Der Neurowissenschaftler Brian Knutson hat erforscht, wie wir Kaufentscheidungen treffen: In einem Experiment zeigte er seinen Testpersonen zunächst für ein paar Sekunden Bilder eines Produkts. Dann wurde zusätzlich der Preis des Produkts eingeblendet. Und danach sollten die Probanden entscheiden, ob sie das Produkt kaufen würden. Weil währenddessen durchgängig die Gehirnströme gemessen wurden, konnten die Wissenschaftler sehen, dass das Bild des Produkts – zum Beispiel einer Pralinenschachtel – das sogenannte Belohnungszentrum anregte. Beim Einblenden des dazugehörigen Preises wurde hingegen ein ganz anderer Bereich des Gehirns aktiviert, nämlich die sogenannte Insula, die normalerweise aktiviert wird, wenn wir körperlichen Schmerz empfinden. Die Auswertung dieser Gehirnaktivitäten ergab ein verblüffend einfaches Prinzip: Wir kaufen ein Produkt, wenn das Gefühl von Belohnung, welches das Produkt bei uns auslöst, deutlich größer ist als der Schmerz, den sein Preis bei uns auslöst.53
Dass unser Gehirn die Differenz zwischen dem persönlichen Nutzen (Belohnung) und dem Preis (Schmerz) eines Produkts berechnet, klingt zunächst so, als wären unsere Kaufentscheidungen eigentlich doch sehr rational. Dieses Abwägen der Vor- und Nachteile eines Kaufs scheint vernünftig. Ist es aber nicht. Das Abwägen von Belohnung und Schmerz würde nämlich nur dann zu einer vernünftigen Entscheidung führen, wenn die von unserem Gehirn vorweggenommene Belohnung in einem vernünftigen Verhältnis zu dem tatsächlichen Nutzen eines Produkts stünde und wenn auf der anderen Seite der gefühlte Schmerz in einem vernünftigen Verhältnis zu dem zu zahlenden Betrag stünde. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass dem ganz und gar nicht so ist:
Wenn man zum Beispiel bei Nanu-Nana einen lustig bedruckten Kaffeebecher für einen Euro sieht, dann stellt man sich gar nicht die Frage, ob einem dieser Becher einen Euro wert ist oder nicht. Man stellt sich ausschließlich die Frage, ob man den Becher haben will oder nicht. Das heißt: Billigprodukte wie dieser 1-Euro-Becher sind so erfolgreich, weil ihr Preis uns keinen Schmerz bereitet, man also nur Belohnung empfindet, ohne jeden Schmerz. Der eine Euro »tut einem nicht weh«. Man würde ihn auch in einen Brunnen werfen. Durch die Kombination aus globalem Sourcing und automatisierter Fertigung sind viele Produkte so billig geworden, dass wir ihren Preis nur noch als symbolischen Preis wahrnehmen. Deshalb empfindet man beim Erwerb des Bechers bei Nanu-Nana, des Notizblocks bei Tiger Copenhagen oder der Papierservietten bei Butlers ungetrübte Freude – die Freude, etwas bekommen zu haben, ohne das Bedauern darüber, etwas dafür gegeben zu haben. Es fühlt sich gar nicht so an, als hätte man sich etwas gekauft, sondern eher so, als hätte man sich selbst etwas geschenkt.
Der Kauf eines mittelpreisigen Kaffeebechers – sagen wir für 25 Euro – hingegen wäre von eher gemischten Gefühlen begleitet. Denn 25 Euro sind schließlich 25 Euro. Für 25 Euro könnte man sich auch etwas anderes kaufen oder essen gehen. Beim Kauf eines 25-Euro-Bechers würde man also eine Mischung aus Belohnung und Schmerz empfinden. Und die macht uns vergleichsweise wenig Freude. Und – so würde man sich fragen – ist ein 25-Euro-Becher wirklich so viel besser als ein 1-Euro-Becher? Am Ende hätte man noch nicht einmal das Gefühl, ein wirklich edles und luxuriöses Trinkgefäß zu haben. So gibt einem ein 25-Euro-Becher weder das Gefühl, sich selbst etwas geschenkt zu haben, noch das Gefühl, sich selbst etwas gegönnt zu haben.
