Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung im 19. Jahrhundert konnte vieles maschinell produziert werden, was vorher in Handarbeit angefertigt werden musste. Dadurch wurden viele Gebrauchsgegenstände plötzlich erschwinglich, die bis dahin sehr kostspielig gewesen waren. Die Preise fielen zum Teil so schnell und so stark, dass die Menschen das Gefühl hatten, die neuen Preise würden dem Wert der Dinge gar nicht mehr gerecht. »Heutzutage kennen die Leute von allem den Preis und von nichts den Wert«, schrieb Oscar Wilde damals.40 Man kann sich vorstellen, dass zum Beispiel Nägel, die aus einem Stück Eisen einzeln von Hand geschmiedet wurden, einen vollkommen anderen Preis hatten, als Nägel, die maschinell aus Draht gestanzt werden.
Aber manche Sachen lassen sich eben nicht maschinell herstellen. Das Nähen von Kleidung zum Beispiel lässt sich partout nicht automatisieren, weil Kleidung nie über einen längeren Zeitraum gleich hergestellt wird, sondern in ständig wechselnden modischen Varianten. Bis heute steckt in Kleidung sehr viel menschliche Arbeit. Deshalb sind solche »lohnintensiven« Produkte – im Gegensatz zu anderen, komplett maschinell produzierbaren Produkten – im Zuge der Industrialisierung fast gar nicht billiger geworden.
Und selbstverständlich waren diese lohnintensiven Produkte die ersten, deren Herstellung vollständig in Billiglohnländer verlegt wurde, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. 1999 wurde zum Beispiel noch die Hälfte der Kleidung, die in den Vereinigten Staaten getragen wurde, auch in den Vereinigten Staaten hergestellt. 2015 waren es nur noch verschwindende zwei Prozent.41 Während der Industrialisierung waren die Preise dieser Produkte fast konstant hoch geblieben. Im Zuge der Globalisierung fielen dann aber genau diese Preise besonders schnell. Sie fielen nicht nur besonders schnell, sondern auch besonders heftig, weil die für diese Produkte so entscheidenden Lohnkosten extrem gesenkt werden konnten. Wenn zum Beispiel eine Modefirma die Fertigung ihrer Kleidung 2015 von Deutschland nach Bangladesch verlegte, hatte sie von einem Tag auf den anderen nur noch drei Prozent der vorherigen Lohnkosten. Denn der Mindestlohn in der Textilindustrie in Deutschland war damals acht Euro und 50 Cent pro Stunde,42 der in Bangladesch nur 26 Cent pro Stunde.43
Für uns Konsument*innen blieben diese Vorgänge hinter den Kulissen ebenso undurchsichtig wie die Automatisierungsprozesse, die dazu geführt haben, dass eine Plastiktüte im Supermarkt nichts kostet. Wir erlebten nur ein gänzlich unerklärliches Absacken von Preisen. Besonders bei Kleidung schien der Preis ins Bodenlose zu fallen. Plötzlich gab es T-Shirts für 2,99 Euro.
Um ein T-Shirt herzustellen, muss man zunächst einmal Baumwolle säen, bewässern und zu einer Pflanze großziehen. Ist die Pflanze dann ausgewachsen, muss die Baumwolle meist mühselig von Hand geerntet werden. Danach wird sie gereinigt, gekämmt, zu Garn versponnen und schließlich zu einem Stoff verstrickt, der dann gefärbt wird. Der fertige Stoff muss zugeschnitten und zu dem T-Shirt verarbeitet werden. Das fertig genähte T-Shirt wird oft noch gewaschen und bedruckt, bevor es mit einem Etikett versehen, verpackt und einmal um die halbe Welt geschickt wird. Im Laden angekommen muss es ausgepackt und dekoriert werden.
Sobald unser Gehirn versucht, all diesen Aufwand mit dem Preis von 2,99 Euro zusammenzubringen, schaltet es sich automatisch ab und startet neu wie ein überfordertes Elektrogerät. Es gelingt uns einfach nicht. 4,95 Euro für ein Kleid; 5,99 Euro für einen Beistelltisch; 6,75 Euro für einen Wasserkocher – solche Preise sind und bleiben für uns unverständlich und unfassbar. Im Gegensatz zu den Menschen in den Zeiten der Industrialisierung haben wir nicht nur das Gefühl, dass die Preise der Dinge nicht mehr ihrem Wert entsprechen. Sie tun es tatsächlich nicht.
