Alle reden vom ethischen Konsum. Aber keiner hat ihn je gesehen. In Umfragen sagen zwar 99 Prozent der Leute, dass sie nachhaltige Produkte kaufen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten. Und 85 Prozent der Befragten behaupten, in den meisten Fällen nachhaltige Produkte zu kaufen. Wenn man sich aber die tatsächlichen Verkaufszahlen anguckt, kaufen überhaupt nur 15 bis 20 Prozent aller Leute nachhaltige Produkte. Und das auch nur manchmal.73
2016 lag der Marktanteil von Textilien, die den Global Organic Textile Standard erfüllen, die also nachweislich nachhaltig produziert wurden, bei noch nicht einmal einer Promille.74 Demnach treffen wir 99,9 Prozent unserer Konsumentscheidungen weitgehend unabhängig von moralischen Überlegungen.
Bei Lebensmitteln ist der Marktanteil an Bioprodukten zwar fünfzigmal höher, liegt aber auch nur bei fünf Prozent.75 Und selbst diese fünf Prozent sind nur zu einem geringen Teil moralisch motiviert. Wenn jemand vor allem deshalb lieber zu Bioobst und Biogemüse greift, weil er glaubt, dass sie für ihn gesünder sind, dann ist das kein ethischer Konsum. Und wenn jemand Biobrot und Bioeier kauft, weil sie ihm besser schmecken, dann hat das mit Moral nichts zu tun. So gesehen ist es dann auch nicht inkonsequent, wenn man mit dem SUV zum Biosupermarkt fährt, sondern absolut konsequent, denn man will dabei ja gar nicht das Beste für die Umwelt. Man will das Beste für sich. Man will das bestmögliche Essen und das bestmögliche Auto. Man verhält sich nicht moralisch inkonsequent, sondern konsequent amoralisch.
Die meisten Menschen würden zwar von sich selbst behaupten, dass ihnen Themen wie Sustainability, Fair Labour und Animal Cruelty am Herzen liegen. Aber in dem Moment, in dem sie ihre Kaufentscheidungen treffen, ist ihnen dann doch alles andere wichtiger. Eine jüngere Umfrage bestätigt, dass Millennials bei sämtlichen gängigen Kaufentscheidungen tatsächlich mehr oder weniger alles andere – nämlich die Mühelosigkeit des Einkaufs, das Preis-Leistungs-Verhältnis, die Einzigartigkeit und die Marke des Produkts – wichtiger ist als Nachhaltigkeit.76
In einer anderen Studie zeigt sich, dass ausgerechnet die vierzehn- bis neunzehnjährigen Mädchen – bei denen die Behauptung, man lege Wert auf nachhaltige Produkte, um ganze 40 Prozent verbreiteter ist als im Durchschnitt – sich paradoxerweise doppelt so oft neue Kleidung kaufen wie der Durchschnitt.77
Es gibt einfach keine Zahlen oder Untersuchungen, die belegen würden, dass unsere moralischen Werte irgendeinen tatsächlichen Einfluss auf unser Konsumverhalten haben.78
2019 eskalierten die Proteste und Boykottaufrufe gegen den alljährlichen Konsumrausch am Black Friday. Die Konsument*innen gaben sich einsichtig: In einer Vorabumfrage erklärten fast zwei Drittel, sie seien sich der ökologischen Auswirkungen ihres Black-Friday-Konsums bewusst geworden und würden diesen diesmal reduzieren wollen.79 Tatsächlich kauften sie an dem darauffolgenden Black Friday aber mehr als je zuvor in der siebzigjährigen Geschichte des Shopping-Events.80
Die gängigsten Gründe und Ausflüchte dafür, dass wir uns im Alltag nicht so verhalten, wie wir uns verhalten sollten – und eigentlich auch wollen –, hat der Betriebswirtschaftsprofessor Timo Busch unter dem Kürzel »G.E.M.A.« zusammengefasst:
»G steht für Gewöhnung – alle fahren Auto oder fliegen in den Urlaub, deshalb wird das vom Einzelnen nicht kritisch hinterfragt. E steht für den Entkopplungseffekt – wir wissen zwar, was die Wissenschaft zu den globalen Problemen sagt, blenden das aber in unserem täglichen Handeln aus. M steht für Machtlosigkeit – dahinter steht die Ansicht, dass der Einzelne in dieser globalen Welt durch eine Änderung seines Verhaltens ohnehin nichts bewirken könnte. A steht für Abspaltung – wir erkennen zwar an, dass sich dringend etwas ändern müsste, möchten dies aber nicht bei uns selbst, wollen also beispielsweise keine Windkraftanlagen in der eigenen Nachbarschaft.«81
Wenn bei unserem Konsum moralische Überlegungen eine Rolle spielen würden, dann hätte sich das spätestens in der Reaktion auf die Katastrophe im Rana Plaza zeigen müssen. Obwohl das Thema über viele Wochen die Medien beherrschte, konnte Primark – für die nachweislich damals im Rana Plaza genäht wurde82 – im selben Jahr einen Umsatzzuwachs von 22 Prozent83 verzeichnen.