Da kauft man sich doch lieber gleich einen bedruckten Kaffeebecher von Hermès für 92 Euro! Da ist man sich dann wenigstens sicher, dass der Becher wirklich viel besser ist als der für einen Euro. Ein bedruckter Kaffeebecher für 92 Euro muss ja viel besser sein als ein bedruckter Kaffeebecher für einen Euro – alles andere wäre absurd. So gibt der 92-Euro-Becher einem auf jeden Fall schon einmal das Gefühl, sich etwas gegönnt zu haben.
Und darüber hinaus hat der Becher von Hermès noch einen ganz entscheidenden Mehrwert: Genauso wie eine Gucci-Handtasche eben nicht nur eine Tasche ist, ist der Hermès-Kaffeebecher nicht nur ein Becher. Er ist auch ein Statussymbol. Er macht seinen Besitzer zu einem anderen Menschen. Wenn man seinen Kaffee aus einem 1-Euro-Becher trinkt, ist man als Typ eher so Nanu-Nana. Wenn man jedoch seinen Kaffee aus dem 92-Euro-Becher trinkt, ist man der Hermès-Typ, also sozusagen der Mercedes unter den Menschen. Das für uns damit verbundene Gefühl von Belohnung ist so überwältigend, dass es jedes gesunde Schmerzempfinden betäubt. So kauft man auch den 92-Euro-Becher mit fast ungetrübter Freude.
Die Ironie bei all dem ist, dass ausgerechnet der Preis, der sich für uns falsch anfühlt, der einzig gesunde ist. Die Preise hingegen, die uns ein gutes Gefühl geben, erweisen sich als ungesund, wenn man anfängt darüber nachzudenken:
Ein Euro für einen bedruckten Porzellanbecher ist viel zu billig, so wie drei Euro für ein T-Shirt zu wenig sind. Denn abgesehen davon, dass ein Becher, der nur einen Euro kostet, nicht aus echtem Porzellan sein kann, können von einem Euro keine fairen Löhne gezahlt worden sein, nicht in Vietnam und auch sonst nirgendwo auf der Welt. Wenn man sich fragt, wie ein Becher so wenig kosten kann, kann die Antwort nur lauten: Er darf es nicht!
92 Euro hingegen sind viel zu viel. Ein bedruckter Porzellanbecher dürfte – selbst wenn er in höchstmöglicher Qualität (und »höchstmögliche Qualität« heißt in dem Fall tatsächlich, dass keine höhere Qualität möglich ist) in Deutschland von Hand gefertigt wurde – nicht mehr als 69 Euro kosten. Ein bedruckter Porzellanbecher für 92 Euro ist viel zu teuer.
Genauso ist eine Gucci-Stofftasche für 1.690 Euro viel zu teuer. Ein Produzent von Gucci-Taschen erklärt, warum:
»Dieser Stoff würde normalerweise fünfzehn Euro pro Meter kosten. Aber die machen davon Millionen über Millionen von Metern, also bezahlen die keine fünfzehn. Vielleicht zehn. Das Leder hier kostet vielleicht fünfzehn bis zwanzig Euro. Dann sind da noch zwei Euro für den Reißverschluss plus das Geld, das sie uns bezahlen – das sind die Kosten. Und die bringen die Taschen für das Zehn- bis Fünfzehnfache dieser Kosten auf den Markt.«54
Und während einem das so penibel vorgerechnet wird, merkt man, dass man es eigentlich gar nicht wissen will. Denn die Tasche von Gucci oder der Becher von Hermès macht einen so glücklich, dass einem das alles egal ist.
Wir treffen unsere Konsumentscheidungen eben nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch, und der hört nicht auf den Kopf. Ausschlaggebend für einen Lustkauf ist einzig und allein die Lust, die der Kauf uns bereitet, und die ist bei einem mittleren Preis eben auch nur mittel, während extreme Preise – sowohl extrem hohe als auch extrem niedrige – bei uns extreme Belohnungsgefühle auslösen können. Ein vernünftiger Preis lässt uns kalt, weil er unsere Vernunft anspricht. Unvernünftige Preise machen uns heiß, weil sie unsere Vernunft ausschalten.