Selbstverständlich berührt die Digitalisierung fast alle Bereiche unserer Wirtschaft, aber kein Wirtschaftsbereich ist von der Digitalisierung so disrupted wie der Einzelhandel. Der E-Commerce sorgt für einen Strukturwandel, wie ihn die Einzelhandelsbranche selbst bei Einführung der Selbstbedienung nicht erlebt hat.90 Bereits vor der Covid-19-Krise erreichten uns regelmäßig Meldungen wie Anfang 2019 diese aus Deutschland: »In den vergangenen Tagen gingen Retailer reihenweise in die Knie: AWG (300 Filialen), K+L (54 Häuser), Monsoon Accessorize (30 deutsche Stores), Gerry Weber (international über 800 eigene und 280 Partnerstores) […]«91 Oder fast gleichzeitig diese aus Großbritannien: »2018 gingen im britischen Einzelhandel rund 70.000 Arbeitsplätze verloren, nachdem Ketten wie Marks&Spencer und Debenhams Pläne bekannt gegeben hatten, hunderte von Läden zu schließen. Im Januar 2019 kündigte Tesco, der größte Einzelhändler Großbritanniens, die Streichung von nicht weniger als 9.000 Arbeitsplätzen an.«92 Oder ein paar Monate später diese aus den USA: »Laut einer Aktualisierungsmitteilung von Crédit Suisse zu ihrem Ladenschließungsindex verzeichnete das Unternehmen die höchste je zu dieser Zeit des Jahres ermittelte Zahl in der vierundzwanzigjährigen Geschichte des Index: 7.600. Fast eine Milliarde Quadratmeter werden voraussichtlich aufgegeben, umgenutzt oder in der Miete heruntergehandelt werden müssen.«93 Und so weiter.
Es versteht sich von selbst, dass die Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus, die ein genussvolles Offlineeinkaufen für Monate unmöglich machten und uns gar keine andere Wahl ließen, als uns mit dem Konkurrenzangebot im Netz anzufreunden, zahllosen bereits geschwächten stationären Händlern weltweit den Todesstoß versetzt haben. Allein in Deutschland werden für 2020 im Einzelhandel bis zu 50.000 Insolvenzen erwartet.94 In Großbritannien droht der Verlust von zusätzlichen 235.704 Arbeitsplätzen im stationären Einzelhandel.95 Und in den USA muss man davon ausgehen, dass im Zusammenhang mit dem Shutdown noch einmal fast 60 Prozent mehr Läden schließen werden als bereits im Jahr davor.96 Bei solchen Zahlen drehen die Banken den stationären Einzelhändlern natürlich schon vorsorglich den Geldhahn ab.
Währenddessen starten die Onlinehändler mit schier unbegrenztem Venture-Kapital und großzügigen staatlichen Förderungen durch. Denn solche New-Economy-Unternehmen müssen noch nicht einmal Gewinn machen, solange sie ihre Geldgeber davon überzeugen können, dass auf alle Beteiligten später märchenhafte Gewinne und Steuereinnahmen warten, wenn man sich jetzt – buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste – Marktanteile sichert.97 So bekam zum Beispiel der Boutiquen-Schreck Zalando noch kurz vor seinem Börsengang, der ihm über 600 Millionen Euro einbrachte, zusätzliche 35 Millionen Euro Subventionen aus deutschen Steuergeldern, ohne bis dahin kaum jemals Gewinn ausgewiesen zu haben.98