»NICHT FAIR« IST NOCH VIEL ZU HARMLOS

Die global agierenden, vertikal organisierten Konzerne sind den kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht nur am Ende der Wertschöpfungskette überlegen, sondern auch an ihrem Anfang, das heißt, nicht nur im Einzelhandel, wo die fertigen Produkte verkauft werden, sondern auch beim sogenannten Sourcing, also dort, wo die Produkte herkommen. Nur die multinationalen Konzerne haben die Produktionsmengen, das weltweite Netzwerk und die strategischen Spielräume, um immer im jeweils billigsten aller Billiglohnländer einkaufen und produzieren zu können. Für die Konzerne ist die Verlagerung der Fertigung in diese Billiglohnländer äußerst profitabel: Indem sie ihre Waren von unabhängigen Lieferanten im Ausland fertigen lassen, verringern sie ihr direktes Eigentum an Produktionsstätten und ihre gesetzliche Haftung für die Verletzung von Arbeitsstandards. Vor allem aber senken sie dadurch ihre Lohnkosten um bis zu 97 Prozent.13

Denn dank ihrer historisch beispiellosen Marktmacht können sie in den Produktionsländern nie da gewesene Mengenrabatte und Dumpinglöhne durchsetzen. In vielen dieser Länder hängt inzwischen die Wirtschaft ganzer Regionen von den riesigen Aufträgen weniger großer Unternehmen ab. Und die Menschen in diesen Ländern wissen sehr wohl, dass diese Global Player ihre gesamten Aufträge sofort abziehen werden, wenn ihnen irgendwo auf der Welt irgendein anderes Land noch niedrigere Löhne und noch geringere Arbeitsrechte bietet. Deshalb unterbieten sich die Produktionsländer in ruinöser Konkurrenz mit immer noch prekäreren Löhnen und immer noch unmenschlicheren Arbeitsbedingungen, um den weltweit niedrigsten Preis anbieten zu können. 1,35 Euro ist zum Beispiel ein gängiger Preis für ein fertiges T-Shirt.14 Solche Preise wären vielleicht sogar in Ordnung, wenn sie allein dadurch zustande kämen, dass die Lebenshaltungskosten in diesen Ländern extrem niedrig sind und damit auch die Löhne entsprechend niedrig sein können. Sie kommen aber tatsächlich erst dadurch zustande, dass Löhne gezahlt werden, die noch weit unterhalb dieser extrem niedrigen Lebenshaltungskosten liegen. In Ländern wie Bangladesch und Kambodscha legen die Regierungen selbst den gesetzlichen Mindestlohn bewusst unterhalb der offiziellen Armutsgrenze fest, um die Aufträge multinationaler Konzerne im Land zu halten.15

Auf ihrer Suche nach billigen Löhnen haben sich die multinationalen Konzerne nach und nach die gesamte Welt erschlossen. Und die Regierungen vor Ort haben alles getan, um den Konzernen in ihren Ländern durch minimale Löhne maximale Profite zu ermöglichen. Während sich durch dieses Geschäftsmodell für die Konzerne die Gesamtsituation in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert hat, hat sich für die Arbeiter*innen global betrachtet die Gesamtsituation dramatisch verschlechtert. Durch die Globalisierung ist ein globaler Arbeitsmarkt entstanden, auf dem der Konkurrenzkampf der Länder um die Großaufträge der Konzerne durch internationales Lohndumping ausgetragen wird. Das trifft die Arbeiter*innen doppelt, denn unter dem ständig wachsenden Kostendruck auf die Produktionen verschlechtern sich nicht nur ihre Löhne, sondern auch die Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen. So ist in den letzten Jahrzehnten weltweit eine arbeitsrechtliche Abwärtsspirale entstanden. Die Arbeiter*innen, die nach und nach all ihre Rechte verloren haben, werden zunehmend Opfer von Lohnraub und Unterzahlung (wenn Arbeiter*innen noch nicht einmal den ihnen zugesicherten Dumpinglohn erhalten) und sind den systematischen körperlichen Misshandlungen und sexuellen Übergriffen durch ihre Arbeitgeber schutzlos ausgeliefert.16

Wenn man in diesem Zusammenhang nicht nur von »unfairem Handel«, sondern von »moderner Sklaverei« spricht, klingt das zunächst etwas übertrieben. Es ist aber angemessen. Erstens deshalb, weil zum Beispiel Textilarbeiter*innen in den meisten Produktionsländern nur 20 Prozent eines existenzsichernden Lohnes verdienen.17 Und zweitens, weil dabei niemand eine Wahl hat. In der weltweiten Bekleidungsindustrie haben zum Beispiel mehr als 90 Prozent aller Arbeiter*innen keine Möglichkeiten, ihr Gehalt oder ihre Arbeitsbedingungen zu verhandeln.18 Die Arbeiter*innen, die in Kambodscha Puma-Sneaker zusammenkleben, haben keine Wahl. Und die, die auf sie schießen lassen, wenn sie streiken – so wie es 2014 geschehen ist –, haben ebenfalls keine Wahl.19 Genauso wenig wie die Arbeiter, die in Burma Kleidung für Lidl nähen. Oder die Leute, die 2018 dort auf sie schießen ließen, als sie für ihre Rechte auf die Straße gingen.20 Und das sind nur zwei Beispiele für das gleiche, überall geltende Prinzip: Die Menschen an unserem Ende der Welt diktieren einen Preis, und die Menschen am anderen Ende der Welt müssen ihn irgendwie möglich machen, um nicht auch noch den letzten Rest ihrer Existenz zu verlieren.

Wir wiegen uns gerne in dem Glauben, dass so hergestellte Produkte nur ganz ausnahmsweise – und dann auch nur aus Versehen und ohne unser Wissen – den Weg in unsere Einkaufstasche finden. Tatsächlich sind aber Löhne unterhalb des Existenzminimums (nicht nur in der Bekleidungsindustrie) keineswegs die Ausnahme. Sie sind die Regel. Über 90 Prozent der Produkte, die wir kaufen, werden unter unfairen Bedingungen hergestellt.21 Unser Wohlstand beruht darauf.

Das hören viele Leute natürlich gar nicht gerne. Sie reden sich lieber ein, unser Wohlstand beruhe darauf, dass wir tüchtiger und qualifizierter seien als die Menschen in ärmeren Ländern. Da wir durchschnittlich nur fünfunddreißig Stunden pro Woche arbeiten und IT-Spezialisten aus Indien rekrutieren müssen, ist nachweislich weder das eine noch das andere der Fall. Wir hatten nur Glück, im richtigen Land geboren worden zu sein.