irritierend rätselhaften Lächeln, das mich mit Zweifel erfüllt, so will ich dich porträtieren und das Bild mit einer Reißzwecke im Louvre aufhängen, dann kann die Mona Lisa mal Pause machen. Und da sitzt du am Feuer und isst einen Maiskolben, umgeben von bergeweise Fladenbrot, wie eine trotzige Göttin thronst du da und sprichst und rufst und dirigierst mit diesem Maiskolben den Lauf der Welt. Das Gemälde eines französischen Impressionisten, lauter kleine Punkte, die in deiner Iris beginnen, zu den Poren deiner Haut werden, zu Schönheitsflecken, zu den kleinen hellen Haaren auf deinem Bauch, zu mikroskopischen Blutpünktchen oder der Narbe von der Pockenimpfung. Wenn ich ganz nah an dich herankomme, bist du nur noch flimmernde Pünktchen in verschiedenen Farben, und erst, wenn ich so weit von dir entfernt bin, dass ich dich nicht mehr berühren kann, erinnerst du wieder an einen Menschen.