Bei vielen Konsumprodukten erledigt sich die Frage, ob wir sie in einem Ladengeschäft kaufen oder ob wir sie im Netz bestellen, ohnehin gerade von selbst. Die Antwort ist hier: weder noch. Denn diese Produkte, die früher einmal Gegenstände waren, sind jetzt gar keine Gegenstände mehr. Musik, Spiele und Filme sind Daten, die keine Datenträger wie Schallplatten, Kassetten oder Discs mehr brauchen. Man muss sie weder in einem Laden holen noch sich in einem Paket nach Hause schicken lassen. Auch Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und Landkarten sind Inhalte, die sich ohne Papier verbreiten können.
Es ist noch nicht einmal mehr klar, ob man Dinge wie Filme, Musik, E-Books, E-Paper oder Software überhaupt noch besitzen kann.107 Ist ja auch gar nicht mehr nötig. Landkarten, Nachschlagewerke, Serien, Spiele und Musik muss man weder physisch noch digital besitzen, um in ihren Genuss zu kommen. Wired-Gründer Kevin Kelly schrieb 2009: »Warum sollten Sie irgendetwas besitzen, wenn Sie im größten Verleih der Welt lebten? Wenn das ein magischer Verleih wäre, in dem ein Gegenstand oder ein Service auf Ihr Kommando erscheinen würde, sobald Sie ihn herbeirufen? Das Internet ist dieser magische Verleih.«108 Das World Wide Web hat die Welt in eine unendlich große Jukebox verwandelt, aus der wir alle möglichen Inhalte und alle möglichen Formen der Unterhaltung und Information jederzeit und überall abrufen können.
Allerdings ist diese Jukebox noch nicht ausgereift. Denn genauso wie nicht mehr klar ist, ob man digitale Dinge noch besitzen kann, ist auch noch nicht wirklich klar, wie man digitale Dinge verkaufen und vermieten kann. Wir befinden uns in einer Übergangsphase, in der es vielen Journalisten, Fotografen, Autoren und Musikern nicht mehr gelingt, mit ihren Inhalten analog angemessen Geld zu verdienen, aber auch noch nicht wirklich gelingt, sie digital zu vermarkten.
Musiker zum Beispiel, die früher von dem Verkauf von Tonträgern leben konnten, sehen sich jetzt dem massenhaften illegalen Download ihrer Musik schutzlos ausgeliefert. Und selbst wenn eines ihrer Lieder legal gestreamt wird, zahlen Spotify und Apple Music nur ungefähr ein Tausendstel eines Cents an die Musik-Labels. Und selbst davon kommt dann nur ein Bruchteil beim Künstler an.109 So können Musiker im Grunde nur noch über Live-Auftritte, Werbeverträge und Lizenzen Geld verdienen. Ende der 1980er-Jahre, als Alben noch Schallplatten waren, konnten U2 ihr Album The Joshua Tree 18 Millionen Mal verkaufen. Es landete auf Platz 59 der meistverkauften Alben aller Zeiten. 2014, als Alben nur noch digitale Daten waren, versuchten U2 gar nicht erst, ihr neues Album Songs Of Innocence zu verkaufen, sondern verschenkten es gleich an sämtliche iTunes-Kunden.
»In dem Moment, in dem Schöpfungen digital werden, neigen sie dazu, allgemein verfügbare, herrenlose Güter zu werden«, schreibt Kevin Kelly an anderer Stelle. »Auch wenn sie nicht durch Steuern finanziert werden, sind Bücher, Musik und Filme, dadurch dass sie zunehmend öffentlich zugänglich werden, auf dem Weg, Gemeingut zu werden.«110
Vor der Digitalisierung war es zum Beispiel selbstverständlich, dass man ein Lexikon kaufen (oder sich schenken lassen) musste, um es als Nachschlagewerk griffbereit zu haben. Es war ebenfalls selbstverständlich, dass die Autoren solcher unentbehrlichen Standardwerke angemessen entlohnt wurden. Wikipedia, der digitale Nachfolger dieser Schwarten, ist für uns mindestens so unentbehrlich wie damals zum Beispiel Der Brockhaus. Weil seine Inhalte für jeden frei zugänglich sind, kann Wikipedia aber – im Gegensatz zum Brockhaus – nur durch kostenlosen User-Content und freiwillige Spenden existieren.
In seiner Onlineausgabe fragt mich The Guardian, ob ich vielleicht mal einen Euro für ihn hätte, und klingt dabei wie die Penner, die einen in der U-Bahn ansprechen: »Jede auch noch so kleine Spende, die wir von Lesern wie Ihnen bekommen, fließt direkt in die Förderung unseres Journalismus. Diese Unterstützung ermöglicht es uns, weiter so zu arbeiten wie bisher. Unterstützen Sie den Guardian. Jeder Euro hilft – und es dauert auch nur eine Minute. Vielen Dank.« So ist weltweit anerkannter Qualitätsjournalismus durch die Digitalisierung auf das Vertriebsmodell von Obdachlosenzeitungen zurückgeworfen. Starjournalisten sind zu Bettlern geworden, die ihre Leser um Almosen bitten müssen.
