Mein Arzt räuspert sich und fragt, was mich zu ihm führt. Wenn ich lüge, dann nur selten, um peinlichen Situationen auszuweichen, vielmehr als eine Art narrative Verpflichtung. Ich rede ein bisschen hin und her über irgendwelche Bauchschmerzen, eine Art muskuläre Kontraktionen um den Nabel herum. Es tut richtig weh, sage ich. Ich schaue hoch und werde von seinem grünen Röntgenblick eingefangen. Er sieht mich todernst an und nickt etwas zu lange rhythmisch. Ich verspüre den plötzlichen Drang, ihm alle möglichen Geheimnisse anzuvertrauen. Ich sage, ich hätte meine Liebste einmal betrogen, aber da sei ich restlos besoffen gewesen und hätte danach wirklich ein schlechtes Gewissen gehabt, und außerdem hätte ich nie Verbrechen und Strafe gelesen, obwohl ich immer so tu als ob. Überhaupt läuft es zurzeit nicht so gut, sage ich. Er zieht die Augenbrauen hoch, lächelt kurz angebunden und nickt stumm. Ich erzähle dem Arzt, dass meine Liebste mich verlassen hat und ich Menschen wirklich nur sehr schwer loslassen kann. Mein außergewöhnlich gutes Gedächtnis behindert mich dabei, im Leben weiterzukommen, sage ich. Mein Arzt sagt, die bewusste Überführung von Erinnerungen aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis geschehe in einem Gehirnareal namens Hippocampus. Das sei das lateinische Wort für Seepferdchen, da dieses Areal dieselbe Form habe. Die Erinnerung ist ein kreativer Prozess, der auf der Fähigkeit zum Nachvollzug von Situationen beruht, sagt er, mit anderen Worten, was wirkt wie tatsächlich Erlebtes, ist in Wirklichkeit konstruiert. Wollen Sie sagen, ich lüge, frage ich. Verzerrungen und unbewusste Auslassungen sind ein natürlicher Teil des Erinnerungsprozesses, sagt er. Ich erzähle ihm, dass der vierzehnjährige Mozart aus dem Gedächtnis die gesamte Partitur des katholischen Miserere aufgeschrieben habe, nachdem er es in der Sixtinischen Kapelle vom Chor gehört hatte. Ich frage ihn, ob das Seepferdchen bei manchen Menschen größer ist als bei anderen, meines sei möglicherweise riesenhaft. Mein Arzt sagt, für die Speicherung von Erinnerungen seien zwei verschiedene Gehirnareale zuständig, je nachdem, ob das Erinnerte gefühlsmäßigen Inhalts sei oder nicht. Der Hippocampus werde für die Erinnerungen bewusster Emotionen verwendet, während die Amygdala, der Mandelkern, für implizite Erinnerungen zuständig sei. Ich sage, hier müssen mehrere Seepferdchen mit im Spiel gewesen sein. Vielleicht war nicht Mozarts Mandel überdimensioniert, sondern vielleicht waren die Augenzeugen und diejenigen, die die Begebenheit später überliefert haben, von der Musikalität des jugendlichen Komponisten vollkommen hingerissen und bemerkten nicht, dass er irgendwelche Mittelstimmen vertauscht, sich in der Instrumentierung geirrt oder an der Kadenz etwas verändert hatte. Ich sage, ich finde es beunruhigend, dass die gesamte Weltgeschichte auf einer Heerschar von Seepferdchen beruht, die durch die Zeiten reiten. Wie bei allem anderen, sagt mein Arzt, ist es eben, wie es ist. Seepferdchen haben irgendwie kein Darmsystem oder so, und darum schlucken sie unablässig alles ringsum, bis sie tot umfallen, sage ich. Die Seepferdweibchen sind besonders übel, als einzige Gruppe innerhalb der Strahlenfische überlassen sie den Männchen das Brutgeschäft. Nicht mal zur Fortpflanzung können sie sich aufschwingen. Niemals verlässt etwas wirklich ihren Körper, sage ich, und ganz genau so geht es mir auch. Er sagt, Hippocampus ist ja nur eine Bezeichnung. Trotzdem, es gibt drinnen im Gehirn ein Seepferdchen, das über sämtliche Erinnerungen herrscht, sage ich. Mein Arzt nickt, ja, so könne man das tatsächlich ausdrücken.