GEISTERSTÄDTE

Es sind die Boutiquen, die Restaurants, die Kinos, die uns in die Innenstädte locken. Aber diese Boutiquen, Restaurants und Kinos haben jetzt Konkurrenz im Netz bekommen: Seit wir unsere Kleidung online bestellen, uns unser Abendessen liefern lassen und Filme streamen, haben wir immer weniger Grund, in die Innenstadt zu gehen. So kommen nach und nach immer weniger Leute in die Innenstädte. Und weil immer weniger Menschen kommen, können sich in den teuren Innenstadtlagen immer weniger Händler halten. Und die noch verbleibenden Läden können nur noch eine reduzierte Auswahl an Waren anbieten. Und diese kleinere Auswahl ist natürlich noch weniger attraktiv, sodass noch weniger Leute in die Innenstadt kommen. Die Abwärtsspirale aus sinkender Frequenz und schrumpfendem Angebot ist schon längst nicht mehr aufzuhalten.

Stadtzentren leben von einem auf engstem Raum verdichteten Angebot an Shopping, Gastronomie und Unterhaltung. Das innerstädtische Angebot ist jedoch bereits so löchrig und ausgefranst, dass es uns keinen Spaß mehr macht, zu Fuß die Läden abzuklappern, weil die Durststrecken zwischen den für uns interessanten Geschäften zu groß geworden sind. Insofern ist die Restfrequenz in den Innenstädten nicht nur quantitativ viel geringer als früher, sie ist auch qualitativ anders. Wir sind nicht nur seltener in den Innenstädten unterwegs, wir haben auch das Flanieren eingestellt. Wir bummeln nicht mehr durch die Geschäfte. Stattdessen fahren wir ganz gezielt die Geschäfte an, die uns interessieren, und steigen danach sofort wieder ins Auto und sind weg. So sind auch die Läden in den Eins-a-Innenstadt-Lagen zu »Destination Stores« geworden – also nicht Läden, in die man mal eben reingeht, weil man sowieso gerade daran vorbeiläuft, sondern Läden, zu denen man entweder gezielt hinfährt oder eben nicht.

Und wenn man ein Geschäft sowieso extra anfährt, dann braucht dieses Geschäft auch nicht mehr in der Innenstadt zu sein und schon gar nicht in einer Fußgängerzone. Früher kam es im Einzelhandel angeblich auf drei Dinge an: Lage, Lage und Lage. Das gilt jetzt allenfalls noch an touristischen Hotspots, an denen genügend Ortsfremde orientierungslos durch die Straßen taumeln. An allen anderen Orten hängt der Erfolg eines Geschäftes heute nicht mehr von seiner Lage ab, sondern davon, ob sein Angebot kompetent genug, attraktiv genug und einzigartig genug ist, um eine gezielte Anfahrt zu rechtfertigen.

Und ein solches Angebot ist häufig in Off-Lagen leichter zu machen. Denn dort ist die Quadratmetermiete günstiger und die Möglichkeit entsprechend größer, eine breite Auswahl zu lagern und großzügig zu präsentieren. Und den kostenlosen Kundenparkplatz vor der Tür gibt’s noch dazu. Ein Geschäft wie Andreas Murkudis in Berlin oder Rick Owens in Los Angeles muss genauso wenig in der Innenstadt sein wie ein Baumarkt. Die Innenstädte brauchen die Läden, aber die Läden brauchen die Innenstädte nicht mehr. So wird das ursprünglich dichte Angebot in den Stadtzentren nicht nur durch Geschäftsaufgaben, sondern auch durch die Abwanderung von Geschäften immer mehr ausgedünnt.

In England114 und Frankreich115 zum Beispiel steht jetzt schon mehr als jeder zehnte Laden leer. Auch in den deutschen Großstädten sind die kommerziellen Stadtzentren wie eingekocht. Das Leben, das früher auch in den Seitenstraßen der gesamten Innenstadt pulsierte, konzentriert sich jetzt auf die jeweils prominenteste Einkaufsmeile: den Ku’damm in Berlin, die Kö in Düsseldorf, die Mö in Hamburg … Und aus den kleineren und mittleren Orten ist diese Vitalität bereits komplett verschwunden. Dort sind die ehemals lebendigen Ortskerne zu deprimierenden Geisterstädten geworden, in denen der Wind Steppenhexen durch die leeren Straßen treibt. »Krapfen haben in der Mitte eine Füllung, Donuts haben in der Mitte ein Loch«, schreibt der Raumentwickler Roland Gruber. »Viele Dörfer, Kleinstädte und Mittelstädte sind zu Donuts geworden.«116

Dieser Niedergang der Innenstädte hat Nebenwirkungen. Denn die kommerziellen Zentren der Städte waren ja immer auch Treffpunkte. In der gesamten Geschichte der Menschheit waren die Märkte und Handelsplätze immer auch Begegnungsstätten. So haben die Menschen mit den lebendigen Innenstädten ihren wichtigsten »dritten Ort« verloren, das heißt, einen Ort, an dem sie sich – neben ihrem Zuhause (erster Ort) und ihrem Arbeitsplatz (zweiter Ort) – gerne aufhalten und an dem sie zusammenkommen. Sie vermissen diesen »dritten Ort«, der die Innenstadt früher war, und sie vermissen die Begegnungen, denen er Gelegenheit gab. Sie vermissen das Straßenleben. Sie vermissen das gemeinsame Konsumieren miteinander und nebeneinander in der Innenstadt als soziales Ereignis. Wenn wir, statt in die Stadt zu gehen, jetzt zu Hause auf unserem Sofa sitzen und uns Kleidung bestellen, uns Essen liefern lassen und Filme streamen, dann ist das zwar sehr bequem, aber eben auch sehr einsam. Und das wird irgendwann zum Problem. »Wenn Menschen sich nicht mehr begegnen«, so warnt die Journalistin Sophie Burfeind eindringlich, »schwindet der Zusammenhalt. Einheimische bleiben unter sich, Zugezogene fremd, Alte und Junge lernen sich nicht mehr kennen, über Politik spricht man daheim mit Freunden, die sowieso dieselbe Meinung haben. Das Verständnis für andere geht verloren, wenn man die Welt nur noch aus dem eigenen Blickwinkel betrachtet.«117

Menschen, die nur noch allein auf Bildschirme starren, bezahlen inzwischen schon Geld dafür, dasselbe gemeinsam mit anderen zu machen (Public Viewing). Das zeigt, wie sehr sie den dritten Ort vermissen und welche Chance darin liegt, ihn neu zu erfinden.