Dass Geschäfte nicht nur deshalb gebaut wurden, weil es noch kein Internet gab, wird immer deutlicher. Die »Experience« im Brick-and-Mortar-Store erweist sich für den Verkauf vieler Produkte als unverzichtbar. Alle großen Marken sind sich längst darüber im Klaren, dass sie zum Aufbau und Erhalt eines internationalen Markenimperiums nicht nur Markenbotschafter, sondern auch repräsentative Botschaftsgebäude brauchen. Das heißt, sie brauchen zusätzlich zu ihren Onlineshops auch weiterhin physische Anlaufstellen an strategisch wichtigen Orten – nur eben nicht mehr so viele. Wenn eine Marke zum Beispiel Italien erobern will, braucht sie ein Geschäft in Mailand und in Rom.103 Den Rest kann sie online machen. So reduzieren Marken derzeit ihre vielen kleinen Läden in vielen kleinen Städten zugunsten von wenigen großen Flagship-Stores in wenigen großen Städten.104
Diese ständigen Vertretungen der Marken selbst müssen gar nicht unmittelbar rentabel sein. Im Gegensatz zu den unabhängigen Ladeninhabern kann es den Marken selbst nämlich ziemlich egal sein, ob die Kund*innen a) ihr Produkt im Laden kaufen und sofort mitnehmen oder b) später online bestellen und nach Hause liefern lassen oder c) im Laden bestellen und nach Hause liefern lassen oder d) online bestellen und in den Laden liefern lassen. Hauptsache, sie kaufen es.
So sind die Flagship Stores für die großen Marken immer mehr Repräsentanzen und immer weniger Verkaufspunkte. Sie müssen gar keine Waren mehr verkaufen. Sie wollen es zum Teil noch nicht einmal mehr. Vielmehr geht es darum, Orte zu schaffen, an denen man Produkte erleben, anschauen, anfassen, an- und ausprobieren kann (wie zum Beispiel in den Apple Stores). An manchen dieser Orte gibt es nur noch Musterteile zum Anprobieren und gar keine Ware zum Mitnehmen mehr (wie zum Beispiel in den amerikanischen »Zero Inventory Stores« der Marke Bonobos). An anderen Orten gibt es sogar überhaupt keine Produkte mehr (wie zum Beispiel in einer »Adidas Runbase«). In diesen Läden, die keine Läden mehr sind, geht es nur noch darum, die Produkte – oder die Marke hinter den Produkten – für uns erlebbar zu machen. Diese Lokale haben nicht mehr den Zweck, maximale Umsätze pro Quadratmeter zu machen, sondern maximale Erlebnisse pro Quadratmeter zu bieten – Erlebnisse, die uns emotionalisieren, an die Marke binden und Begehrlichkeit wecken sollen. Im Idealfall sind diese Läden (oder vielmehr Nichtläden) wie ein Parcours, der uns mithilfe von sachkundigen Produktbotschaftern und neuester Technologie Sensationen beschert, die wirklich einzigartig, beeindruckend und unvergesslich sind. So unvergesslich, dass sie als Erfahrung einen bleibenden positiven Eindruck in unserer Psyche hinterlassen und so für die Unternehmen langfristig mehr Umsatz generieren, als ein schnödes Verkaufsgeschäft es könnte.105
Dank solcher Vorarbeit können die Marken sich dann in ihren Webshops die stimmungsvolle Inszenierung sparen: Mit der Emotionalität eines Schraubenregals im Baumarkt werden dort die Waren einfach in einer tabellarischen Übersicht präsentiert. Egal ob Druckerpatronen oder Spitzendessous – alles wird in derselben Operationssaal-Beleuchtung vor demselben weißen Hintergrund abgelichtet. Sogar die Gesichter der Models, die eigentlich für unser Gehirn einen besonderen Wert haben und unmittelbar das Belohnungszentrum ansprechen,106 werden meist einfach abgeschnitten.
All das macht nichts, denn nachdem die Flagship Stores die Menschen zum Kauf von Dingen verführt haben, brauchen die Onlineshops diese Käufe ja nur noch abzuwickeln.