Denn selbstverständlich ist ein Kurzarm-T-Shirt weniger wert als ein Langarm-T-Shirt in gleicher Qualität. Und selbstverständlich ist ein Kurzarm-T-Shirt erst recht mehr wert als eine Tasse Kaffee. Deshalb war vor der Globalisierung auch der Preis für ein Kurzarmshirt niedriger als der für ein entsprechendes Langarmshirt. Und deshalb kostete ein T-Shirt auch mehr als eine Tasse Kaffee. In sich war das Preisgefüge einigermaßen stimmig. Damals. Als noch alles im Inland hergestellt wurde. Doch die Globalisierung der Herstellung vieler alltäglicher Konsumgüter hat unsere Warenwelt auf den Kopf gestellt. Unser gewohntes Preisgefüge ist an vielen Stellen weggebrochen wie eine unterspülte Straße. Heute kann es sein, dass ein Kurzarmshirt das Zwanzigfache eines Langarmshirts kostet, weil das Kurzarmshirt aus der Schweiz kommt und das Langarmshirt aus China. Wir zahlen zwei Euro für das in Brasilien genähte T-Shirt und direkt danach fünf Euro für den im innerstädtischen Coffee-Shop aufgeschäumten Caramel-Latte. Das fühlt sich nicht nur falsch an, das ist falsch.
Als wir noch in unserer kleinen nationalen Welt lebten, waren Preise nachvollziehbar. Wenn es um Preise ging, konnten wir uns auf unser »Gefühl« verlassen. Wir konnten die Preise von Waren schätzen, indem wir grob den zur Herstellung eines Gegenstandes notwendigen Aufwand an Material und Arbeit schätzten. Dann gestanden wir Hersteller und Händler noch eine angemessene Marge zu, und schon hatten wir den ungefähren Preis. Mal lagen wir ein bisschen zu hoch, dann erschien uns eine Ware günstig. Mal schätzten wir ein bisschen zu niedrig, dann kam sie uns teuer vor. Aber ganz falsch lagen wir selten mit unserer Formel: Material + Arbeit + Marge = Preis.
Doch durch die Globalisierung ist für uns aus dieser einfachen Überschlagsrechnung eine Gleichung mit vier Unbekannten geworden. Keine einzige Zahl aus der Formel können wir mehr schätzen. Denn die Materialpreise, Löhne und Margen kennen wir ja nur in unserer Heimat. Wir haben aber keine Ahnung, was Material in Uganda kostet, welche Löhne in Malaysia gezahlt werden und wie ein irisches Unternehmen kalkuliert. Vor der Globalisierung bestimmte der Wert einer Sache ihren Preis. Heute hingegen bestimmen die Produktionsbedingungen am anderen Ende der Welt den Preis der Dinge. Der Wert einer Sache war für uns nachvollziehbar. Die Produktionsbedingungen am anderen Ende der Welt sind es nicht. Wenn wir ehrlich sind, ist für uns kein einziger Preis mehr nachvollziehbar.
Und weil wir uns die Preise ohnehin schon lange nicht mehr erklären können, versuchen wir es auch gar nicht erst. Solange der Preis sinkt, stellt man sowieso lieber keine Fragen. Wenn der Ölpreis steigt, wird darüber in Fernsehtalkshows diskutiert, wenn er sinkt, nicht. Niedrige Preise – selbst unfassbar niedrige – nehmen wir einfach hin. Wir gewöhnen uns daran, dass zwischen dem von uns »empfundenen« Wert der Waren und ihrem Preis kein erkennbarer Zusammenhang mehr besteht. Wir hören auf, ständig den eigentlichen Wert und den tatsächlichen Preis eines Produkts miteinander zu vergleichen, so wie wir irgendwann aufgehört haben, von Euro in D-Mark umzurechnen. Früher oder später gestehen wir uns ein, dass unser Gefühl für den Wert der Dinge uns schon lange nichts mehr nützt, und schalten es einfach ab.