MENSCHLICHE INTUITION VS. ARTIFICIAL INTELLIGENCE

1979 brachte der Sony-Gründer Akio Morita den legendären Walkman auf den Markt, ohne vorher irgendwelche Marktforschung betrieben zu haben: »Wir glauben nicht an Marktforschung für ein neues Produkt, das das Publikum noch nicht kennt. Deshalb machen wir nie welche.«126 Morita hielt es nicht für sinnvoll, die Menschen vorab zu etwas zu befragen, was sie noch nicht kennen und sich auch nicht vorstellen können. Und es ist tatsächlich auch sehr unwahrscheinlich, dass eine Verbraucherbefragung den Impuls zu seiner visionären Erfindung (die sich schließlich 330 Millionen Mal verkaufte)127 gegeben hätte. Unter Umständen hätte sie sie sogar verhindert. Für echte Produktinnovationen empfahl Morita daher: »Beobachte aufmerksam, wie die Leute leben, entwickle ein intuitives Gespür für das, was sie sich wünschen könnten, und folge ihm. Mach keine Marktforschung.«128 Er war dagegen, Daten zu erheben, weil er wusste: Wer Daten hat, wird sich von ihnen leiten lassen und den Daten am Ende mehr vertrauen als seiner Intuition.

Aber das war 1979. Heute haben wir gar nicht mehr die Wahl, Daten zu erheben oder nicht. Denn wir haben die Daten bereits. Wir haben in den letzten vierzig Jahren ein System geschaffen, das selbsttätig Daten erhebt. Jeder Kiosk hat inzwischen in seiner Kasse eine Software, die ihm sämtliche Key Indicators zur Store Performance von Lollis und Leckmuscheln wahlweise als Balkendiagramm, Liniendiagramm oder Tortendiagramm darstellt. Kaum eine professionelle Software, die einfach nur einen Arbeitsablauf erleichtert, ohne dabei nicht auch massenhaft Daten zu generieren. Die meisten Unternehmen haben jetzt schon mehr Daten als Zeit, diese auszuwerten. Und es werden täglich mehr.

Und je mehr Daten wir haben, desto mehr vertrauen wir diesen Daten und desto weniger vertrauen wir uns selbst. Selbst die Entwicklung neuer Produkte, die immer als urmenschliche Fähigkeit galt, wurde schrittweise an Big Data übergeben. So ist die Warenwelt, die uns umgibt, inzwischen schon spürbar von Big Data geprägt. Die Dinge, die uns in Geschäften und Onlineshops angeboten werden, sind immer weniger von Menschen und immer stärker von Algorithmen gestaltet.

Unsere Kleidung zum Beispiel: Ursprünglich vertraute man das Entwerfen von Mode Menschen an, die gute Ideen für neue Kleidungsstücke hatten. Dass der Erfolg einer Marke von dem Bauchgefühl eines Einzelnen abhing, erschien den Managern großer Modeunternehmen aber irgendwann zu riskant. Also entzog man den Modeschöpfern das Vertrauen und ersetzte sie zur Sicherheit durch smarte Modedesigner. Diese versprachen den Unternehmen, die Bedürfnisse der Menschen zu kennen und durch passende Produkte zu befriedigen. Doch dann kam Big Data. Und im Vergleich zu den harten Zahlen, die nun zur Verfügung standen, schienen die subjektiven Einschätzungen der Designer doch eher aus der Luft gegriffen. Also wurden die Modedesigner entlassen und durch Produktmanager ersetzt. Diese Manager sollten neue Produkte auf der Grundlage von Verkaufszahlen entwickeln. Und tatsächlich haben sie die datenbasierte Produktentwicklung am Ende so weit perfektioniert, dass sie sich dadurch selbst abgeschafft haben. Den Job der Produktmanager machen jetzt Algorithmen.

Das musste so kommen. Die Unternehmen haben massenhaft Daten über unser Konsumverhalten gesammelt. Sie wollten alles über unsere Nachfrage wissen, um ihr Angebot perfekt darauf ausrichten zu können. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einem Algorithmus, der automatisch das passende Angebot zu unserer Nachfrage errechnet. Die Unternehmen glauben aus den Daten ablesen zu können, was wir wollen, und sie geben uns, was wir wollen. So einfach.

Der Haken dabei ist, dass wir selbst nicht wissen, was wir wollen, bis wir es sehen.129 Bis Sony den Walkman erfand, hatten die Menschen nicht gewusst, dass sie unterwegs Musik hören wollen. Wir hatten ja noch nicht einmal gewusst, dass wir uns unsere Telefone umhängen wollen, bis XouXou-Gründerin Yara Jentzsch Dib sich eine Kordel an ihre Handyhülle machte.130 Auf diese eigentlich simple Idee wäre ein Algorithmus in hundert Jahren nicht gekommen, denn Big Data zeigt immer nur das, was ist, aber nie das, was sein könnte. Deshalb kann ein Algorithmus zwar bestehende Produkte und Abläufe optimieren, er kann aber keine wirklich neuen Produkte entwickeln. Denn echte Innovation erfordert genialen Einfallsreichtum und exzentrische Kreativität. Und das sind zwei Fähigkeiten, die – Machine Learning hin oder her – dem Menschen vorbehalten bleiben. Es gibt zwar künstliche Intelligenz, aber keine künstliche Intuition. Nur Menschen können sich über die Vernunft hinwegsetzen, und es kommt sogar noch etwas Gutes dabei heraus. Ein Computer, der sich über die Vernunft hinwegsetzt, ist einfach nur kaputt.

Trotzdem vertraut man Computern immer öfter Aufgaben an, die eigentlich Intuition und Kreativität erfordern. Wie Morita es vorausgesehen hatte, haben all die Daten, die ursprünglich menschliche Kreativität lediglich absichern sollten, am Ende die menschliche Kreativität verdrängt. Ein solches System, das immer weniger von Menschen und immer stärker von Daten gelenkt wird, ist systematisch unkreativ. In der Konsequenz führt das dazu, dass immer weniger wirklich Neues auf den Markt kommt und dass Unternehmen uns nur noch Varianten von dem anbieten, was wir sowieso schon kaufen.

Auf diese Weise begrenzen die Unternehmen zwar ihr Risiko, aber sie begrenzen auch ihre Chancen. Denn, was uns am Sony-Walkman und an der XouXou-Handyhülle gefällt, ist nicht nur die Möglichkeit, unterwegs Musik zu hören oder sich sein Telefon umzuhängen. Mindestens genauso begeistert uns, dass Morita und Jentzsch Dib uns mit ihren unerwarteten Erfindungen und Designs überrascht haben. Ein Algorithmus hingegen wird uns nie überraschen können. Denn alles, was er weiß, weiß er ja von uns.