Mit dem ethischen Konsum ist es offenbar ein bisschen wie mit der gesunden Ernährung: Zahlreiche Studien zeigen, dass Aufklärungskampagnen über gesunde Ernährung die Einstellung der Leute zu kalorienreichem Essen verändern können und in ihnen den Vorsatz wecken, gesünder zu essen. Aber dieselben Studien zeigen auch, dass solche Aufklärungskampagnen über den Vorsatz hinaus so gut wie keine Auswirkungen auf das tatsächliche Essverhalten der Leute haben.84
Genauso hat es offenbar auch keinen Einfluss auf das Konsumverhalten von Menschen, wenn man sie darüber aufklärt, unter welch menschenverachtenden und ökologisch verheerenden Bedingungen viele Produkte hergestellt werden, die sie konsumieren. An solcher Aufklärung mangelt es nämlich nicht. Wenn Menschen mit ihrem Konsum ständig gegen ihre eigenen Werte verstoßen, dann liegt das nicht daran, dass sie es nicht besser wissen. Es ist nicht so, dass ihnen niemand gesagt hat, wem Nestlé das Wasser wegnimmt, bevor es für sie in San-Pellegrino-Flaschen gefüllt wird, auf welchen Flächen das Palmöl in ihrer Nutella angebaut wird und wie die Tiere gehalten werden, die sie sich als 1-Euro-Burger bei McDonald’s schmecken lassen.
Man hat es ihnen gesagt. Aber mit sehr großer Wahrscheinlichkeit haben sie es umgehend wieder vergessen. Wie selektiv unser Gedächtnis ist, wenn es um Informationen geht, die unser Gewissen belasten könnten, hat ein Experiment an der Ohio State University offenbart. Dabei wurden Studenten sechs verschiedene fiktive Schreibtischmarken vorgestellt, jeweils verbunden mit der Information, welcher Hersteller Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft verarbeitet und welcher Tropenwaldholz. Eine Befragung zeigte, dass sich zunächst fast alle Studenten (95 Prozent) beide Informationen gemerkt hatten. Zwanzig Minuten später wusste die Mehrheit (60 Prozent) der Studenten auch immer noch sehr genau, welche Firmen nachhaltig erwirtschaftetes Holz verwenden. Welche Schreibtische aus Tropenholz hergestellt werden, hatte sich jedoch nur eine Minderheit (45 Prozent) der Studenten gemerkt. In einem zweiten Experiment, bei dem es um Kleidung ging, zeigten die Probanden wieder die gleiche selektive Vergesslichkeit, diesmal in Bezug auf Jeans, die mithilfe von Kinderarbeit hergestellt wurden.85
Diesen Mechanismus als »verdrängen« zu bezeichnen, ist noch zu schwach. Denn hier wird die Information nicht nur vorübergehend unterdrückt, sie wird endgültig gelöscht. Wir vergessen die Schattenseiten unseres Konsums tatsächlich. Wir vergessen sie, weil wir sie vergessen wollen. Denn nur so können wir all die Dinge, an die wir uns gewöhnt haben, die so bequem sind, so lecker schmecken, so gut aussehen und dabei noch so überraschend preiswert sind, auch weiterhin unbeschwert genießen.