NATÜRLICHE UND
KÜNSTLICHE VERKNAPPUNG
Welchen Effekt Verknappung auf uns hat, haben die Psychologen Worchel, Lee und Adewole in zwei einfachen Experimenten gezeigt.
Zunächst baten sie zwei Gruppen von Leuten, Kekse zu probieren und zu bewerten. Der einzige Unterschied war, dass den Leuten aus der einen Gruppe die Kekse in einem Glas mit zehn Keksen angeboten wurden und der anderen Gruppe in einem Glas mit nur zwei Keksen. Tatsächlich bewertete die Gruppe mit den zwei Keksen dieselben Kekse als viel begehrenswerter und leckerer als die Gruppe mit den zehn Keksen.
Dann variierten die Forscher das Experiment: Sie zeigten einer dritten Gruppe zuerst das Glas mit den zehn Keksen. Aber kurz bevor der Versuchsteilnehmer einen Keks probieren konnte, nahm der Versuchsleiter acht Kekse wieder weg, sodass auch hier wieder nur noch zwei Kekse im Glas waren. Diese dritte Gruppe, die zuerst zehn Kekse hatte, dann aber auf zwei Kekse herabgesetzt wurde, bewertete die Kekse als noch leckerer und begehrlicher als die beiden anderen Gruppen.111
Diese Experimente zeigen, wie Dinge, die ohnehin schon eine starke Anziehungskraft auf uns ausüben (Kekse), für uns durch Verknappung noch attraktiver werden. Während der Coronakrise konnten wir sogar beobachten, dass selbst vollkommen unattraktive Dinge (Klopapier) durch Verknappung für uns unwiderstehlich werden: Eine eher beiläufig veröffentlichte Mutmaßung darüber, dass Klopapier unter bestimmten Umständen knapp werden könnte, wurde so zur Selffulfilling Prophecy. Obwohl fast alle sich sofort darüber einig waren, dass der Kauf von Klopapier die lächerlichste aller denkbaren Pandemiemaßnahmen sei, konnte kaum jemand der Versuchung widerstehen, sich umgehend selbst eine Extraration des »weißen Goldes« zuzulegen.
Dass uns Dinge umso begehrlicher erscheinen, je knapper sie sind, liegt in unserer Natur. Die Evolution hat uns beigebracht, uns alles zu sichern, was nur begrenzt verfügbar ist, weil man nie weiß, wann es das nächste Mal verfügbar sein wird. Deshalb erscheinen uns Dinge schlagartig wertvoller, wenn uns klar wird, dass sie selten sind.
Aus heutiger Sicht ist es kaum noch vorstellbar, aber vor der Digitalisierung war ganz normales Shopping ständig mit Knappheit verbunden: Im Frühjahr wurde zum Beispiel das bisschen Sommerkleidung geliefert, welches die lokalen Modeboutiquen für die Bewohner*innen des Städtchens bestellt hatten. Damit war die Jagd eröffnet. Wer gut aussehen oder einfach nur einigermaßen vernünftig gekleidet sein wollte, musste schneller sein als die anderen und sich die besten Teile sichern, bevor sie ihm jemand anderes wegschnappte. Denn die meisten Teile gab es nur einmal pro Größe. Und was weg war, war weg.
Manchen gelang es durch Reisen, ihr Jagdrevier zu erweitern und besonders seltene oder exotische Beute mit nach Hause zu bringen – zum Beispiel eine Original Levi’s-501-Jeans aus den USA. Je seltener etwas war und je schwerer es zu bekommen war, desto reizvoller wurde die Jagd danach und desto kostbarer war die Beute.
Wir kennen das alle: Eigentlich waren wir gar nicht sicher, ob uns die Schuhe überhaupt gefallen, aber seit dem Moment, in dem uns der Verkäufer gesagt hat, dass sie in unserer Größe nicht mehr da sind, haben wir das Gefühl, ohne diese Schuhe nicht mehr leben zu können.
Durch die Globalisierung und die Digitalisierung können wir jetzt den umgekehrten Effekt beobachten, denn wir erleben keine zunehmende Verknappung, sondern eine zunehmende Verfügbarkeit: Die Globalisierung hat dafür gesorgt, dass alles, was man früher nur in bestimmten Ländern oder an bestimmten Orten bekommen konnte – amerikanische Kleidung, asiatische Lebensmittel, skandinavische Möbel –, jetzt weltweit erhältlich ist. Und dank Onlineshopping haben wir auf dieses globale Warenangebot jetzt den uneingeschränkten Zugriff, zu jeder beliebigen Zeit, von jedem beliebigen Ort aus. Von Verknappung keine Spur mehr. All die Hard-to-Get-Items, denen man früher nachgejagt ist, die umkämpft waren, können wir jetzt jederzeit mit einem Mausklick in den Warenkorb befördern oder auch wieder daraus entfernen, wenn uns danach ist. Mit einer Jagd hat das gar nichts mehr zu tun. Das Einzige, was man im Netz noch jagen kann, ist der beste Preis. Aber auch das übernehmen nach und nach Preisroboter für uns.
