Bevor es Onlineshopping gab, hat man sich – besonders wenn man auf dem Dorf oder in einer Kleinstadt wohnte – oft über das begrenzte Angebot der lokalen Händler geärgert. 99 Prozent des globalen Angebots wurden einem vorenthalten. Irgendwer entschied irgendwo, welches eine Prozent in die Läden kam. Und was nicht dabei war, konnte man eben nicht kaufen. Es gab immer nur die gängigsten Produkte und die gängigsten Marken. Aber natürlich wünschte man sich, auch all die kleinen individuelleren Marken kaufen zu können, von denen man wusste, dass es sie gibt, irgendwo in einem kleinen Laden in einer kleinen Seitenstraße in der großen Stadt. Man träumte davon, all die besonderen Produkte, die man sich sonst nur von Reisen mitbrachte (oder mitbringen ließ), auch zu Hause kaufen zu können.
Und jetzt ist es so weit: Im World Wide Web können wir aus dem Vollen schöpfen. Alle Produkte der Welt sind nur noch ein paar Mausklicks entfernt. Alle Marken der Welt stehen bereit, um unsere Bestellung entgegenzunehmen und sie uns umgehend zuzusenden. Wir können sie alle haben.
Und da sitzen wir nun, zu Hause, allein vor unseren Devices und sind uns selbst überlassen. Es gibt keinen Verkäufer mehr, der uns euphorisch durch die frisch eingetroffene Ware führt. Wir sitzen vor unseren Bildschirmen wie vor einem weißen Blatt Papier und haben einen Blackout. All die kleinen Marken, die wir uns schon immer mal genauer ansehen wollten, sind wie ausgelöscht. Stattdessen fallen uns nur die immer gleichen Brands ein, egal wonach wir gerade suchen: Smartphone? Apple! Fernseher? Samsung! Luxusuhr? Rolex! Outdoorjacke? Jack Wolfskin! Jeans? Levi’s! Und so weiter.
Das ist normal. Man nennt das »Prototypensemantik«.131 Wir speichern in unserem Kopf für jede Gattung den für uns typischsten Vertreter dieser Gattung an erster Stelle. Deshalb kommt uns zum Beispiel als Farbe immer als Erstes Rot und als Instrument immer als Erstes eine Geige in den Sinn, als Werkzeug ein Hammer, als Möbel ein Stuhl und so weiter.132 Uns fallen selbst dann zuerst Rot und Geige ein, wenn unsere Lieblingsfarbe eigentlich Senfgelb und unser Lieblingsinstrument eigentlich die Triangel ist. Genauso ist es bei Brands: Obwohl unsere Lieblingsmarken vielleicht ganz andere sind, fallen uns – egal in welcher Kategorie – immer erst mal nur die gängigsten Marken ein. Wenn wir an Sneaker denken, denken wir zuerst an Nike und Adidas. Wir denken selbst dann zuerst an Nike und Adidas, wenn wir zum Beispiel Sneaker von Veja eigentlich viel besser finden. So haben die Marktführer auch in unseren Köpfen schon die Führung übernommen. Auch wenn sie in unserer Wertschätzung gar nicht ganz oben stehen, so sind sie bei uns trotzdem immer »top of mind«. In der Suchmaschine in unserem Kopf kommen die Marktführer immer an erster Stelle.
Und sie tun es natürlich erst recht in den Suchmaschinen im Netz. Denn das Netz ist käuflich. Und nur die Marktführer können es sich leisten. Egal ob man bei Google, bei Yahoo! oder bei Bing nach Sportschuhen sucht, die Antwort ist immer: Nike und Adidas. Selbst wenn man gezielt und ausdrücklich nach Sneakern von einer anderen Marke sucht, werden immer gleich ein paar Modelle von Adidas und Nike mitangeboten. Sneaker von Nike und Adidas empfiehlt mir der Onlineshop, in dem ich regelmäßig einkaufe. »Diese Produkte könnten dir auch gefallen«, schreibt er dazu, obwohl ich vollkommen sicher bin, durch nichts Anlass zu dieser Annahme gegeben zu haben. Nike und Adidas, wohin man sich im Netz wendet: Gesponserte Beiträge von Nike und Adidas in der Facebook-Timeline. Durch Product-Placement von Nike und Adidas finanzierte Musikvideos auf YouTube. Influencer, die die stets funkelnagelneuen Sneaker, die Adidas und Nike ihnen kostenlos zuschicken, umgehend mit Hashtags wie happygirl, surprise oder new in auf Instagram posten …
Das Internet ist wie ein Laden, der zwar eigentlich alle Marken führt, aber immer nur dieselben ein, zwei Marken zeigt. Alle anderen werden nur widerwillig auf hartnäckiges Nachfragen hervorgeholt. Wenn man ganz gezielt und unbeirrt danach sucht, kann man in den unendlichen Weiten des Internets selbst die abwegigsten Dinge finden. Theoretisch wäre also im Netz ein extrem individueller und vielfältiger Konsum möglich. In der Praxis lenken uns die Suchmaschine in unserem Kopf und die Suchmaschinen im Netz aber immer auf die jeweiligen Marktführer – egal ob wir Sneaker, ein Fernsehgerät oder einen Reiseanbieter suchen.
Vor zwanzig Jahren, als das Wild Wild Web noch nicht verkauft war, sah es für kurze Zeit so aus, als ob sich auf Plattformen wie Amazon ein individuellerer und vielfältigerer Konsum entfalten würde als je zuvor.133 Stattdessen ist aber das exakte Gegenteil eingetreten: Die Verlagerung unseres Konsums ins Netz hat zu einer immer stärkeren Gleichschaltung unseres Konsums geführt.134
Die ohnehin voranschreitende Monopolisierung beziehungsweise Oligopolisierung unserer Welt wird durch das Onlineshopping noch einmal radikal beschleunigt. Die ökonomischen Selektionsprozesse, die offline begonnen hatten, sind im Netz noch erbarmungsloser. Und am Ende konzentriert sich die gesamte Marktmacht auf wenige große Unternehmen. Wie an so vielen anderen Stellen sind auch hier die wirtschaftlichen Entwicklungen, die durch die Globalisierung entfesselt wurden, durch die Digitalisierung vollends außer Kontrolle geraten.