Es sind Marken, die wir alle kennen. Geschäfte, in denen wir alle kaufen. Unternehmen, für die vielleicht ein Verwandter oder ein Freund von uns arbeitet. Firmen, die in ihren Hauptquartieren Kindergärten einrichten und Tischtennisplatten aufstellen. Firmen, die in ihren Kantinen auch vegane Optionen bereithalten und ihre Stellenausschreibungen so formulieren, dass sich nicht nur zwei Geschlechter angesprochen fühlen dürfen. Es sind coole Marken, die Halfpipes für sozial benachteiligte Jugendliche sponsern, sich in ihren Kampagnen für Female Empowerment starkmachen und auch mal einen Sneaker aus recyceltem Ozean-Plastikmüll auf den Markt bringen.
Es sind solche Firmen, die Menschen in Bangladesch, in Vietnam, in Indonesien, in Kambodscha, in Indien, in China, in Pakistan, in Nigeria und im Kongo unter menschenunwürdigen und gesundheits- oder sogar lebensgefährlichen Bedingungen hundert Stunden pro Woche für sich arbeiten lassen und die ihnen dann für diese Arbeit nur 26 Cent pro Stunde bezahlen,22 sodass die Arbeiter*innen sich noch nicht einmal in Bangladesch oder in Kambodscha ein Dach über dem Kopf und genug zu essen leisten können.
Diese Unternehmen behaupten zwar, dass sie bei ihren Zulieferern faire Löhne wollen. Sie sind aber überhaupt nicht bereit, dafür zu bezahlen. Egal welche Zahl man als Existenzminimum ansetzt – die Löhne, die die Industrie zahlt, sind noch nicht einmal in der Nähe davon. Eine Studie der Fair Labour Association aus dem Jahr 2018 hat zum Beispiel ergeben, dass ein durchschnittlicher Textilarbeiter in Bangladesch 80 Prozent mehr verdienen müsste, bevor er auch nur annähernd das verdient, was die Studie als allervorsichtigsten Richtwert für ein Existenzminimum zugrunde legt.23 Wir reden hier wohlgemerkt nicht von einem gesetzlichen Mindestlohn, sondern von dem absoluten Existenzminimum. Ein Mindestlohn wäre eine von einer Regierung festgelegte Untergrenze, unter die Löhne nicht fallen sollen. Das Existenzminimum hingegen ergibt sich aus den Kosten für die Dinge, die Menschen zum Leben brauchen, wie Nahrung, Unterkunft, Kleidung und medizinische Versorgung.
Und was für die Löhne gilt, gilt auch für die Arbeitsbedingungen: Seit Jahrzehnten reden die großen Marken von ihrem Engagement für die Rechte der Arbeiter*innen in den Produktionsländern. Wie Untersuchungen zeigen, haben diese Unternehmen aber in all diesen Jahren absolut gar nichts für eine Verbesserung des Arbeitsrechts in den Produktionsländern getan.24 Selbstverständlich nicht! Warum sollten sie? Diese Konzerne haben nicht das geringste Interesse daran, dass ihre Fertigungskosten steigen, weil sich die Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern verbessern.
Im Gegenteil: Die fehlenden Arbeitsrechte und die Dumpinglöhne sind schließlich der Grund, warum sie in diesen Ländern produzieren. In Kambodscha zum Beispiel haben Großunternehmen, die ihre Marktmacht mühelos hätten einsetzen können, um für die Arbeiter*innen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu erwirken, 2019 aktiv dazu beigetragen, dass ein entsprechender Tarifabschluss nicht zustande kommt.25
Es ist sehr aufschlussreich, dass Konzerne, die ihren Änderungswillen regelmäßig öffentlich kundtun, davor zurückschrecken, sich schriftlich zu irgendeiner konkreten Maßnahme zu verpflichten. Nike und Adidas zum Beispiel weigern sich hartnäckig, ACT (Action, Collaboration, Transformation) zu unterzeichnen – eine Absichtserklärung, mit der sie sich darauf festlegen würden, ihre Einkaufspraktiken tatsächlich zu ändern.26
Ebenso aufschlussreich ist es, dass Modeunternehmen, die stets betonen, wie sehr ihnen die Arbeitsbedingungen bei ihren Zulieferern am Herzen liegen, noch nicht einmal bereit sind, sich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichten zu lassen. Als der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller 2019 einen Gesetzesentwurf einbrachte, der die Einhaltung der Menschenrechte bei der Herstellung von Kleidung sicherstellen sollte, erklärte die Präsidentin des Gesamtverbands textil + mode sofort, dass dieses Gesetz die Existenz der deutschen Modeindustrie gefährde: Wenn deutsche Unternehmen jetzt plötzlich die Menschenrechte einhalten müssten, seien sie international nicht mehr konkurrenzfähig.27 Soso … Eine interessante Äußerung von einem Verband von Unternehmen, die sonst immer behaupten, sämtliche, eventuell vielleicht irgendwann früher einmal vorgekommenen Menschenrechtsverletzungen selbstverständlich schon längst restlos aus ihrer Lieferkette eliminiert zu haben.