Wenn die Verknappung von Dingen bei uns Begehrlichkeit weckt, dann bewirkt ihre zeitlich und räumlich uneingeschränkte Verfügbarkeit bei uns das Gegenteil: Gelangweilt schlendert man durch TK Maxx, legt eine Bodylotion in den Plastik-Trolley, ein T-Shirt, ein paar Sportsocken, eine Tüte Chips … Auf dem Weg zur Kasse stellt man jedoch fest, dass sich dort eine Warteschlange gebildet hat, die noch über die dafür vorgesehene Gasse hinausreicht. Also verlässt man den Laden und lässt den halbvollen Trolley einfach stehen. Nichts darin ist einzigartig oder unwiederbringlich. Die Creme, das Shirt, die Socken, die Chips – all das kann man jederzeit überall kaufen oder bestellen.
Die Waren haben ihr einmaliges Hier-und-jetzt verloren und das Shopping sein unwiederbringliches Jetzt-oder-nie. Man muss nichts mehr sofort kaufen, wenn man es haben will. Man kann alles genauso gut später noch bestellen. In diesem unendlichen Pool von Waren, auf den wir über das World Wide Web zugreifen können, ist genug für alle da. Mehr als genug. Im Modehandel zum Beispiel ist das Angebot grundsätzlich 30 bis 40 Prozent höher als die Nachfrage.112 So sind selbst im Sale meist noch alle Farben und Größen im Angebot.
Da es uns an nichts mangelt, ist auch nichts mehr Mangelware. Da nichts mehr selten ist, hat auch nichts mehr Seltenheitswert. Um überhaupt einmal wieder das Jagdfieber zu spüren und echte Begehrlichkeit zu empfinden, muss schon künstlich Mangel erzeugt werden. Luxusunternehmen wie Rolex und Hermès machen das schon immer so. Sie wissen, dass ein Uhrensammler, den man einmal absichtlich leer ausgehen lässt, sich nie wieder eine limitierte Uhr entgehen lassen wird, und dass eine Kundin, wenn man sie nur lange genug auf eine Handtasche warten lässt, sich sofort auf die Warteliste für die nächste setzen lassen wird. Und beide werden sich beim nächsten Mal glücklich schätzen, eine Uhr beziehungsweise eine Handtasche für 7.000 Euro kaufen zu »dürfen«.
Dass Luxusunternehmen so arbeiten, ist nichts Neues. Aber seit im Netz immer alles unbegrenzt verfügbar ist, arbeiten plötzlich auch die Hersteller von Massenware mit künstlicher Verknappung, um den Kick der begrenzten Verfügbarkeit zurückzuholen. Sie haben gelernt, dass es sich lohnt, von Zeit zu Zeit einfach mal nur zwei Kekse ins Glas zu legen. Deshalb bringen sie jetzt in regelmäßigen Abständen limitierte Editionen und Kapselkollektionen auf den Markt, die es nur in begrenzter Menge, für begrenzte Zeit und an bestimmten Orten gibt.
Und weil wir es inzwischen so gewöhnt sind, alles, was wir wollen, per Mausklick sofort bekommen zu können, reizt es uns natürlich bis aufs Blut, wenn es plötzlich mal nicht so ist. Adidas zum Beispiel brachte 2015 gemeinsam mit Kanye West sechs limitierte Yeezy-Sneaker-Modelle auf den Markt – sofort ausverkauft. 2018 waren es bereits zwölf, und 2019 waren es schon im ersten halben Jahr neunzehn Modelle – immer sofort ausverkauft. Dabei wird uns noch nicht einmal gesagt, auf welche Stückzahl die Serien begrenzt sind. Die bloße Tatsache, dass sie begrenzt sind, genügt, um uns ganz verrückt zu machen.
Vor dem »Drop« von limitierten Sneakern übernachten die Kids auf dem Bürgersteig vorm Laden – mit dem Geld, das sie von Oma bekommen haben, in der Tasche. Und wenn der Laden morgens aufmacht, werden sie unter den Ersten sein. Sie werden sich für 220 Euro Sneaker kaufen. Das steht für sie fest. Auch wenn sie anhand des Fotos, das vorab veröffentlicht wurde, noch nicht einmal genau wissen können, wie die Schuhe aussehen werden. Aber das macht nichts. Denn, falls sie ihnen nicht gefallen, haben die Jugendlichen die Gewissheit, dass sie die begehrten Jagdtrophäen jederzeit auf StockX oder eBay gewinnbringend an andere Sammler verkaufen können.
2019 wurde ein Paar Nike-Sneaker für 475.500 Dollar versteigert. Es war das einzige ungetragene von nur zwölf jemals produzierten Paaren dieses Modells.113 In einer Warenwelt, in der Seltenheit selten geworden ist, hat echte Seltenheit eben einen ganz besonderen, ja, Seltenheitswert.